ABSTAND/ZOOM
A_ABSTAND (Oktober 2020) |
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Mit zeitlichem Abstand umgehen: Zustand und Gelände von Ute Adamcziewski | ||
(Foto: Grandfilm) |
Mit diesem Begriff zu beginnen ist natürlich wenig gewitzt, zuerst dachte ich auch an AUFWACHEN, ABGRENZEN oder ABSTRAKTION, aber dann bin ich seit langer Zeit mal wieder im Kino, sehe mich um und habe endlich, was man sich immer wünscht: seinen Raum, sein Territorium, Platz. So wie ich mich auch in jeder U-Bahn immer schon auf Abstand gesetzt habe, so wurde es jetzt hier automatisch gebucht. »Das ist mein Tanzbereich und das ist dein Tanzbereich.« Natürlich ist das ökonomisch ein Desaster für die Kinos (und alle, die auch vom Eintrittspreis leben: Verleiher, Produktionsfirmen, Filmemacher ...), denn bei dem Verkauf von Kinotickets geht es immer schon um Quantität und nicht um Qualität, anders als beim Kauf. Ich vergesse ohnehin, während ich schaue, was um mich herum passiert, aber als ich wieder »aufwache«, will ich mit jemandem über den Film diskutieren, jetzt hier, oder in der Bar um die Ecke, auf ein Bier, eine Limo. Ich stehe dann draußen und gucke in mein Handy.
ABSTAND. Für eine Person, die sich ihr Leben bewusst aus zahlreichen Bausteinen zusammengesetzt hat: Freundschaften, Wohnräumen, Arbeitsräumen, Reisen, Projekten, Erlebnissen, aus Barsituationen, Kinogängen, Feiern, Festivals ... und auch aus der Neugierde auf das Dazwischen, die Abstände, die Zufälle, die Möglichkeiten beinhalten.
ABSTAND. Bausteine einer selbstgewählten oder doch selbstgefundenen und verknüpften Biografie, kleine Tetris-Steine, Container, eine Art
Sammelkorb. Man könnte meinen, sie würden sich irgendwie zu einem konkreten Bild vereinen, aber es geht um Farben, um ein Changieren in eine Richtung.
ABSTAND. Die Bausteine sind noch da, aber sie haben sich voneinander entfernt, driften auseinander, gewinnen Abstand. Der Abstand aber macht das Gegenteil von dem, was die schmalen farbigen Fugen normalerweise tun, er reduziert die Möglichkeiten. Abstände können Potential haben. Abstände können aber auch vereinzeln, denke ich, während
ich in mein Handy gucke.
Ich stehe vor dem Kino und komme gerade aus Nolans Tenet. Ich google im Anschluss der Zeit hinterher, wie ich das auch schon bei Inception und Interstellar gemacht habe. Tenet ist weit weniger raffiniert als diese beiden Filme, er hat eigentlich nur einen Clou, der filmisch ziemlich viel hermacht, vor allen Dingen weil er ordentlich verwirrt. Er hebt die Richtung der Zeit auf bzw. man kann sie für einzelne Körper ändern, d.h. man kann sich selbst treffen und man kann die Zukunft verändern, indem man rückwärts in die Vergangenheit geht. Zeitreisefilme sind immer auf die ein oder andere Weise unlogisch und Tenet spricht das mit dem Großvaterparadox immer wieder an, kann es aber nicht auflösen – dadurch dass sich Nolan in Inception an neuronale Welten und keine physikalischen macht, konnte er dieses Kausalitätsproblem dort umgehen. Die Terminator-Reihe ist ein ähnliches Beispiel, auch hier wird in die Vergangenheit gereist um denn größtmöglichen Abstand zwischen sich und die Zukunft zu bringen und das heißt, dass sie zu einer anderen wird.
Der Schnitt eines Filmes ist per se eine Form des Abstandnehmens, des Zurücktretens, des sich Distanzierens. Orientieren und neu sortieren. Auch hier haben sich die Gegebenheiten gerade geändert: sitzen normalerweise oft Editor und Regisseur zusammen, so passiert das gerade viel online, an der HFF z.B. findet man den nötigen Abstand, indem man in zwei unterschiedlichen Räumen jeweils alleine sitzt und auf miteinander synchronisierte Bildschirme sieht. Der Abstand ist also nicht mehr nur zeitlich, sondern auch räumlich.
Der Abstand wächst aber auch, wenn man mit Material arbeitet, das man nicht selber gemacht hat, wie bei Beuys von Andres Veiel, der mit Editoren zusammengearbeitet hat, oder Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien von Bettina Böhler, die »eigentlich« Editorin ist, hier aber auch zur Regisseurin wird. Böhler hat in den 90ern zwei Filme von Schlingensief montiert. Mit ihm. In dem Film über ihn arbeitet sie mit Archivmaterial: Interviews, Aufzeichnungen von Theaterstücken. Was macht man? Man sichtet und findet einen Fokus, in ihrem Fall auf seine Auseinandersetzung mit Deutschland, dem Nationalsozialismus, der Wende, aber eben auch auf seine Kindheit. Mit dem zeitlichen Abstand und ihrem Wissen (und dem vieler seiner Weggefährten), hat sie es in eine Form gebracht, die zudem noch Schlingensiefs eigener mäandernder Sprache, seinen assoziativen Gedankensprüngen ähnelt.
Auf dem UNDERDOX Filmfestival, das vom 08.–14. Oktober stattfindet, läuft Zustand und Gelände von Ute Adamcziewski, der die Goldene Taube auf dem DOK Leipzig gewonnen hat) (Sonntag 11.10. 11.00 Theatiner Filmkunst), eine weitere Art mit einem zeitlichen Abstand umzugehen. Ähnlich wie bei Sergei Loznitsas Film Austerlitz geht es um Orte, die mit dem Nationalsozialismus zu tun haben und unserem heutigen Umgang mit ihnen. In Austerlitz um die KZ-Gedenkstätten und den Tourismus in ihnen, in Zustand und Gelände um sogenannte wilde Konzentrations- und Schutzhaftlager, in denen politische Gegner interniert wurden und die heute größtenteils in Vergessenheit geraten sind und in denen sich unterschiedliche Nutzungen und damit Erinnerungskulturen festgemacht haben. Dabei treffen Bilder der Gegenwart auf Texte der Vergangenheit, die bis ins Heute reichen.
Künstler im Fokus bei UNDERDOX sind Eve Heller und Peter Tscherkassky. Sie arbeiten mit »Fremdmaterial«, analogem Filmmaterial. Sie manipulieren es, wiederholen es, zerkratzen es, machen die physische Form des Mediums wieder sichtbar. Soll die vielbesagte Immersion dazu führen, dass wir den Abstand verlieren, machen sie die Materialität des Mediums wieder sichtbar, weil vielleicht gerade in seiner Distanz zur Realität und in seinem technischen Eigensinn die Kunst des Films liegt (das geht auch digital, auch Nolan arbeitet damit). Die beiden schöpfen aus den physischen Eigenheiten ihres Mediums, um es zu dekonstruieren und es dadurch wieder zu verzaubern.
Der Dokumentarfilm ¡Vivan las Antipodas! von Viktor Kossakovsky versucht es 2011 mit dem größtmöglichen räumlichen Abstand, den man auf der Erde einnehmen kann. Er taucht auf der einen Seite der Erde ein und auf der gegenüberliegenden wieder auf.
Auf den Filmfestspielen von Venedig hat gerade Nomadland von Chloé Zhao den Goldenen Löwen gewonnen. Ich habe den Film noch nicht gesehen, der Abstand war zu groß, auch nach Hamburg, wo er als Abschlussfilm des Filmfests läuft. Nomadland spielt in den Trailer-Parks in den USA (Trailer, als Urform des kleinen Lebenscontainers). Unter Menschen, die in ihren Autos leben und sich scheinbar von der Gesellschaft entfernt haben. Nomaden, wie Fern (Frances McDormand), die mit 60 durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch einer Kleinstadt alles verloren hat und weiterzieht, dahin wo es Geld gibt, Perspektive oder eben immer weiter.
Körperlicher Abstand, der Sehnsucht und Verlangen erzeugt, ist die Essenz aller Liebesfilme und überlebenswichtig in den meisten Horrorfilmen.
Die Kleidung und die Körper in Über die Unendlichkeit von Roy Andersson wispern nichts anderes als Abstand von uns, den bunten, lauten, lebendigen. Andersson schafft eine eigene Welt aus Menschen, die kürzeste Sätze sagen, deren Mimik verschwindet, deren Gesten und Bewegungen fast slapstickartig minimal, aber dadurch auch durch und durch melancholisch, wenn nicht gar depressiv sind. Wir fühlen uns erst mal befremdet, wenn wir das sehen und doch: Wie vor einem Gemälde in einem Museum (es gibt auch keine Zooms oder Close Ups): Wir fangen mit einem Abstand an, identifizieren uns mit Nichts und doch, ganz allmählich, schleicht sich die Ahnung ein, dass das wir sind, die beunruhigende Nähe zum eigenen Sein. Eine Art Neue Filmische Sachlichkeit, Sachlichkeit & Slapstick. Andersson macht uns in der Ruhe nervös, weil es unser tägliches Scheitern, unsere Unzulänglichkeiten und unsere Entfremdung zeigt indem er abstrahiert.
Ende Oktober kommt Miranda Julys neuer Film Kajillionaire ins Kino. Ihre Filme handeln von Einsamkeit, aber eben auch sehr stark von Gemeinschaften, die auf den ersten Blick nicht funktional sind, aber auf den zweiten umso mehr. Sie selber hat einen Mann und ein Kind, behält aber seit 15 Jahren ihre eigene kleine Wohnung in der sie regelmäßig lebt und arbeitet. Einen Raum für sich selbst. Abstand zu der Kleinfamilie. Hier ist sie nur Künstlerin.
Ein Lob auf die Distanz also, denke ich, während ich unentschlossen schon wieder auf mein Handy gucke, auf diesen kleinen Container, der auch so einiges von mir beherbergt. Da trete ich jetzt mal heraus und betrachte das Ganze mit Abstand, all die Teile, aus denen sich mein Leben aufbaut, und fahre jetzt los, um noch mal Faraz Shariats Futur Drei anzusehen, der alles andere hat, nur keinen Abstand. Die drei Protagonisten haben zwar Abstand zu ihrer Herkunft, aber nicht zueinander und das ist schon sehr schön und ja, trotz des gewonnenen Platzes, irgendwann können wir dann hoffentlich auch vor der Leinwand wieder zusammenrücken, denn das ist schon sehr schön.