Cinema Moralia – Folge 272
»Komm' Kino, Du willst es doch auch!« |
||
Beispiel für die umfassende Humorlosigkeit unseres Zeitalters: The Northman | ||
(Foto: Universal) |
»Das ist kein schönes Leben ohne ... ein Orchester, ohne ein Theater, ohne all das Überflüssige. Wozu lebt man denn? Doch nicht für das, was zweckmäßig ist. Sondern für das, was darüber hinausgeht, für die Momente, die eben nicht aufgehen in irgend einem betriebswirtschaftlichen Nutzen.«
- Navid Kermani, FAZ vom 26.03.2021
Vor einigen Tagen lief mal wieder Some Like It Hot von Billy Wilder auf 3sat. Da fiel mir auf, dass dort ja relativ am Anfang ein Dutzend Menschen mit Maschinenpistolen erschossen wird. Gangster zwar, aber immerhin doch Menschen. Trotzdem ist dieser Film nichts anderes als eine sehr, sehr alberne Komödie. Man macht da also gute Witze über den Tod von Menschen und über die Tatsache, dass bestimmte Leute andere ermorden möchten. Damals kein Problem, und dem Ruf von Billy Wilder hat es auch nicht geschadet. Das würden heute viele unserer moralisch empfindlichen Zeitgenossen kaum ertragen, geschweige denn dass es durch die entsprechenden Gremien ginge.
+ + +
Der morgen herauskommende Wikinger-Action-Rache-Film The Northman ist wieder mal ein Anlass, über die umfassende Humorlosigkeit unseres Zeitalters nachzudenken. Es geht jetzt gar nicht darum, dass Corona und Krieg gerade wenig Anlass zu Witzen bieten, sondern um Zeitgeistphänomene.
Die Filme, vor allem die Kinofilme, nehmen sich alle viel zu ernst! The Northman zum Beispiel meint alles todernst. Auf Humor wird in zweieinhalb Stunden komplett verzichtet. Schon das macht diesen Film nicht nur als solchen schwer erträglich, sondern zu einem sehr zeitgemäßen Produkt unserer Gegenwart – und über diese Gegenwart wird man sich in späteren Zeiten sehr wundern. Denn
nie gab es eine Epoche der Kinogeschichte, die humorloser war als die jetzige.
Es geht immer weniger um Spielereien, um persönliche Leidenschaften und Spleens der Macher, und immer mehr um Kontrolle. Statt mit dem Publikum in Dialog zu treten, soll es möglichst gesteuert werden.
Übrigens völlig egal ob es sich um Autorenkino oder Blockbuster handelt.
+ + +
Selbst die Belanglosigkeiten sind von einer peniblen, spießigen Seriosität gekennzeichnet. Nehmen wir zum Beispiel einen x-beliebigen, aber typischen Zeitungsbericht über eine Filmpremiere.
Das liest sich dann so: »Anya Taylor-Joy und Nicole Kidman haben bei der Premiere zu The Northman in Los Angeles alle Blicke auf sich gezogen. Dabei setzten sie auf schlichte Eleganz und
funkelnden Glamour. Anya Taylor-Joy (26) und Nicole Kidman (54) ließen sich die Premiere zu ihrem neuen Film The Northman am vergangenen Montag in Los Angeles nicht entgehen. Die Schauspielerinnen wurden mit konträren Looks zum Hingucker.
Kidman trug eine hochgeschlossene Prada-Robe in Limettengrün mit funkelnden Applikationen am unteren Teil des Kleides. Zum Blickfang wurden die an
den Schultern angebrachten Federn in Koralle. Ihre Haare hatte sie sich locker zu einem Dutt zurückgesteckt, einzelne Strähnen umrahmten dabei ihr Gesicht. Bei den Accessoires wählte sie eine silberglänzende Clutch und silberne Ohrstecker sowie Ringe. Taylor-Joy setzte auf ein schlichtes Dior-Kleid in Weiß mit Neckholder, das vor allem durch den filigranen, mit Perlen bestickten Kragen zur Geltung kam. Ihre Haare waren zu einem Zopf geflochten und beim Make-up setzte sie auf schwarze
Mascara. Ringe, Armband und Ohrstecker in Weiß und Gold rundeten den eleganten Look ab.«
Ganz abgesehen davon, wie schlecht und spießig das alles geschrieben ist, bringt es einen wirklich zur Verzweiflung, dass die Autoren das, was sie da erzählen, tatsächlich ernst meinen. Spürbar. Und dass sie offenbar glauben, dass die beiden Stars das ebenfalls ernst meinen. Berichtet wird nicht etwa über etwas Lustiges, über einen Überschuss gegenüber dem realen Leben, sondern über etwas, das ähnlichen Arbeits- und Verwertungszwängen und ähnlichem Drang nach Effizienz und Optimierung unterliegt, wie alles im Leben der ganz normalen Menschen. Diesen normalen Menschen waren Stars einmal entrückt – nicht nur durch den Preis ihrer Klamotten, sondern durch ihren Lebensstil, durch ihre ganze Haltung. Man müsste sich einmal einen Zeitungsartikel aus den 20er Jahren durchlesen, in irgendeiner amerikanischen Zeitung, deren öffentliches Archiv weit genug zurückreicht, dass man das wirklich machen kann, man müsste sich einmal diesen früheren Ton auf der Zunge zergehen lassen, um sich klarzumachen, was wir – wir alle, unsere ganze Gesellschaft – seitdem verloren haben: Eine Leichtigkeit und Frivolität im Alltag, einen Witz und einen Esprit. Ein ganz normaler Mensch in den 20er Jahren war in seiner Sprache und in seinem Empfinden näher an einem F. Scott Fitzgerald-Roman als an der oben zitierten Zeitungsmeldung.
+ + +
Am schlimmsten wäre es übrigens, wenn die Autoren dieser schrecklichen Meldung am Ende vielleicht sogar noch wirklich Recht haben, und es auch Nicole Kidman und Anya Taylor-Joy tatsächlich alles ernst meinen. Ich kann das nicht glauben!
+ + +
Im »Guardian« zumindest scheinen einige Autoren etwas Ähnliches zu vermissen wie ich: Exzess, Leichtigkeit, Humor, Witz, Sünde, schöne Amoral.
Gerade erschienen ist dort ein Text, in dem sich eine Autorin nach dem Erotikthriller früherer Zeiten zurücksehnt. »Why we should turn up the heat and revive the erotic thriller« schreibt dort Gwilym Mumford:
»Der Begriff 'erotic thriller' ruft sofort alle möglichen Gedanken und Bilder hervor, die man sich vorstellen kann. Zwei-Wort-Titel,
die in einer vage bedrohlichen roten Schrift prangen. Michael Douglas auf Michael Douglas-Art. R-Rating in den USA, ein 15er-Zertifikat (oder 18, wenn es richtig pikant wird) in Großbritannien. Das Werk von Adrian Lyne. Yuppies. Eine gewaltige, absurde Wendung im dritten Akt. Kokain. Gekochte Kaninchen. Sharon Stone. Unerträgliche Seherlebnisse auf dem Sofa mit den Eltern.«
Anfang der 80er Jahre kamen American Gigolo und Body Heat ins Kino, gegen Ende des Jahrzehnts Fatal Attraction, Indecent Proposal und etwas später Basic Instinct. Die Kinokassen klingelten.
Das Interesse sei wieder erwacht. Die Autorin verweist auf Karina Longworths großartigen Hollywood-Geschichts-Podcast You Must Remember This, dessen neueste Folge den »Erotic 80s« gewidmet ist. Longworth erinnert an den Moralismus unseres Zeitalters, der seinerzeit begann, mit dem Gegenwind gegen sexuelle Befreiung, dem Feminismus der zweiten Welle, der frühen Identitätspolitik, der Moral Majority.
Vor allem klagt der »Guardian« aber über den traurigen Zustand des modernen
Kinos, »das von familienfreundlichen Franchises beherrscht wird, die den Mid-Budget-Film verdrängen«.
Aber der Erotik-Thriller käme zurück. »Wie immer scheint das Fernsehen in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle zu spielen, mit einer durch und durch progressiven Einstellung zu Sex (die im Gegensatz zu den 80er und 90er Jahren bedeutet, dass wir männliche Nacktheit genauso häufig zeigen wie weibliche) in Serien wie 'Euphoria' und 'Normal People'.«
Dennoch gehört der erotische Thriller eigentlich auf die große Leinwand – in atemberaubendem Technicolor. Oder wie es im
»Guardian« heißt: »Komm' Kino, du willst es doch auch!«
+ + +
Tatsächlich ist das Fernsehen auch bei uns weiter als das Kino. Nicht im Hinblick auf Erotikthriller, aber doch im Hinblick auf ästhetische Innovationen. Der deutsche Film traut sich selten Dinge, die wir im Fernsehen immer wieder mal sehen können und zwar nicht nur auf Streaming-Portalen, sondern auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Ein Beispiel dafür boten die beiden »Tatorte« vom vergangenen Sonntag bzw. Montag. Nicht, dass beide besonders gut gewesen wären – tatsächlich war der Göttingen-»Tatort« mit Maria Furtwängler so schlecht wie meistens, während der Frankfurter »Tatort« mit Margarita Broich und Wolfram Koch überraschend gelungen war.
Eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit: In beiden »Tatorten« sah man die jeweiligen Mordopfer über den ganzen Film hinweg immer wieder gewissermaßen aus dem Reich der Toten zu uns sprechen – genaugenommen auf Filmaufnahmen, die aber nicht erkennbar abgespielt wurden, sondern als eine Art Auto-Kommentar der Mordopfer parallel zur Handlung liefen. Gewissermaßen das Opfer zum Sprechen bringen – also geradezu ein politisch gewolltes Anliegen. Im einen Fall handelt es sich um
eine ermordete Influencerin, deren öffentliche Videonachrichten und später dann deren privates Video-Tagebuch ausschnittweise gezeigt wurden.
Im zweiten Fall handelt es sich um ein langes Interview, das die Tochter des späteren Mordopfers mit diesem geführt hatte.
Ich mag mich ja täuschen, aber als ich das sah, dachte ich: tolle Idee! So etwas habe ich im deutschen Kino noch nie gesehen. Korrekturen und Einwände können gerne per Mail an mich geschickt werden.
+ + +
Bei uns hat man ganz andere Sorgen, und so ist dann halt auch unser Kino: Eine Umfrage hat ergeben, dass es den Wunsch nach deutlich weniger Fleisch am Filmset gebe.
»Eine große Umfrage von Changemakers.film und Crew United kommt zu dem Ergebnis, dass eine Mehrheit von Filmschaffenden am Set kein Fleisch aus konventioneller Tierhaltung essen will. Über 80% der Befragten findet es ausreichend, wenn es nur einmal in der Woche Fleisch gibt, dafür aber in Bioqualität.«
Wenn man das liest, fragt man sich natürlich: Wenn sie es nicht essen wollen, warum tun sie es dann? Müssen sie doch nicht. Offenbar gibt es aber 20% der Befragten, also immerhin jeden Fünften, die täglich am Filmset Fleisch essen wollen oder zumindest mehrfach in der Woche und auch Fleisch, das nicht Bio ist.
Man könnte dann ja einfach beiden Gruppen die Möglichkeit geben, genau das zu essen, was sie essen möchten. So etwas nennt man Toleranz.
+ + +
Es ist bemerkenswert, dass eine Branche, die sonst immer sehr darauf hält, Minderheiten zu achten und zu schützen, im Fall der scheinbar vorhandenen Minderheit der nicht seltenen Fleischesser auf deren Bedürfnisse überhaupt keine Rücksicht zu nehmen.
+ + +
Sowieso ist der grassierende Geist des Puritanismus und der Lust am korrekten Verhalten, politisch und ethisch in Frage zu stellen. Ästhetisch sowieso. Allemal muss man auch fragen, ob Verzicht eigentlich überhaupt ein so korrektes Verhalten ist, also richtig im Sinne der Sache, die man erreichen möchte. In der FAZ schreibt Fred Luks, ein Ökonom und »Nachhaltigkeitsforscher« (wie wir alle) dazu ein »Lob der Verschwendung«.
Luks verweist auf Georges Batailles Anti-Ökonomie. Batailles »Überlegungen zu Vergeudung und Ökonomie sind in unserer Zeit weder kurios noch nutzlos. ... Insbesondere seine Betonung 'sinnloser' Tätigkeiten und verschwenderischer Aktivität kann man als schöne Ergänzung zur Nachhaltigkeitsdebatte mit ihrer Betonung von Effizienz, Verzicht und Sparsamkeit interpretieren. Batailles Texte kreisen zum Beispiel um Ausschweifung und Tod: um Dinge also, die sich gegen utilitaristische Erwägungen sperren. Bataille beschreibt den menschlichen Drang, jenseits des nützlichen Handelns souverän zu leben.«
Luks widerspricht vehement all den Verzicht-Predigern und vor allem den Leuten, die sagen, dass Verzicht alternativlos sei. Es gibt immer Alternativen zu russischem Gas, ebenso wie zum »Frieren für die Ukraine«. Der Autor schreibt: »Gerade in einer Gesellschaft, die angesichts der gegenwärtigen Bedrohungen mit der Aussicht auf Wohlstandsverluste konfrontiert ist, muss die Großzügigkeit gerettet werden. Diese Tugend in Zeiten von Fachkräftemangel, Materialknappheit, steigenden Preisen, 'Corona-Engpässen', weltweiten Lieferschwierigkeiten, ökologisch motivierten Maßhalteappellen und dem Krieg mitten in Europa als etwas Erstrebenswertes zu sehen, mag kühn und ein wenig naiv erscheinen. Aber gerade im aktuellen Desaster ist es geradezu lebensnotwendig, sich auf die Suche nach Ideen und Haltungen zu machen, die nicht bloß darauf hinauslaufen, dass wir weiter so wie bisher handeln, nur eben effizienter. Und dass wir dabei auf ein paar scheinbar überflüssige Dinge zu verzichten lernen.«
Verschwendung sei also ein Faktor für die Krisenfestigkeit einer Gesellschaft.
Daneben gibt es aber noch einen anderen, wichtigeren Grund für die Verteidigung der Verschwendung: Es ist die Einsicht, dass ohne Exzesse und Verschwendung ein gutes Leben nicht möglich ist. Gerade in unserer gegenwärtigen Lage müssen wir die viel zu vielen guten Menschen da draußen daran erinnern, dass Verzicht meistens lustfremd, lebensfeindlich und unsinnlich ist. Zu den Menschenrechten gehörten auch Exzess und Verschwendung.
+ + +
Die erwähnte Filmfleisch-Meldung behauptet weiter: »Das Thema Fleischkonsum wird auch in der Filmbranche sehr emotional diskutiert. 42,1 Prozent aller Teilnehmer gaben an, bereits gar kein Fleisch mehr zu essen.« Man fragt sich, warum die eigentlich über Fleisch am Set mitabstimmen sollten, denn diese Frage betrifft sie ja gar nicht. Ärgerlich ist, dass hier wieder mal »bewusstere und gesündere« Ernährung mit »vegetarischen und veganen Produkten« zusammengedacht wird, was
wissenschaftlicher Humbug ist.
Wichtiger aber ist, dass diese nicht-wissenschaftliche Umfrage einmal mehr beweist, wie wenig repräsentativ die Filmszene für die Gesamtbevölkerung ist.
(to be continued)