ABSTAND/ZOOM
Film-Alphabet: S_SAMMELN |
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Komissare am »Sammeln«: In der super skandinavischen Serie »The Beforeigners« | ||
(Foto: BR / ARD Degeto) |
Von Nora Moschuering
Ich saß in einer Sofalandschaft um eine Smart-TV-Ecke im Hause der Familie W. Ich hatte mich gegen ein Hotel entschieden und bin in das Haus der (so stelle ich es mir vor) verstorbenen Eltern- oder Großeltern gezogen, das in seiner Dekoration noch so persönlich ist, dass man sich nicht nur in die 60er-Jahre, sondern auch in den Geschmack einer bestimmten Familie setzen und Fernsehen gucken kann. Alles war wie ein Film-Set zu einem anderen Film als dem eigenen. Dann habe ich noch ein Chesterfield-Sofa ausprobiert vor einem fast ebenso großen Flachbildschirm, auf dem sämtliche Mediatheken, Streaming-Dienste, YouTube und Plattformen, die ich noch nicht kenne, aufrufbar waren, in der Wohnung von N. Ab und an musste ich die Blätter der ziemlich großen Topfpflanze neben mir streicheln, mein Totem, um mich wieder zu erden. Oder ich habe eine Weile gelesen, es gibt immer auch eine Leselampe in diesen Settings. Das macht Alles so viel Sinn, das schafft mich, ich kann mich kaum draus befreien.
Auf dem einen Set war es mir dann auch möglich auf beide Streaming-Dienste die bei den diesjährigen Oscars eine Rolle gespielt haben, zuzugreifen, Apple+ und Netflix. The Power of the Dog hatte ich schon gesehen, bewusst mit einem Beamer, bei Coda scheint der nicht unbedingt nötig zu sein. Die Oscars habe ich mir nicht angesehen, die Auswahl an Filmen erschien mir dieses Jahr ein bisschen dürftig und dass mit Coda (den ich nicht gesehen habe, weil ich dann doch lieber gezappt habe) ein offenbar freundlicher, menschlicher Film ausgezeichnet wurde, in der gleichen Veranstaltung aber ein Mann aufsteht, um einem anderen eine Ohrfeige zu geben, zeigt schon viel von einem Vor-und-hinter-den-Kulissen, von bewussten Entscheidungen und unbewussten Affekten. Vielleicht war es aber auch kein Affekt, kein Impuls, kein Instinkt, vielleicht war es eine merkwürdige Form der Selbstinszenierung und Fehleinschätzung.
Auf dem Sofa habe ich dann u.a. »The Andy Warhol Diaries« angefangen. Darin wird Warhols Selbstinszenierung beleuchtet. Netflix geht es – wie so oft – mit dem Plan und Verkaufsslogan an, jetzt doch mal richtig dahinter zu blicken, seine Geheimnisse zu enthüllen. Es macht Spaß zu sehen, wie mit dem alten Filmmaterial umgegangen wird, den Filmen, Fernsehaufnahmen, Fotos und Tagebuchtexten, die Warhol ab 1976 diktiert. Die Serie löst sich auch weitestgehend von Warhols Kunst, und dreht sich sehr entschieden fast nur um sein Privatleben. Zentral sind die Beziehungen zu Jed, Jon und Jean-Michel und die wirklich penetrant immer wieder auftauchende Frage danach, ob er nun mit ihnen Sex gehabt hat oder nicht. Das interessiert mich gar nicht. Null. Dafür ist meine Neugier am Privatleben anderer Leute einfach zu unausgereift. (Noch einmal mehr wenn sich jemand als Marke stilisiert, als Produkt, dann ist die Oberfläche sein Werk, mit dem ich mich beschäftigen möchte, und nicht sein Privatleben, zumindest solange, wie ich nicht mit ihm in die Kneipe gehe.) Ich habe »The Andy Warhol Diaries« dann eben nicht zu Ende gesehen. Mögen Warhols Geheimnisse und die Antwort auf die Frage »mit wem er schlief« für immer ruhen.
Ich knüpfe jetzt mal an das Thema Selbstinszenierung an und gehe zu der Gruppe der Superhelden. Sie tun dies ja auch gerne, das Selbstinszenieren, und hier widerspreche ich mir jetzt, denn in ihrem Fall interessiere ich mich dann doch für ihr Privatleben, ihre Backstory. Warum ist das so? Sie wurde mir schon immer mitgeliefert, als Antipode, als Identifizierungspunkt, Dramatisierung. Darin ähneln sich Batman und Warhol auch, sie wollen ihre »andere« Identität nicht enthüllen, das schafft Spannung. Wahrscheinlich ist das Storytelling in klassischer Form, mit dem Unterschied, dass eine Künstlerpersönlichkeit in der Realität existiert und Superhelden in der Fiktion. Aber einmal angenommen, Batman existierte, dann würde ich schon gerne wissen wollen, wer er ist, weil er das Gesetz in die Hand nimmt, während Warhol in Siebdruckverfahren den Kapitalismus thematisiert und Geld gedruckt hat. Ich schweife ab, zurück zu The Batman, der ja, anders als sein Freund Supermann, keine Superkräfte im eigentlichen Sinn hat, aber super viel Geld und die richtige Einstellung. Das heißt Robert Pattinsons Batman arbeitet noch an seiner Einstellung. Er lernt, er irrt sich und er übt, mit seiner Körperkraft umzugehen. Er ist auch noch relativ jung und muss seine Rolle finden und sich irgendwo zwischen James Bond, Sherlock Holmes und dem Iron Man positionieren.
Das Haus der Familie W. war eine kurze Reise, N.s Couch eine kleine Quarantäne-Episode, kommen wir zu einer längeren Reise. In Abteil Nr. 6 reist die Finnin Laura mit dem Zug von Moskau nach Murmansk. Sie studiert in Moskau Archäologie und will auf der russischen Halbinsel Kola die Petroglyphen sehen, das sind Felsmalereien, die gerade erst, es muss kurz nach 1997 sein, gefunden wurden. Skandinavien ist damit ein sehr enger Begriff für diesen Textabschnitt. (Zu Skandinavien gehören wahlweise Schweden, Norwegen, Dänemark und ein Teil Finnlands. Aus geologischer Sicht sind sie alle Teil Fennoskandinaviens, zu dem eben auch die Halbinsel Kola gehört, Karelien und das restliche Finnland. Laut Wikipedia). Wie reist man, wenn man alleine reist? Voller Neugier, aber auch immer auf der Hut. Der finnische Regisseur Juho Kuosmanen lässt Laura auf den Russen Ljoha treffen. Und so wie man an jeder Bar einem wie Ljoha aus dem Weg gehen würde, der mit einer ganzen Flasche voll Schnaps da sitzt, raucht und Wurst isst, so will man es noch viel mehr, wenn man mit ihm auf einer langen Reise ein Zugabteil teilen soll. Allein reisen ist mutig, man ist ungeschützter und damit sehr aufmerksam, man nimmt die Dinge sehr klar wahr. Gleichzeitig will man sich in etwas hineinbegeben, etwas erleben. Laura ist so, sie ist dabei nicht unsicher, zwar ist sie in einer Habachtstellung gleichzeitig aber auch neugierig, lässt zu und geht gewisse Risiken ein. So folgt sie einfach einem Hund und bekommt am Ende Schnaps geschenkt (der nie getrunken wird) oder sie folgt schließlich doch der Einladung von Ljoha zu einer alten Frau (bei der viel getrunken wird). Laura vertraut an bestimmten Stellen, und mit Vertrauen in die Menschen hat Alleine-Reisen auch zu tun. Vom ersten Abgestossensein bis zu jenem Vertrauen oder – im Fall von Laura und Ljoha – dem Vertrautheitsgefühl kann es Zeit brauchen und den Willen, sich aufeinander einzulassen, obwohl der erste Impuls ein anderer gewesen ist. Dieses Vertrautheitsgefühl erinnert mich an die Beziehung in Lost in Translation, eine Beziehung zwischen Menschen, die etwas anderes ist als Freundschaft, aber auch etwas anderes als eine klassische Liebesgeschichte. Es sind kurze, fast magische Begegnungen, die einem passieren können, nicht nur auf Reisen. Aber auf Reisen ist das Gefühl stärker, dass man für einen Moment anders ist, Laura beschreibt das in einer Szene. Aber sie und wir werden das Gefühl nicht los, dass sie sich im Moskauer Salon ihrer Geliebten unsicherer bewegt hat als später im Eis und Schnee auf den Straßen von Murmansk. Aber zurück zur Begegnung: Dieser zeitlich begrenzte, besondere Augenblick mit einer Person, die man zufällig trifft und die man berührt, sind Momente, die filmisch schwer zu vermitteln sind, weil es Gesten und Blicke und kleine Berührungen sind und keine dramatische Kulmination, aber wenn man sie mitfühlt, dann sind es Momente, die einem vielleicht für das ganze Leben in Erinnerung bleiben.
Nach dieser Beschäftigung mit einem sehr großen Skandinavien komme ich zum Schluss doch noch mal konkreter dorthin, denn in letzter Zeit habe ich einige super skandinavische Serien gesehen: Die norwegische Serie »The Beforeigners« zum Beispiel, die über Neuankömmlinge oder sogenannte Zeitmigranten, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart migrieren (oder migriert werden) erzählt, und den Normalzustand, den das einnimmt und in dem die Polizei Mordfälle aufklärt. Krista Kosonen spielt darin Alfhildr, eine der Kommissare (sie spielt auch in Tove mit). Ihre Alfhildr ist dabei so voller Energie, voller Kraft und Unfreundlichkeit. Es geht eben auch um Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit, alte und neue Konflikte, ein bisschen anknüpfend an Laura, die auch durch die Vergangenheit der Gegenwart näher kommen will. Auch in der dänischen Serie »Ragnarök« bricht die Vergangenheit ein, dieses Mal aber die mythologische. In der fiktiven norwegischen Kleinstadt Edda tauchen Götter und Riesen auf und stellen sich dem Kampf, wie sie das schon mal gemacht haben. Das ist interessant, solange es um die gegenwärtige Natur- und Umweltverschmutzung geht und um die Macht von Konzernen (obwohl man vielleicht nicht gleich davon ausgehen sollte, dass alle Menschen mit Geld und Einfluss von mythologischen Riesen abstammen müssen), es wird aber etwas, mhm anachronistisch, wenn es um einzelne »Auserwählte«, also doch wieder Superhelden geht, die dann mit einem Hammer die Welt vor der Zerstörung retten müssen. Wenn wir darauf warten, dann sind die Gletscher verloren. Anders als »The Beforeigners« driftet »Ragnarök« ziemlich schnell ab, nimmt sich zu ernst und vertut auch die Chance, gegenwärtige Absurditäten aufzudecken, damit auch witzig zu sein und einen Kern zu treffen, wie es »The Beforeigners« gelingt.
Na, mal gucken, wie lange ich da dran bleibe, denn aus Mangel an einer Sofalandschaft besteht bei mir und meinen kleinen Tablet immer die Gefahr des Abdriftens in eine andere Serie.