23.12.2021
Cinema Moralia – Folge 262

Meta meta meta

Matrix
Gefangen in der Matrix, dem Durch-und-durch-Metaverse
(Foto: Warner Bros. Entertainment)

Rasender Stillstand: Killt Hollywood seine eigenen Stoffe? Gehen den Studios die Plot-Ideen aus? – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 262. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Zwei Beob­ach­tungen in diesen Tagen. Vorige Woche, vor Beginn der Pres­se­vor­füh­rung von Spider-Man: No Way Home: »Bitte nicht spoilern!!«, kam zur Begrüßung, statt des »Guten Morgen!« Kurz dachte ich: Wie? Gibt es da etwa was echt Über­ra­schendes? Am Ende hat der kleine Spin­nen­mann dann wieder nur die Welt und vor allem sich selbst gerettet.
Aber trotzdem: Was soll man tun? Man kann auch diesen Film nicht annähernd bespre­chen, wenn man nicht erzählt, worum es geht.

Die Geschichte der Erfindung des »Spoilerns« und der Angst vor ihr, die jünger sind als die Millen­nials und die es nur bei Filmen gibt, ist ein eigenes »Cinema Moralia« wert und muss ein andermal erzählt werden.

Die zweite Beob­ach­tung aber war jene zu Beginn des neuen Matrix-Films: Bereits in den ersten Minuten heißt es da: »Unsere geliebten Chefs wollen eine Fort­set­zung der Trilogie. Sie werden es mit oder ohne dich tun.« – Dies gilt dem Helden Thomas Anderson/Neo (Keanu Reeves), der gealtert, mit Burnout und thera­pie­be­dürftig sich seiner eigenen geistigen Gesund­heit nicht mehr sicher ist – und wer die drei Vorgän­ger­filme kennt, ahnt, warum. Vor allem ist dieser Neo ein Software-Entwickler, der eine erfolg­reiche Compu­ter­spiel-Trilogie kreiert hat. Und diese Trilogie heißt – genau: »Matrix«.

Sie ist es, die die Chefs mit oder ohne ihn in den Handel bringen werden – so kommen­tieren in der ersten von sehr vielen Meta­ebenen, die dieser Film noch öffnen wird, die Dialoge ironisch bis sarkas­tisch auch die »Seque­litis« in Hollywood und die Entste­hungs­ge­schichte des Films, in dem die Szene läuft. Auch so kann Selbst­ver­tei­di­gung aussehen.

Zugleich ist das eine Bank­rott­erklärung: Denn Neo ist im neuen Film ein geniales Wrack, das sich – Vorsicht Spoiler! – die bishe­rigen drei Matrix-Filme allesamt nur einge­bildet hat. Was für ein Unsinn, mit dem Hollywood auch noch mal eben eine extrem erfolg­reiche Franchise aus den Angeln hebt und negiert. Es nimmt seine bishe­rigen Schöp­fungen nicht mehr ernst.

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Man will in Hollywood von uns, dem Publikum, also, dass wir uns einer­seits ganz naiv stellen, alles, noch die absur­deste Wendung passiv hinnehmen und so tun, als könnten wir irgend­einen dieser Marvel- und Matrix-Filme, diese vierten oder achten Aufgüsse eines viel­leicht beim ersten oder zweiten Mal gelun­genen Films noch so unschuldig ansehen wie zu Beginn. Als würden wir ernsthaft fürchten, Spider-Man oder Neo könnte was zustoßen, was nicht wieder nur von der Hollywood-Matrix, im nächsten Film auf der nächsten Ebene, einer russi­schen Matroschka-Puppe gleich, wieder aufge­fangen und nihiliert würde. Als wären die Hand­lungs­schritte nicht auch innerhalb dieser Film­hand­lungen längst völlig folgenlos und darum unin­ter­es­sant.

Wir sollen also nichts wissen. Und zugleich sollen wir alles mitdenken, verstehen, uns in die Rolle der Macher versetzen und mit ihnen paktieren in einem Schwei­ge­gelübde, um zu... ja, warum eigent­lich? Um Spider-Man zu helfen? Um die Gewinne von Sony und Marvel in noch astro­no­mi­schere Höhen zu befördern?

Inter­es­siert mich beides nicht die Bohne. Was dem Publikum nutzt, unserem Publikum, den Lesern, darüber kann man debat­tieren. Aber die Gewinne der Konzerne sind wurscht.

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Hollywood verlernt das Erzählen. Darum dreht sich alles nicht mehr um Hand­lungen und Geschichten, sondern um Figu­ren­be­find­lich­keiten, um den Narzissmus künst­li­cher Gestalten, die niemanden außer ein paar Nerdy-Fans unter irgend­einem Stein ernsthaft inter­es­sieren. Und es dreht sich um das Erzählen des Erzählens.
Es steckt darin eine große Ratlo­sig­keit des Hollywood-Erzählens, die aller­dings nicht unin­ter­es­sant ist.

Man kann fragen, ob wir gerade den Tod des Hollywood-Remakes und Sequels erleben? Die Totgeburt von Steven Spiel­bergs West Side Story zeigt das ein weiteres Mal. Die Leute haben Remakes satt. Und sie haben es satt, dass tolle Film­uni­versen – ja: Marvel, ja: Star Wars bis auf den letzten Tropfen ausge­quetscht und dann noch dreimal aufge­gossen werden.

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Man muss sich sowieso fragen, wie lange das noch so weiter­geht. Wie lange es so weiter­gehen kann? Denn es ist unüber­sehbar, dass sich Hollywood totläuft, dass den Dreh­buch­au­toren nichts mehr einfällt, dass das immer schnel­lere, immer kompli­zier­tere Erzählen inzwi­schen durch­dreht und in einen rasenden Still­stand mündet. Also keinen medi­ta­tiven Still­stand, sondern einen destruk­tiven.

Der verma­le­deite Seri­en­boom tut ein Übriges: Die Filme verlernen zunehmend das drama­ti­sche Erzählen, das Erzählen in Höhe­punkten. Statt­dessen Epik aller Orten: Und dann und dann und dann...
Immerhin merkt man auf der großen Leinwand viel deut­li­cher, wie lang­weilig Serien und das Seri­en­er­zählen im Grunde sind. Es geht vor allem darum, die Leute bei der Stange zu halten, irgendwie am Abschalten zu hindern. Aber spätes­tens in der Mitte der zweiten Staffel fällt fast keinem der so hoch­ver­ehrten Showrunner noch irgend­etwas Neues ein.
So läuft sich alles tot.

Weil es offenbar so ist, dass die Macher das selbst merken, selber ratlos werden, dass sie die gähnende Leere im rasenden Still­stand spüren, bauen sie ihre eigenen Probleme und die Fragen, die sie eigent­lich selbst beant­worten müssten, aber offenbar nicht mehr beant­worten können, in ihre Stoffe ein. Ebenso wie ihre eigene Entschei­dungs­schwäche. Der letzte Spider-Man ist ein gutes Beispiel dafür: Er hat drei Spinnen-Männer, weil man sich offenbar für einen nicht entscheiden wollte oder konnte, und er hat acht Schurken, jeder von ihnen ein Mega-Schurke, weil man offenbar nicht sicher ist, ob einer reicht. Oder weil man die Schurken-Figuren im Hinblick auf die Ziel­gruppen ausdif­fe­ren­zieren möchte. Der nächste Spider-Man hat dann 20 Schurken, die von einer Armee aus 80 Spinnen-Männern bekämpft werden.

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David Steinitz hat dieses Phänomen perverser Selbst­re­fle­xion kürzlich in einer heraus­ra­genden, weil dem Film und seinem Unsinn in seltener Weise ange­mes­senen Rezension von »Spider-Man: No Way Home« heraus­ge­ar­beitet. Wir zitieren: »Es stellt sich im Kino dann aber eine große Erleich­te­rung ein. Man ist nicht allein! Denn die Macher scheinen selbst an einer entsetz­li­chen Spinnen-Fatigue zu leiden. Man kann sich die Dreh­buch­au­toren sehr gut bei der Psycho­the­rapie vorstellen. 'Ich muss schon wieder einen Spidey-Film schreiben', klagt da der vom Block­buster-Burn-out geplagte Autor auf der Couch. Die Thera­peutin nickt vers­tänd­nis­voll und rät (mit Blick auf die Uhr, weil sie heute noch fünf andere Super­helden-Autoren behandeln muss): 'Über­winden Sie Ihr Trauma doch einfach, indem Sie es zum Thema des Films machen! Sagen Sie den Zuschauern ganz offen, dass Sie auch nicht mehr wissen, was Sie ihnen jetzt noch erzählen sollen, dass Sie quasi auser­zählt sind und sich ab jetzt alles nur noch im Kreis drehen kann.«

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In Matrix Resur­rec­tions hat man die Szene der Einfach­heit halber gleich direkt in den Plot einge­woben: Da sitzt Neo beim Psycho­ana­ly­tiker und breitet ihm seine offenen Fragen zur ganzen bishe­rigen Matrix-Story aus, die er sich wie gesagt nur einge­bildet hat. Was für Neo aber zuerst gut funk­tio­niert, dann aber nicht mehr, weil der Psycho­ana­ly­tiker eigent­lich gar kein Psycho­ana­ly­tiker ist, sondern...

Au Weia! Schon wieder Spoiler-Alarm!!

Schluss jetzt. Zeit, ein Ende zu machen, und noch schnell ein paar Geschenke einzu­kaufen. Frohes Fest!

(to be continued)