Cinema Moralia – Folge 268
»Ich verstehe nicht, wie man heute Filme sehen, darüber nachdenken und darüber schreiben kann« |
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Nostalgie oder Stillstand? Volker Koepps In Sarmatien (2014) | ||
(Foto: Volker Koepp) |
Es ist eine merkwürdige Dialektik aus Angst und Beruhigung, die wir gerade erleben. Langsam beruhigt sich zumindest innenpolitisch die Lage. Zugleich beginnen die Maßnahmen der Regierung in ihrer Entschiedenheit schon wieder zu zerbröseln. Und vielleicht ist dies auch gut so. 100 Milliarden Euro Extrageld (100 Milliarden!) für die Bundeswehr haben sicherlich ihren guten Grund. Aber wenn so viel Geld für Notfälle vorhanden ist, warum gibt es dann nicht 1 Prozent davon, also
eine Milliarde für die Kultur? Und zwar nicht für ein Stadtschloss, das keiner will, außer einer Handvoll über 70-jähriger Preußen-Nostalgiker und einer Kulturstaatsministerin, die sich verewigen möchte?
Man könnte so viel damit machen, auch wenn es Corona nie gegeben hätte.
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Russland ist kein Ort für Narren.
Man hält sich Putin und seine Fragen an den Westen zurzeit ja gerne damit vom Leib, dass man ihn für verrückt erklärt. Wer nicht ist, wie wir und wer anders denkt und andere Werte hat, der muss einfach verrückt sein! Das erinnert ein bisschen an den Witz über den Patienten einer Irrenanstalt, der erklärt, dass alle da draußen verrückt seien.
No Place For Fools war bereits 2015 der internationale Titel eines Films des 1965 geborenen russischen Filmregisseurs Oleg Mavromatti, eines Vertreters des radikalen russischen Independent-Films. Mavromatti ist auch ein prominenter Vertreter der radikalen Performance-Kunstszene im Moskau der 1990er Jahre, der für einige seiner Projekte gerichtlich verfolgt wurde.
No Place For Fools ist ein unglaublicher Film! Er handelt von einem einsamen russischen Homosexuellen, einer realen Person, der zugleich ein schwulenfeindlicher, christlich-orthodoxer Pro-Putin-Aktivist ist. Diese beiden einander völlig widersprechenden Identitäten entfalten sich in seinem Videoblog in einer chaotisch-schizophrenen Mischung aus Bildern und Tönen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass diese Monologe über Essen, Liebe und
Patriotismus vom aktuellen sozio-politischen Umfeld des kapitalistischen Russlands gerahmt und durchzogen sind.
Oleg Mavromatti hat dem Chaos dieser unzähligen Video-Geständnisse und Video-Zerfleischungen, die in Wirklichkeit oft überlang und unartikuliert sind, eine klare Struktur gegeben. Mavromatti hat auch recherchiert und eine enorme Menge an Youtube-Videos gesammelt, um ein Umfeld zu schaffen, in dem seine Figur aufblühen kann. Der Film besteht fast komplett aus
YouTube-Filmen. Mavromattis intellektuelle Montage dieses Materials zeigt, wie das Leben eines jeden Individuums von den kleinsten Veränderungen im politischen Klima Russlands und von den siegreichen konsumistischen Werten bestimmt ist. Mit einem Wort – der kontroverse Charakter dieses Films fungiert als Spiegel der Zeitgenossenschaft und Hintergrund für einen Kommentar des Regisseurs zu den dunkelsten Seiten des Lebens im heutigen Russland.
Ein
Wahnsinnsfilm!
Auf seiner Vimeo-Seite hat der Regisseur den Film kostenlos zugänglich gemacht, ebenso wie einige andere seiner Werke. Der Besuch ist sehr empfehlenswert.
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Man sollte die Eigenständigkeit der osteuropäischen und postsowjetischen Kulturen verteidigen. Aber man muss sie nicht verteidigen auf Kosten der Russen. Abgesehen davon, dass dies nur neuen Hass generiert, ist es vor allem ignorant. Es geht also darum, den schmalen Grat zu finden, der der Grat der Vernunft ist.
Man muss übrigens auch nicht plötzlich Selenskyj gut finden, weil man die Aggression gegen die Ukraine missbilligt.
Vor dem Hintergrund des sehr befremdenden antirussischen Tons in breiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit und russophobischer Ausfälle, die auch in der Kunstszene erkennbar sind, ist der Kommentar der neuen Kulturstaatsministerin Claudia Roth in dieser Angelegenheit um so begrüßenswerter:
Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat vor überzogenen Reaktionen gegenüber russischer Kultur nach dem Angriff auf die Ukraine gewarnt: »Ich warne vor Tendenzen eines Boykotts russischer Kunst und Kultur oder einem Generalverdacht gegenüber russischen Künstlerinnen und Künstlern und auch allgemein gegenüber Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die aus Russland stammen«, sagte die Grünen-Politikerin.
Kunst und Kultur seien universell. »Die so vielfältige wie
reichhaltige russische Kultur ist Teil des europäischen Kulturerbes und der europäischen aktuellen Kultur«, sagte Roth. »Wir lassen nicht zu, dass sie von Putin instrumentalisiert wird.Wir lassen auch nicht zu, wenn hier Leute versuchen, sie zu instrumentalisieren.« Gleichzeitig verwies Roth auf »viele mutige Künstlerinnen und Künstler«, die sich gegen Putin engagierten. »Ihnen gilt unsere Unterstützung.«
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»Sarmatien« wurde in der Antike die Region zwischen Weichsel, Wolga, Ostsee und Schwarzem Meer genannt, auf dem heute die Länder Moldawien, Belarus, Litauen und Ukraine liegen. Der Filmemacher Volker Koepp hat für seinen Film In Sarmatien dieses Gebiet bereist und mit den Menschen über ihre Heimat, ihr Leben und ihre Träume gesprochen.
Aus den bekannten »aktuellen Anlässen« wird der Film jetzt an der Berliner »Akademie der Künste« noch einmal gezeigt. Volker Koepp kommentiert diese Wiederaufführung: »Seit ich 1962 Johannes Bobrowskis Gedichtband 'Sarmatische Zeit' gelesen hatte, bewegte ich mich gedanklich mit alten Landkarten in diesem geografischen und kulturellen Raum östlich der Weichsel. Später dann drehte ich Filme mit Menschen in diesen Landschaften zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer. Versuche,
etwas über das Verhältnis der Deutschen zu ihren östlichen Nachbarn zu erzählen und zum Verhältnis zwischen den Völkern dort – 'unter ihnen immer auch die Judenheit' (Bobrowski). Während der Vorbereitung der Dreharbeiten für In Sarmatien traf ich 2012 Tanja Kloubert, aus Czernowitz stammend, Mitwirkende und auch Mitarbeiterin unserer Filme. Sie sagte mir damals, dass Russland in der
Ukraine Krieg machen würde. Es würde Blutvergießen geben. Ich hielt es damals für unmöglich. Als am 16. März 2014 der Film während des Kinostarts in Berlin in der Akademie der Künste aufgeführt wurde, war die Annexion der Krim beinahe abgeschlossen. Seit acht Jahren gibt es nun im östlichen Europa Krieg. Die Hoffnung der Neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf 'eine Zeit ohne Angst' ist nun mit dem barbarischen Überfall auf die Ukraine zunächst zerstoben.«
Im Anschluss der
Vorführung gibt es ein Gespräch mit (u.a.) Tanja Hoggan-Kloubert, Ana Felicia Scutelnicu, Halyna Yeriomina (Czernowitz), Volker Koepp.
Um Spenden für die Initiative Ukraine-Hilfe Berlin, die momentan Unterstützung vor Ort und für Geflüchtete leistet, wird gebeten.
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Zu denen, die in den letzten Wochen ihr Land verlassen haben, gehört auch der russische Filmkritiker Anton Dolin. Grund dafür waren Todesdrohungen durch Ultranationalisten, nachdem Dolin gegen die russische Invasion in der Ukraine protestiert hatte.
Dolin schreibt dazu einen sehr traurigen Text (für dessen etwas holprige Übersetzung ich verantwortlich bin,
zusammen mit Deepl und anderen Krücken):
»ICH BIN NICHT HIER
Wir sind weg.
Dafür gibt es mehrere Gründe. Obwohl es in Wirklichkeit nur einen gibt – den von der russischen Führung initiierten kriminellen Krieg in der Ukraine.
Es ist unmöglich, in einem Land zu leben, selbst in dem eigenen und geliebten Land, in dem man geknebelt wird. Besonders für einen Mann, dessen einziges Werkzeug sein Wort ist.
Außerdem konnte ich die Luft in Moskau einfach nicht mehr atmen, wo die Menschen weiter ihre persönlichen
Pläne diskutierten, Filme ansahen, Kunstdiskussionen führten, Vernissagen und Premieren besuchten, während in der Ukraine Menschen getötet wurden und starben. Jede Minute einer solchen Existenz bestätigte das Offensichtliche: Sie sind Komplizen.«
Natürlich ist es ein Privileg, zu gehen. Dennoch halte ich es für wichtig fürs Protokoll zu erwähnen, dass wir keine Aufenthaltsgenehmigung, keinen zweiten Reisepass, keine Arbeitsverträge, kein gespartes Geld (ich habe es irgendwie geschafft, vor der Reise etwas zu sparen) und keine »Notlandeplätze« oder »Zukunftspläne« im Allgemeinen haben.
Das Komische daran ist, dass ich mich mein ganzes bewusstes Leben lang geweigert habe, zu gehen. Obwohl sie angerufen und darauf gewartet haben. Meine Heimat ist Russland, ich habe mir nie eine andere gewünscht. Aber es gibt kein Russland mehr. Russland ist ein Huhn mit abgeschlagenem Kopf.
Vor zehn Tagen ist die ganze Welt zusammengebrochen. Das Leben eines jeden, der in Russland lebt, Russisch spricht oder zumindest an der russischen Kultur teilhat, hat sich unwiderruflich verändert. Viele (die meisten?) haben es nur noch nicht begriffen. Die Ukrainer werden die Chance haben, sich aus der Asche und den Trümmern zu erheben, sie werden nur stärker werden und sie werden – wenn sie es wollen – in der Lage sein, das Leid, das sie erlitten haben, zu vergessen. Wir werden weder die Möglichkeit noch das Recht haben, zu vergessen. Wir sind gezeichnet.
Seit zehn Tagen kann ich an nichts anderes denken als an den Krieg. Es fällt mir schwer, mich überhaupt um meine Lieben zu kümmern, weil ich ständig an die Ukraine denke. Ich habe dort keine Verwandten, aber ich habe ukrainische Freunde: den Ehemann von Kira Muratova, den wunderbaren Künstler Zhenya Holubenko, der jetzt in Odessa lebt, meinen treuen Gefährten und edlen Mann Sergeij Loznitsa, die Filmkritikerin und Autorin von »Art of Cinema« Natasha Serebryakova (sie ist in einem Bunker in Sumy), und viele andere unserer Autoren und Kritiker...
Aber es geht nicht einmal um Freunde. Die Ukrainer haben recht, und deshalb werden sie auch gewinnen. Früher oder später, aber unweigerlich. Eigentlich haben sie bereits gewonnen. Und wir erleben eine Katastrophe – nein, nicht wirtschaftlich oder politisch. Das ist eine moralische Katastrophe. Die Hilflosigkeit derjenigen, die sich 22 Jahre lang gegen das System und die Behörden gewehrt haben, verstärkt nur das Gefühl der Verzweiflung.
Ich bin stolz darauf, dass ich mein Erwachsenenleben als Korrespondent von Echo Moskwy begonnen habe. Damals berichtete ich als Nachrichtenkorrespondent über die Bombardierung von Wohnhäusern in Moskau und den zweiten Tschetschenienkrieg (den – Sie erinnern sich? – sie verlangten ausschließlich eine »Anti-Terror-Operation« zu nennen). Ich bin auch stolz auf mein Engagement bei der Meduza, die über alle Ereignisse des aktuellen Krieges tadellos berichtet hat.
Ich verstehe nicht, wie man heute Filme sehen, über Filme nachdenken und über Filme schreiben kann.
Bevor wir das Haus verließen, um zum Zug zu gehen, sahen wir, dass die Tür unserer Wohnung markiert worden war. Die Botschaft war klar: »Wir wissen, wo deine Familie lebt, pass auf.« Wisst ihr, wo ihr hingeht, ihr elenden Zombies? Wie der Dichter sagte, »er versteckt sich nicht«.
ICH BIN NICHT ZU HAUSE.
(to be continued)