07.01.2021
ABSTAND/ZOOM

D_DRAUSSEN (Januar 2021)

© Maya Deren & Alexander Hammid, US 1943, 14 min
Eine Filmfigur blickt aus dem Fenster: Meshes of the Afternoon von Maya Deren & Alexander Hammid, USA 1943, 14 min.
(Foto: © Maya Deren & Alexander Hammid, US 1943, 14 min)

In 26 Schritten durch das filmische Alphabet. Eine völlig subjektive monatliche Serie über Begriffe und ihre Anwendung auf aktuelle Filme

Von Nora Moschuering

»Fuck jetzt ist es soweit... ich hab das Internet leer geguckt!«, schrieb ein Bekannter vor ein paar Tagen auf Facebook, und ich hätte ihm gerne ein High five gegeben oder aufgrund der gemeinsam gefühlten Erfahrung umarmt. Geht aber nicht. Hätten wir auch ohne Pandemie nicht gemacht. Also nur ein: »Daumen hoch«.

Es ist eine Schläf­rig­keit einge­treten, die nach Weih­nachten und vor Neujahr irgendwie immer eintritt, die sich gerade aber durch den Lockdown und sicher auch durch das Jahr, das hinter uns liegt, in einem extrem erschlafften Rumge­zappe akku­mu­liert – zumindest bei mir. Mein Rücken tut weh und ich hänge mitt­ler­weile bei »Filme und Märchen für die ganze Familie« und auch zwei »Retro-Serien und Filme« aus der ZDF-Mediathek habe ich ange­fangen. Ich hab sie wieder abge­bro­chen. Aber mein Verhalten ihnen gegenüber hat mich an ein anderes erinnert: dasselbe mache ich gerade bei Netflix- und Amazon-Prime-Serien: Ich gucke rein und breche wieder ab (Dieses Gefühl hat man im Internet eigent­lich immer: Man klickt etwas an / zappt wo hinein und bricht wieder ab. Dazu ist der Hypertext auch gemacht, deshalb kann man es eigent­lich nicht »leer gucken«, aber trotzdem das Gefühl bekommen, man hätte es getan). Jetzt aller­dings habe ich das Gefühl, dass es mir bei den Streaming-Diensten schon ähnlich geht wie bei Serien, die ich vor 25 Jahren gesehen habe, es kommt mir alles irgendwie bekannt vor. Viel­leicht ist Netflix durch die Pandemie rasend schnell retro geworden.

Also ja, mir wird gerade lang­weilig mit den Streaming-Diensten und den öffent­lich-recht­li­chen Fern­seh­sen­dern, viel­leicht liegt es aber auch an meiner Haltung, die so unver­än­der­lich ist und die meinen Körper in meine Sitzmöbel einschreibt oder ist es doch umgekehrt? Sonst ginge es wohl meinem Rücken besser. Also habe ich den Laptop zuge­klappt und die letzten Tage immer wieder in den Innenhof gesehen. Es ist ein sehr großer Innenhof, in dem in der Mitte eine dieser typischen Münchner Gara­gen­zeilen mit grünen Holztüren steht. Das heißt auch, er ist nicht besonders bewachsen und man kann ganz gut alle Balkone sehen und auch in Fenster schauen.

Ich finde es ziemlich schön, wie da draußen gerade Menschen ihre Balkone und ihre Fenster erleuchten. Gegenüber hat jemand eine Art leuch­tendes Spin­nen­netz über die Balkon­pflanzen gespannt (Palmen, die offenbar winter­hart sind). Die im dritten Stock haben in zwei Fenstern Gewebe von bunten Birnchen gehängt, die blinken können, und die darunter, im zweiten Stock, in jedem ihrer drei Fenster jeweils einen relativ großen, hellen Stern. Oben ist mehr Disko, unten mehr Besinn­lich­keit. Das muss jetzt nicht purer Altru­ismus sein, denn natürlich haben sie auch selber was davon, wenn sie im sanften Licht der kleinen elek­tro­ni­schen Birnchen sitzen, aber alle anderen eben auch. Das hat hier nichts mit Pomp zu tun, oder mit Angabe, mir erscheint es gerade als kleine, freund­liche Geste.

Ich sitze nicht mehr vor der Kino­lein­wand, ich sitze nicht mehr vor dem Laptop, jetzt sitze ich vor dem Fenster. Ich weiß nicht, was für eine Bewegung das ist, eine rückwärts- oder eine vorwärts­ge­wandte, aber ich denke, dass dies auch falsche Kate­go­rien für die Gegenwart sind. Der Kinosaal ist ein einzig­ar­tiger Raum der Konzen­tra­tion, der unver­rück­baren Sitz­po­si­tion, in die man sich für die Länge des Filmes einge­mietet hat. Zwangs­weise ist er jetzt geschlossen. Jetzt sitzen wir in unseren gemie­teten Wohnungen und rücken uns unsere Stühle so zurecht, dass wir durch die Fenster hinaus­sehen können, die auch unver­rückbar posi­tio­niert sind.

Ich gucke aus dem Fenster raus, in das Bild hinein, das ist dem Kino nicht unähnlich. Bereits zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts haben Siegfried Kracauer und André Bazin das beschrieben: das Kino als Fenster, das eine Sicht auf die oder zumindest eine Realität bietet. Diese offene Form zeigt einen Ausschnitt von etwas, das scheinbar unab­hängig von der Kamera existiert. Sie reicht damit über sich hinaus, hat ein Hors-champ, etwas, das außerhalb des sicht­baren Feldes liegt, ein Off.

Rudolf Arnheim und Sergej Eisen­stein sahen eher den Konstruk­tions- und Kompo­si­ti­ons­cha­rakter eines Bildes innerhalb eines Rahmens.

Ich denke an das Fenster-Motiv in Filmen. Also nicht Film als Fenster, sondern Fenster im Film. Das Das Fenster zum Hof von Alfred Hitchcock, in dem der Foto­re­porter/Zuschauer Jefferies (James Stewart) durch das Fenster beun­ru­hi­gende Gescheh­nisse bei seinen Nachbarn und Nach­ba­rinnen beob­achtet. Er ist Zuschauer, aber natürlich nur so lange, wie er wirklich außen vor ist, solange er sich nicht in das Geschehen einmischt und sei es auch »nur« durch seine Freundin Fremont (Grace Kelly). Damit bekommt Jefferies eine Art Avatar, der Fens­ter­film wird sozusagen inter­aktiv und Jefferies ist nicht mehr nur Zuschauer sondern Handelnder. Er wechselt im Film noch mal seine Position, im Finale, in dem sein Zuschau­er­raum zum Hand­lungs­raum wird und sich die Blicke eigent­lich umkehren und wieder »korri­gieren« könnten, würden wir, seine Zuschauer*innen, uns dann in einer der gegen­ü­ber­lie­genden Wohnungen befinden. Das passiert nicht, aber unsere doppelte Distanz wird um eine verrin­gert.

Sonst werden Fenster in Filmen nicht häufig als Film im Film, also Film im Fenster, bespielt. Meist sind sie vorhang­um­rahmt und vor dem Fenster ist viel­leicht etwas sehr Vages auszu­ma­chen, wie Bäume oder eine angren­zende Haus­fas­sade, oder helles, verschwom­menes Licht scheint hindurch.

In The Light­house oder dem Joker wird dieses verschwom­mene, flirrende Licht selbst zu einer Erzählung über das unbe­stimmte und verun­si­chernde Draußen, bis zu dem Moment in dem in The Light­house das Wasser in den Raum bricht oder in Joker Gotham City nicht mehr heraus­zu­halten ist.

Oft sind sie inhaltslos und nur aus Verle­gen­heit illu­mi­niert, aus kreativer Müdigkeit und monetärem Geiz (unter­stelle ich jetzt mal). Eine Ausnahme ist Citizen Kane, hier sind die Fenster belebt, bilden immer wieder eigene Bühnen, auf denen gespielt oder sich getroffen wird. Erwähnen will ich auch noch Yasujirō Ozu, der in seinen geome­tri­schen Kompo­si­tionen, die zugleich Tiefe aber auch Fläche sind, immer wieder offene Türen zeigt oder eben Fenster. Bei Ozu entspre­chen die Räume und die Öffnungen in ihnen aber Arnheims und Eisen­steins Bild des Rahmens, wobei bei Ozu nicht allein die Kamera und ihre Cadrage, ihr Framing, den Rahmen bildet, auch innerhalb der Bilder wird gerahmt, durch Möbel, Menschen, Wände, Türen und Fenster. Hier ist wirklich nur von Belang, was sich innerhalb der verschie­denen Rahmen befindet und nicht das, was drum herum passiert, anders als eben in dem Fenster-Motiv.

In Sitcoms passiert in den Fenstern rein gar nichts, sie haben sich in einer sehr beschau­li­chen Innenwelt ohne »echte« Fenster einge­richtet. Und es irri­tierte immens, wenn sich die »Friends« mal nach draußen bewegten und wenn, dann war nur das »Central Perk«-Café akzep­tiert. Deshalb bekommt BoJack Horseman auch solche Probleme, als er versucht in einer Welt außerhalb des Küchen­tischs und der Couch seiner Sitcom-Welt aus dem 90ern zu exis­tieren, die Außenwelt ist komplex. (»BoJack Horseman« habe ich übrigens viel zu schnell wegge­guckt. Das eine binge-watcht man, das andere bekommt keine Chance über Folge 1,5 hinaus.)

Nicht einmal die Blicke schweifen in Filmen aus dem Fenster, oder selten und oft wird es dann mit träumen gleich­ge­setzt. Ich habe meine Gedanken schweifen lassen, während ich aus dem Fenster sehe, geträumt habe ich nicht.