Cinema Moralia – Folge 257
Das Kino ist eine Maschine, die dem Empathiedefizit unserer Gegenwart entgegenwirkt |
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Das Rex als Kino und Diskussionsort | ||
(Foto: Kino Rex, Bern) |
»Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?«
Max Frisch, »Fragebogen«»Ich finde wir sollten uns alle kennenlernen, miteinander reden, uns lieben und unterstützen lernen. Urleicht gesagt. Urschwer den ersten Schritt zu tun. Aber ich versuch’s. Es wird alles immer schlimmer werden, müssen wir uns alle pflegen und streicheln. Gegenseitig. An unsere Generation gerichtet. Schmerz vorbeugen. Umarmen. Es wird uns eh treffen. Klimawandel, Fluchtwellen, Dürren, aber dann sind wir wenigstens zusammen. Ich habe zu viel Bier getrunken und zu viele Dokus auf arte über Klimawandel geschaut.«
Kurdwin Ayub, Regisseurin aus Österreich
Der Kinowinter hat begonnen, die gegenseitige Kannibalisierung der Filme, die wir schon im Sommer zur Wiedereröffnung der Kinos nach dem Lockdown beschrieben hatten, geht weiter.
21 Filme starten diese Woche – da muss das Publikum mit sich selbst »Cannes Festival« spielen, und drei Filme pro Tag gucken, um überhaupt durchzukommen. Darunter Blockbuster wie der neueste Marvel-Blödsinn, aber auch auch desaströse (Die Geschichte meiner Frau) oder leider missglückte Filmkunst wie Bergman Island von Mia Hansen-Love, der unter diesen Umständen gar keine Chance hat.
18 Filme nächste Woche; 19 übernächste, danach wieder 21 Filme – eine Katastrophe, ökonomisch wie ästhetisch.
Bezeichnend, dass darauf in Deutschland kaum jemand ernsthaft einging, und ich nach Bern fahren musste, um auf den obigen Text angesprochen zu werden: Wie gut das sei, dass es mal jemand hingeschrieben hätte, »wie es ist«.
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Ein Blick in die Schweiz: Am vergangenen Wochenende war ich in Bern, um beim dortigen Kino Rex – gewissermaßen als neutraler Deutscher – eine Diskussionsrunde zwischen Schweizern zum Thema »Die Zukunft des Kinos« zu moderieren.
Viel gestritten haben die Schweizer natürlich trotzdem nicht, aber es war für Michael in vieler Hinsicht lehrreich und auch beglückende Erfahrung. Allein schon die Zivilisiertheit, mit der in der Schweiz Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden. Ohne dass deshalb um Meinungsunterschiede herum geredet wird. Aber man spricht dem anderen nichts ab und keine Charakterfehler zu.
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Die Situation in der Schweiz ist in mancher Hinsicht ganz anders, in mancher aber auch sehr ähnlich wie bei uns. Auch dort spricht man von einer »Filmschwemme« oder einer »Filmflut«, vor allem in Bezug auf die eigene nationale Produktion. Das ist hier wie dort ein ideologischer und tendenziöser Begriff. Fluten sind bedrohlich, gegen sie muss man Dämme bauen. Tatsächlich kann es eigentlich umgekehrt gar nicht genug gute Filme geben.
500 Filme starten im Jahr in der Schweiz, in
Deutschland sind es etwas mehr als 600. Von den 500 sind aber ungefähr achtzig nationale Filme, also ein knappes Fünftel. In Deutschland sind es etwa 150, also ein knappes Viertel.
Allerdings beläuft sich der Marktanteil der Schweizer Filme nur auf zwischen 4 und 7 Prozent. »Wir wären total glücklich, wenn wir den Marktanteil hätten, den ihr Deutschen mit euren deutschen Filmen habt«, sagte mir ein Schweizer Kinobetreiber im Gespräch. Aus Schweizer Sicht ist also in Deutschland die
Filmflut kein Problem.
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In welcher Hinsicht Deutschland in jedem Fall große Vorteile hat gegenüber der Schweiz, ist die Mediensituation. Alle Schweizer, die ich traf, klagten über die Medienlandschaft: Wenig Verlage, keine Unabhängigkeit, eine zumeist einseitige, politisch rechtslastige, zudem kommerzielle und boulevardeske Ausrichtung. Selbst die Filmkritik der NZZ sei auf den Hund gekommen, ein paar andere gäben sich Mühe, aber mehr nicht – so weit ich das überblicke, kann ich nicht widersprechen.
Das Filmbulletin lese ich online gern, aber es ist nicht nur visuell hochkompliziert, sondern grotesk benutzerfeindlich; man erkennt, dass sich da Webdesigner ausgetobt haben auf Kosten der Texte, auf Kosten der Lesbarkeit und der Seitennavigation.
»Es müsste ein Schweizer artechock geben« – dieser Satz fiel tatsächlich mehrfach am Wochenende. Zur geraden laufenden Wong Kar-wai-Schau (zu der ich einen Einleitungstext geschrieben hatte) hat man drei artechock-Kritiken zitiert. Aus der Schweiz keine einzige.
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Thomas Allenbach vom Rex hat vor der Diskussion eine Einleitung gesprochen. Darin verweist er auf das »Nischenkonzept« des öffentlich teilfinanzierten Rex mit der Kombination von kuratierten Reihen im Programmkino und Premieren prononciert künstlerischer, neuer Filme. Vor Corona hatte man jährlich 49.000 Eintritte. Allenbach sagte: »Wir glauben an das Kino als Ort der Begegnung, des Austauschs und vor allem: als Ort einer spezifischen Seherfahrung. Es geht dabei weniger um technische Fragen wie Leinwandgrösse, Bild- und Tonqualität (die natürlich von eminenter Wichtigkeit sind), sondern vor allem darum, dass Kino im öffentlichen Raum – der sich allerdings seinerseits gewandelt hat – stattfindet, was ein grundsätzlicher Unterschied zum Filmeschauen im privaten Rahmen ist – Stichworte: Kollektives Erleben, soziale Stimulation und Kontrolle, Abgabe der Verfügungsgewalt über die Vorstellung, Hingabe an den Film. Im Kino sind deshalb filmische Erzählweisen und Darstellungsformen möglich, die über andere Kanäle nicht funktionieren – und denen wir uns manchmal nur dank sanftem Druck unterwerfen oder aussetzen. Bleibt nur zu hoffen, dass trotz Strukturwandel und neuer Sehgewohnheiten auch in Zukunft noch Filme fürs Kino produziert werden. Wir glauben zudem ans Kino als Ort, der Orientierung gibt im weiten Feld der audiovisuellen Angebote – und der diese Kompetenz auch im Bereich des Streamings und im virtuellen Raum ausspielen kann. Dafür aber – und um ein junges Publikum mit der Kulturtechnik Kino vertraut zu machen – müssen sich die Kinos weiterentwickeln und auch neue Formen der Vermittlung ins Programm einbinden.«
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Vorab hatte man mich auch gebeten, selber ein paar Thesen zum Thema zu formulieren. Hier sind sie, in der unabgeschlossenen Form, die sie nun mal haben, denn schon jetzt könnte und würde ich einiges anders formulieren – aber weil ich es heute nicht schaffe, mehr zur Veranstaltungen zum Thema zu schreiben, ist das vielleicht eine gute Anregung, um selber nachzudenken.
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Kinokrise gab es schon vor Corona
Corona wirkt als ihr Verstärker und Beschleuniger. Corona macht damit nichts schlechter, aber es deckt im Kino wie in der Gesellschaft die Verhältnisse auf.
Ein zukunftsgewandtes Kino, das der Bedeutung der Filmkultur als einer herausragenden Kunstform des 21. Jahrhunderts einen konkreten Raum gibt, braucht neue Konzepte und ein neues Selbstverständnis
Es gibt in der Kinolandschaft zuviel »Dienst nach Vorschrift« und Handeln im alten Trott, zu wenig Innovationslust und neue kuratorische Konzepte. Kino ist in Gefahr, selbstgefällig und beliebig zu werden, es hat aber gerade in der Krise die Chance, zum Ort der
Herausforderung und der Irritation zu werden.
Ich stelle mir das Kino als einen Ort vor, an dem man Sicherheiten abstreifen kann und muss und ins Risiko eintauchen darf.
Kino hat eine Zukunft. Aber diese Zukunft ist unsicher und unentschieden zwischen mehreren Möglichkeiten.
Kino kann sich in Richtung anderer Künste weiterentwickeln und eine zweite Oper werden, oder eine Kunstgalerie oder ein repräsentativer Ort und Distinktionsfläche für die höheren Stände jener kommenden Bildungsklassengesellschaft.
Kino kann sich wieder zu seinen Ursprüngen zurückentwickeln und wieder zum Jahrmarkt werden, zu einem Ort des Spektakels
und der Sensationen, der auch billigen, auch grellen Reize für das Massenpublikum werden und für jene Filme, die mit der größeren Leinwand größer werden
Kino kann auch zur reinen Abspielfläche unter anderen mutieren.
Kino kann ein kuratierter Spielplatz für kommende Avantgarden, die Happy Few und bestimmte kleine Teilsegmente der Gesellschaft werden.
Kino kann alle diese Elemente verbinden, ohne beliebig zu werden. Und nur in dieser Verbindung liegt vermutlich die Zukunft
des Kinos.
Das Kino der Zukunft wird anders sein. Das Kino der Zukunft wird ein Beben sein. Oder es wird nicht sein.
Das Kino ist eine Maschine, die dem krassen Empathiedefizit unserer Gegenwart entgegenwirkt.
Empathie ist ein zentrales Stichwort für das Kino der Zukunft.
Empathie ist das Gegenteil aller Gefühligkeit, all jener in sich selbst ruhenden Gemütlichkeit der Filterblasen und Milieus. Empathie kann leicht zum Selbstbetrug werden; aber wo sie das wird, ist es nicht wirklich Empathie.
Das Kino ist eine Empathiemaschine. Denn es bringt uns immer wieder in Situationen,
in denen wir ungeahnte, unmögliche Empathien entwickeln.
Mit unbekannten Nachbarn, mit Welten die uns vorher nicht interessierten; mit Menschen und ihren Schicksalen, die uns »eigentlich« gleichgültig sind.
Das Kino im 21. Jahrhundert ist ein Ort der Vielfalt, nicht der Beliebigkeit.
Das Kino der Zukunft wird alle gegenwärtigen Ausprägungen des Films kuratieren, sie durch Konzerte, Ausstellungen und vielfältige andere Veranstaltungsformate ergänzen.
Das Kino des 21.Jahrhunderts wird als Forschungslabor die Zukunft der Bilder erkunden. Das Haus der Filmkulturen versteht sich dabei als Ort der Begegnung, des Austauschs und des Lernens.
Das Kino im 21.Jahrhundert ist nicht mehr nur ein Ort für Kinofilme.
Es ist ein Ort für Filme, also bewegte Bilder jeder Art. Dies kann sehr wohl auch die Übertragung eines Fußballspiels oder einer Opernaufführung sein.
Film ist längst zu einem Kultur- und Wissensträger und zu einer Lebensform geworden und hat sich durch Videospiele, Videokunst, YouTube, Home-Videos etc. zu einer Vielzahl multiperspektivischer Filmkulturen ausdifferenziert. Mit der
fortschreitenden Digitalisierung wandern Bewegtbilder immer häufiger in den übrigen Raum, heben die Grenzen zwischen Filmwelt und Publikum auf und versetzen dieses direkt und unmittelbar an andere Orte.
Das Kino der Zukunft muss dem gerecht werden.
Das Publikum ist schuld. Und nur das Publikum wird es ändern.
Wir brauchen nichts weniger, als eine Revolution von unser aller Kino-Verständnis und unseres Verhältnisses zum Kino. Dabei geht es nicht ohne Filmbildung. Sie muss ausgebaut werden, und zwar auch über den schulischen Bereich hinaus.
Wie in anderen Bereichen unseres Lebens wird nichts gehen ohne Selbstermächtigung des Publikums. Das Publikum ist gefordert, selbst aktiv und aktivistisch zu werden und für
das Kino zu kämpfen, das es wünscht, das es sich vorstellen kann.
Wir haben Fridays for Future. Wann haben wie Mondays for Culture?
Jede Gesellschaft hat das Kino, das es verdient.
Das Kino zur Zeit spiegelt in all seiner Trägheit, seiner Ideenlosigkeit, seiner Innovationsscheu und Risikoangst die Gesellschaft, in der es stattfindet.
Wenn die Gesellschaft eine andere ist, wird das Kino ein anderes sein.
Geht es auch umgekehrt?
(to be continued)