04.11.2021
Cinema Moralia – Folge 257

Das Kino ist eine Maschine, die dem Empa­thie­de­fizit unserer Gegenwart entge­gen­wirkt

Das Berner Rex-Kino
Das Rex als Kino und Diskussionsort
(Foto: Kino Rex, Bern)

Von Rüdiger Suchsland

Wir haben »Fridays for Future«. Wann haben wir »Mondays for Culture«? Ein Besuch in der Schweiz und 8 Thesen zum Kino – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kino­ge­hers, 257. Folge

»Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschen­ge­schlechts, wenn Sie und alle ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich inter­es­siert?«
Max Frisch, »Frage­bogen«

»Ich finde wir sollten uns alle kennen­lernen, mitein­ander reden, uns lieben und unter­s­tützen lernen. Urleicht gesagt. Urschwer den ersten Schritt zu tun. Aber ich versuch’s. Es wird alles immer schlimmer werden, müssen wir uns alle pflegen und strei­cheln. Gegen­seitig. An unsere Gene­ra­tion gerichtet. Schmerz vorbeugen. Umarmen. Es wird uns eh treffen. Klima­wandel, Flucht­wellen, Dürren, aber dann sind wir wenigs­tens zusammen. Ich habe zu viel Bier getrunken und zu viele Dokus auf arte über Klima­wandel geschaut.«
Kurdwin Ayub, Regis­seurin aus Öster­reich

Der Kino­winter hat begonnen, die gegen­sei­tige Kanni­ba­li­sie­rung der Filme, die wir schon im Sommer zur Wiede­r­eröff­nung der Kinos nach dem Lockdown beschrieben hatten, geht weiter.

21 Filme starten diese Woche – da muss das Publikum mit sich selbst »Cannes Festival« spielen, und drei Filme pro Tag gucken, um überhaupt durch­zu­kommen. Darunter Block­buster wie der neueste Marvel-Blödsinn, aber auch auch desas­tröse (Die Geschichte meiner Frau) oder leider miss­glückte Filmkunst wie Bergman Island von Mia Hansen-Love, der unter diesen Umständen gar keine Chance hat.
18 Filme nächste Woche; 19 übernächste, danach wieder 21 Filme – eine Kata­strophe, ökono­misch wie ästhe­tisch.

Bezeich­nend, dass darauf in Deutsch­land kaum jemand ernsthaft einging, und ich nach Bern fahren musste, um auf den obigen Text ange­spro­chen zu werden: Wie gut das sei, dass es mal jemand hinge­schrieben hätte, »wie es ist«.

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Ein Blick in die Schweiz: Am vergan­genen Wochen­ende war ich in Bern, um beim dortigen Kino Rex – gewis­ser­maßen als neutraler Deutscher – eine Diskus­si­ons­runde zwischen Schwei­zern zum Thema »Die Zukunft des Kinos« zu mode­rieren.

Viel gestritten haben die Schweizer natürlich trotzdem nicht, aber es war für Michael in vieler Hinsicht lehrreich und auch beglü­ckende Erfahrung. Allein schon die Zivi­li­siert­heit, mit der in der Schweiz Meinungs­ver­schie­den­heiten ausge­tragen werden. Ohne dass deshalb um Meinungs­un­ter­schiede herum geredet wird. Aber man spricht dem anderen nichts ab und keine Charak­ter­fehler zu.

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Die Situation in der Schweiz ist in mancher Hinsicht ganz anders, in mancher aber auch sehr ähnlich wie bei uns. Auch dort spricht man von einer »Film­schwemme« oder einer »Filmflut«, vor allem in Bezug auf die eigene nationale Produk­tion. Das ist hier wie dort ein ideo­lo­gi­scher und tenden­ziöser Begriff. Fluten sind bedroh­lich, gegen sie muss man Dämme bauen. Tatsäch­lich kann es eigent­lich umgekehrt gar nicht genug gute Filme geben.
500 Filme starten im Jahr in der Schweiz, in Deutsch­land sind es etwas mehr als 600. Von den 500 sind aber ungefähr achtzig nationale Filme, also ein knappes Fünftel. In Deutsch­land sind es etwa 150, also ein knappes Viertel.
Aller­dings beläuft sich der Markt­an­teil der Schweizer Filme nur auf zwischen 4 und 7 Prozent. »Wir wären total glücklich, wenn wir den Markt­an­teil hätten, den ihr Deutschen mit euren deutschen Filmen habt«, sagte mir ein Schweizer Kino­be­treiber im Gespräch. Aus Schweizer Sicht ist also in Deutsch­land die Filmflut kein Problem.

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In welcher Hinsicht Deutsch­land in jedem Fall große Vorteile hat gegenüber der Schweiz, ist die Medi­en­si­tua­tion. Alle Schweizer, die ich traf, klagten über die Medi­en­land­schaft: Wenig Verlage, keine Unab­hän­gig­keit, eine zumeist einsei­tige, politisch rechts­las­tige, zudem kommer­zi­elle und boule­var­deske Ausrich­tung. Selbst die Film­kritik der NZZ sei auf den Hund gekommen, ein paar andere gäben sich Mühe, aber mehr nicht – so weit ich das über­blicke, kann ich nicht wider­spre­chen.

Das Film­bul­letin lese ich online gern, aber es ist nicht nur visuell hoch­kom­pli­ziert, sondern grotesk benut­zer­feind­lich; man erkennt, dass sich da Webde­si­gner ausgetobt haben auf Kosten der Texte, auf Kosten der Lesbar­keit und der Seiten­na­vi­ga­tion.

»Es müsste ein Schweizer artechock geben« – dieser Satz fiel tatsäch­lich mehrfach am Wochen­ende. Zur geraden laufenden Wong Kar-wai-Schau (zu der ich einen Einlei­tungs­text geschrieben hatte) hat man drei artechock-Kritiken zitiert. Aus der Schweiz keine einzige.

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Thomas Allenbach vom Rex hat vor der Diskus­sion eine Einlei­tung gespro­chen. Darin verweist er auf das »Nischen­kon­zept« des öffent­lich teil­fi­nan­zierten Rex mit der Kombi­na­tion von kura­tierten Reihen im Programm­kino und Premieren pronon­ciert künst­le­ri­scher, neuer Filme. Vor Corona hatte man jährlich 49.000 Eintritte. Allenbach sagte: »Wir glauben an das Kino als Ort der Begegnung, des Austauschs und vor allem: als Ort einer spezi­fi­schen Seherfah­rung. Es geht dabei weniger um tech­ni­sche Fragen wie Lein­wand­grösse, Bild- und Tonqua­lität (die natürlich von eminenter Wich­tig­keit sind), sondern vor allem darum, dass Kino im öffent­li­chen Raum – der sich aller­dings seiner­seits gewandelt hat – statt­findet, was ein grund­sätz­li­cher Unter­schied zum Filme­schauen im privaten Rahmen ist – Stich­worte: Kollek­tives Erleben, soziale Stimu­la­tion und Kontrolle, Abgabe der Verfü­gungs­ge­walt über die Vorstel­lung, Hingabe an den Film. Im Kino sind deshalb filmische Erzähl­weisen und Darstel­lungs­formen möglich, die über andere Kanäle nicht funk­tio­nieren – und denen wir uns manchmal nur dank sanftem Druck unter­werfen oder aussetzen. Bleibt nur zu hoffen, dass trotz Struk­tur­wandel und neuer Sehge­wohn­heiten auch in Zukunft noch Filme fürs Kino produ­ziert werden. Wir glauben zudem ans Kino als Ort, der Orien­tie­rung gibt im weiten Feld der audio­vi­su­ellen Angebote – und der diese Kompetenz auch im Bereich des Strea­mings und im virtu­ellen Raum ausspielen kann. Dafür aber – und um ein junges Publikum mit der Kultur­technik Kino vertraut zu machen – müssen sich die Kinos weiter­ent­wi­ckeln und auch neue Formen der Vermitt­lung ins Programm einbinden.«

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Vorab hatte man mich auch gebeten, selber ein paar Thesen zum Thema zu formu­lieren. Hier sind sie, in der unab­ge­schlos­senen Form, die sie nun mal haben, denn schon jetzt könnte und würde ich einiges anders formu­lieren – aber weil ich es heute nicht schaffe, mehr zur Veran­stal­tungen zum Thema zu schreiben, ist das viel­leicht eine gute Anregung, um selber nach­zu­denken.

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Kinokrise gab es schon vor Corona
Corona wirkt als ihr Vers­tärker und Beschleu­niger. Corona macht damit nichts schlechter, aber es deckt im Kino wie in der Gesell­schaft die Verhält­nisse auf.

Ein zukunfts­ge­wandtes Kino, das der Bedeutung der Film­kultur als einer heraus­ra­genden Kunstform des 21. Jahr­hun­derts einen konkreten Raum gibt, braucht neue Konzepte und ein neues Selbst­ver­s­tändnis
Es gibt in der Kino­land­schaft zuviel »Dienst nach Vorschrift« und Handeln im alten Trott, zu wenig Inno­va­ti­ons­lust und neue kura­to­ri­sche Konzepte. Kino ist in Gefahr, selbst­ge­fällig und beliebig zu werden, es hat aber gerade in der Krise die Chance, zum Ort der Heraus­for­de­rung und der Irri­ta­tion zu werden.
Ich stelle mir das Kino als einen Ort vor, an dem man Sicher­heiten abstreifen kann und muss und ins Risiko eintau­chen darf.

Kino hat eine Zukunft. Aber diese Zukunft ist unsicher und unent­schieden zwischen mehreren Möglich­keiten.
Kino kann sich in Richtung anderer Künste weiter­ent­wi­ckeln und eine zweite Oper werden, oder eine Kunst­ga­lerie oder ein reprä­sen­ta­tiver Ort und Distink­ti­ons­fläche für die höheren Stände jener kommenden Bildungs­klas­sen­ge­sell­schaft.
Kino kann sich wieder zu seinen Ursprüngen zurück­ent­wi­ckeln und wieder zum Jahrmarkt werden, zu einem Ort des Spek­ta­kels und der Sensa­tionen, der auch billigen, auch grellen Reize für das Massen­pu­blikum werden und für jene Filme, die mit der größeren Leinwand größer werden
Kino kann auch zur reinen Abspiel­fläche unter anderen mutieren.
Kino kann ein kura­tierter Spiel­platz für kommende Avant­garden, die Happy Few und bestimmte kleine Teil­seg­mente der Gesell­schaft werden.
Kino kann alle diese Elemente verbinden, ohne beliebig zu werden. Und nur in dieser Verbin­dung liegt vermut­lich die Zukunft des Kinos.
Das Kino der Zukunft wird anders sein. Das Kino der Zukunft wird ein Beben sein. Oder es wird nicht sein.

Das Kino ist eine Maschine, die dem krassen Empa­thie­de­fizit unserer Gegenwart entge­gen­wirkt.
Empathie ist ein zentrales Stichwort für das Kino der Zukunft.
Empathie ist das Gegenteil aller Gefüh­lig­keit, all jener in sich selbst ruhenden Gemüt­lich­keit der Filter­blasen und Milieus. Empathie kann leicht zum Selbst­be­trug werden; aber wo sie das wird, ist es nicht wirklich Empathie.
Das Kino ist eine Empa­thie­ma­schine. Denn es bringt uns immer wieder in Situa­tionen, in denen wir ungeahnte, unmög­liche Empathien entwi­ckeln.
Mit unbe­kannten Nachbarn, mit Welten die uns vorher nicht inter­es­sierten; mit Menschen und ihren Schick­salen, die uns »eigent­lich« gleich­gültig sind.

Das Kino im 21. Jahr­hun­dert ist ein Ort der Vielfalt, nicht der Belie­big­keit.
Das Kino der Zukunft wird alle gegen­wär­tigen Ausprä­gungen des Films kura­tieren, sie durch Konzerte, Ausstel­lungen und viel­fäl­tige andere Veran­stal­tungs­for­mate ergänzen.
Das Kino des 21.Jahr­hun­derts wird als Forschungs­labor die Zukunft der Bilder erkunden. Das Haus der Film­kul­turen versteht sich dabei als Ort der Begegnung, des Austauschs und des Lernens.

Das Kino im 21.Jahr­hun­dert ist nicht mehr nur ein Ort für Kinofilme.
Es ist ein Ort für Filme, also bewegte Bilder jeder Art. Dies kann sehr wohl auch die Über­tra­gung eines Fußball­spiels oder einer Opern­auf­füh­rung sein.
Film ist längst zu einem Kultur- und Wissen­sträger und zu einer Lebens­form geworden und hat sich durch Video­spiele, Video­kunst, YouTube, Home-Videos etc. zu einer Vielzahl multi­per­spek­ti­vi­scher Film­kul­turen ausdif­fe­ren­ziert. Mit der fort­schrei­tenden Digi­ta­li­sie­rung wandern Bewegt­bilder immer häufiger in den übrigen Raum, heben die Grenzen zwischen Filmwelt und Publikum auf und versetzen dieses direkt und unmit­telbar an andere Orte.
Das Kino der Zukunft muss dem gerecht werden.

Das Publikum ist schuld. Und nur das Publikum wird es ändern.
Wir brauchen nichts weniger, als eine Revo­lu­tion von unser aller Kino-Vers­tändnis und unseres Verhält­nisses zum Kino. Dabei geht es nicht ohne Film­bil­dung. Sie muss ausgebaut werden, und zwar auch über den schu­li­schen Bereich hinaus.
Wie in anderen Bereichen unseres Lebens wird nichts gehen ohne Selbst­er­mäch­ti­gung des Publikums. Das Publikum ist gefordert, selbst aktiv und akti­vis­tisch zu werden und für das Kino zu kämpfen, das es wünscht, das es sich vorstellen kann.
Wir haben Fridays for Future. Wann haben wie Mondays for Culture?

Jede Gesell­schaft hat das Kino, das es verdient.
Das Kino zur Zeit spiegelt in all seiner Trägheit, seiner Ideen­lo­sig­keit, seiner Inno­va­ti­ons­scheu und Risi­ko­angst die Gesell­schaft, in der es statt­findet.
Wenn die Gesell­schaft eine andere ist, wird das Kino ein anderes sein.
Geht es auch umgekehrt?

(to be continued)