21.04.2022
Cinema Moralia – Folge 272

»Komm' Kino, Du willst es doch auch!«

The Northman
Beispiel für die umfassende Humorlosigkeit unseres Zeitalters: The Northman
(Foto: Universal)

Nie gab es eine Epoche der Kinogeschichte, die humorloser war als die jetzige. Kinofilme nehmen sich heute allesamt viel zu ernst. Außerdem ein immer wieder aktuelles 'Lob der Verschwendung' – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 272. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Das ist kein schönes Leben ohne ... ein Orchester, ohne ein Theater, ohne all das Über­flüs­sige. Wozu lebt man denn? Doch nicht für das, was zweck­mäßig ist. Sondern für das, was darüber hinaus­geht, für die Momente, die eben nicht aufgehen in irgend einem betriebs­wirt­schaft­li­chen Nutzen.«
- Navid Kermani, FAZ vom 26.03.2021

Vor einigen Tagen lief mal wieder Some Like It Hot von Billy Wilder auf 3sat. Da fiel mir auf, dass dort ja relativ am Anfang ein Dutzend Menschen mit Maschi­nen­pis­tolen erschossen wird. Gangster zwar, aber immerhin doch Menschen. Trotzdem ist dieser Film nichts anderes als eine sehr, sehr alberne Komödie. Man macht da also gute Witze über den Tod von Menschen und über die Tatsache, dass bestimmte Leute andere ermorden möchten. Damals kein Problem, und dem Ruf von Billy Wilder hat es auch nicht geschadet. Das würden heute viele unserer moralisch empfind­li­chen Zeit­ge­nossen kaum ertragen, geschweige denn dass es durch die entspre­chenden Gremien ginge.

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Der morgen heraus­kom­mende Wikinger-Action-Rache-Film The Northman ist wieder mal ein Anlass, über die umfas­sende Humor­lo­sig­keit unseres Zeital­ters nach­zu­denken. Es geht jetzt gar nicht darum, dass Corona und Krieg gerade wenig Anlass zu Witzen bieten, sondern um Zeit­geist­phä­no­mene.

Die Filme, vor allem die Kinofilme, nehmen sich alle viel zu ernst! The Northman zum Beispiel meint alles todernst. Auf Humor wird in zwei­ein­halb Stunden komplett verzichtet. Schon das macht diesen Film nicht nur als solchen schwer erträg­lich, sondern zu einem sehr zeit­ge­mäßen Produkt unserer Gegenwart – und über diese Gegenwart wird man sich in späteren Zeiten sehr wundern. Denn nie gab es eine Epoche der Kino­ge­schichte, die humor­loser war als die jetzige.
Es geht immer weniger um Spie­le­reien, um persön­liche Leiden­schaften und Spleens der Macher, und immer mehr um Kontrolle. Statt mit dem Publikum in Dialog zu treten, soll es möglichst gesteuert werden.
Übrigens völlig egal ob es sich um Autoren­kino oder Block­buster handelt.

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Selbst die Belang­lo­sig­keiten sind von einer peniblen, spießigen Serio­sität gekenn­zeichnet. Nehmen wir zum Beispiel einen x-belie­bigen, aber typischen Zeitungs­be­richt über eine Film­pre­miere.
Das liest sich dann so: »Anya Taylor-Joy und Nicole Kidman haben bei der Premiere zu The Northman in Los Angeles alle Blicke auf sich gezogen. Dabei setzten sie auf schlichte Eleganz und funkelnden Glamour. Anya Taylor-Joy (26) und Nicole Kidman (54) ließen sich die Premiere zu ihrem neuen Film The Northman am vergan­genen Montag in Los Angeles nicht entgehen. Die Schau­spie­le­rinnen wurden mit konträren Looks zum Hingucker.
Kidman trug eine hoch­ge­schlos­sene Prada-Robe in Limet­ten­grün mit funkelnden Appli­ka­tionen am unteren Teil des Kleides. Zum Blickfang wurden die an den Schultern ange­brachten Federn in Koralle. Ihre Haare hatte sie sich locker zu einem Dutt zurück­ge­steckt, einzelne Strähnen umrahmten dabei ihr Gesicht. Bei den Acces­soires wählte sie eine silber­glän­zende Clutch und silberne Ohrste­cker sowie Ringe. Taylor-Joy setzte auf ein schlichtes Dior-Kleid in Weiß mit Neck­holder, das vor allem durch den fili­granen, mit Perlen bestickten Kragen zur Geltung kam. Ihre Haare waren zu einem Zopf geflochten und beim Make-up setzte sie auf schwarze Mascara. Ringe, Armband und Ohrste­cker in Weiß und Gold rundeten den eleganten Look ab.«

Ganz abgesehen davon, wie schlecht und spießig das alles geschrieben ist, bringt es einen wirklich zur Verzweif­lung, dass die Autoren das, was sie da erzählen, tatsäch­lich ernst meinen. Spürbar. Und dass sie offenbar glauben, dass die beiden Stars das ebenfalls ernst meinen. Berichtet wird nicht etwa über etwas Lustiges, über einen Über­schuss gegenüber dem realen Leben, sondern über etwas, das ähnlichen Arbeits- und Verwer­tungs­zwängen und ähnlichem Drang nach Effizienz und Opti­mie­rung unter­liegt, wie alles im Leben der ganz normalen Menschen. Diesen normalen Menschen waren Stars einmal entrückt – nicht nur durch den Preis ihrer Klamotten, sondern durch ihren Lebens­stil, durch ihre ganze Haltung. Man müsste sich einmal einen Zeitungs­ar­tikel aus den 20er Jahren durch­lesen, in irgend­einer ameri­ka­ni­schen Zeitung, deren öffent­li­ches Archiv weit genug zurück­reicht, dass man das wirklich machen kann, man müsste sich einmal diesen früheren Ton auf der Zunge zergehen lassen, um sich klar­zu­ma­chen, was wir – wir alle, unsere ganze Gesell­schaft – seitdem verloren haben: Eine Leich­tig­keit und Frivo­lität im Alltag, einen Witz und einen Esprit. Ein ganz normaler Mensch in den 20er Jahren war in seiner Sprache und in seinem Empfinden näher an einem F. Scott Fitz­ge­rald-Roman als an der oben zitierten Zeitungs­mel­dung.

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Am schlimmsten wäre es übrigens, wenn die Autoren dieser schreck­li­chen Meldung am Ende viel­leicht sogar noch wirklich Recht haben, und es auch Nicole Kidman und Anya Taylor-Joy tatsäch­lich alles ernst meinen. Ich kann das nicht glauben!

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Im »Guardian« zumindest scheinen einige Autoren etwas Ähnliches zu vermissen wie ich: Exzess, Leich­tig­keit, Humor, Witz, Sünde, schöne Amoral.
Gerade erschienen ist dort ein Text, in dem sich eine Autorin nach dem Erotik­thriller früherer Zeiten zurück­sehnt. »Why we should turn up the heat and revive the erotic thriller« schreibt dort Gwilym Mumford:
»Der Begriff 'erotic thriller' ruft sofort alle möglichen Gedanken und Bilder hervor, die man sich vorstellen kann. Zwei-Wort-Titel, die in einer vage bedroh­li­chen roten Schrift prangen. Michael Douglas auf Michael Douglas-Art. R-Rating in den USA, ein 15er-Zerti­fikat (oder 18, wenn es richtig pikant wird) in Groß­bri­tan­nien. Das Werk von Adrian Lyne. Yuppies. Eine gewaltige, absurde Wendung im dritten Akt. Kokain. Gekochte Kaninchen. Sharon Stone. Uner­träg­liche Seherleb­nisse auf dem Sofa mit den Eltern.«
Anfang der 80er Jahre kamen American Gigolo und Body Heat ins Kino, gegen Ende des Jahrzehnts Fatal Attrac­tion, Indecent Proposal und etwas später Basic Instinct. Die Kinokassen klingelten.

Das Interesse sei wieder erwacht. Die Autorin verweist auf Karina Longworths groß­ar­tigen Hollywood-Geschichts-Podcast You Must Remember This, dessen neueste Folge den »Erotic 80s« gewidmet ist. Longworth erinnert an den Mora­lismus unseres Zeital­ters, der seiner­zeit begann, mit dem Gegenwind gegen sexuelle Befreiung, dem Femi­nismus der zweiten Welle, der frühen Iden­ti­täts­po­litik, der Moral Majority.
Vor allem klagt der »Guardian« aber über den traurigen Zustand des modernen Kinos, »das von fami­li­en­freund­li­chen Fran­chises beherrscht wird, die den Mid-Budget-Film verdrängen«.

Aber der Erotik-Thriller käme zurück. »Wie immer scheint das Fernsehen in dieser Hinsicht eine Vorrei­ter­rolle zu spielen, mit einer durch und durch progres­siven Einstel­lung zu Sex (die im Gegensatz zu den 80er und 90er Jahren bedeutet, dass wir männliche Nacktheit genauso häufig zeigen wie weibliche) in Serien wie 'Euphoria' und 'Normal People'.«
Dennoch gehört der erotische Thriller eigent­lich auf die große Leinwand – in atem­be­rau­bendem Tech­ni­color. Oder wie es im »Guardian« heißt: »Komm' Kino, du willst es doch auch!«

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Tatsäch­lich ist das Fernsehen auch bei uns weiter als das Kino. Nicht im Hinblick auf Erotik­thriller, aber doch im Hinblick auf ästhe­ti­sche Inno­va­tionen. Der deutsche Film traut sich selten Dinge, die wir im Fernsehen immer wieder mal sehen können und zwar nicht nur auf Streaming-Portalen, sondern auch im öffent­lich-recht­li­chen Fernsehen. Ein Beispiel dafür boten die beiden »Tatorte« vom vergan­genen Sonntag bzw. Montag. Nicht, dass beide besonders gut gewesen wären – tatsäch­lich war der Göttingen-»Tatort« mit Maria Furt­wängler so schlecht wie meistens, während der Frank­furter »Tatort« mit Margarita Broich und Wolfram Koch über­ra­schend gelungen war.

Eine bemer­kens­werte Gemein­sam­keit: In beiden »Tatorten« sah man die jewei­ligen Mordopfer über den ganzen Film hinweg immer wieder gewis­ser­maßen aus dem Reich der Toten zu uns sprechen – genau­ge­nommen auf Film­auf­nahmen, die aber nicht erkennbar abge­spielt wurden, sondern als eine Art Auto-Kommentar der Mordopfer parallel zur Handlung liefen. Gewis­ser­maßen das Opfer zum Sprechen bringen – also geradezu ein politisch gewolltes Anliegen. Im einen Fall handelt es sich um eine ermordete Influen­cerin, deren öffent­liche Video­nach­richten und später dann deren privates Video-Tagebuch ausschnitt­weise gezeigt wurden.
Im zweiten Fall handelt es sich um ein langes Interview, das die Tochter des späteren Mord­op­fers mit diesem geführt hatte.
Ich mag mich ja täuschen, aber als ich das sah, dachte ich: tolle Idee! So etwas habe ich im deutschen Kino noch nie gesehen. Korrek­turen und Einwände können gerne per Mail an mich geschickt werden.

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Bei uns hat man ganz andere Sorgen, und so ist dann halt auch unser Kino: Eine Umfrage hat ergeben, dass es den Wunsch nach deutlich weniger Fleisch am Filmset gebe.
»Eine große Umfrage von Chan­ge­ma­kers.film und Crew United kommt zu dem Ergebnis, dass eine Mehrheit von Film­schaf­fenden am Set kein Fleisch aus konven­tio­neller Tier­hal­tung essen will. Über 80% der Befragten findet es ausrei­chend, wenn es nur einmal in der Woche Fleisch gibt, dafür aber in Bioqua­lität.«

Wenn man das liest, fragt man sich natürlich: Wenn sie es nicht essen wollen, warum tun sie es dann? Müssen sie doch nicht. Offenbar gibt es aber 20% der Befragten, also immerhin jeden Fünften, die täglich am Filmset Fleisch essen wollen oder zumindest mehrfach in der Woche und auch Fleisch, das nicht Bio ist.
Man könnte dann ja einfach beiden Gruppen die Möglich­keit geben, genau das zu essen, was sie essen möchten. So etwas nennt man Toleranz.

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Es ist bemer­kens­wert, dass eine Branche, die sonst immer sehr darauf hält, Minder­heiten zu achten und zu schützen, im Fall der scheinbar vorhan­denen Minder­heit der nicht seltenen Fleisch­esser auf deren Bedürf­nisse überhaupt keine Rücksicht zu nehmen.

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Sowieso ist der gras­sie­rende Geist des Puri­ta­nismus und der Lust am korrekten Verhalten, politisch und ethisch in Frage zu stellen. Ästhe­tisch sowieso. Allemal muss man auch fragen, ob Verzicht eigent­lich überhaupt ein so korrektes Verhalten ist, also richtig im Sinne der Sache, die man erreichen möchte. In der FAZ schreibt Fred Luks, ein Ökonom und »Nach­hal­tig­keits­for­scher« (wie wir alle) dazu ein »Lob der Verschwen­dung«.

Luks verweist auf Georges Batailles Anti-Ökonomie. Batailles »Über­le­gungen zu Vergeu­dung und Ökonomie sind in unserer Zeit weder kurios noch nutzlos. ... Insbe­son­dere seine Betonung 'sinnloser' Tätig­keiten und verschwen­de­ri­scher Aktivität kann man als schöne Ergänzung zur Nach­hal­tig­keits­de­batte mit ihrer Betonung von Effizienz, Verzicht und Spar­sam­keit inter­pre­tieren. Batailles Texte kreisen zum Beispiel um Ausschwei­fung und Tod: um Dinge also, die sich gegen utili­ta­ris­ti­sche Erwä­gungen sperren. Bataille beschreibt den mensch­li­chen Drang, jenseits des nütz­li­chen Handelns souverän zu leben.«

Luks wider­spricht vehement all den Verzicht-Predigern und vor allem den Leuten, die sagen, dass Verzicht alter­na­tivlos sei. Es gibt immer Alter­na­tiven zu russi­schem Gas, ebenso wie zum »Frieren für die Ukraine«. Der Autor schreibt: »Gerade in einer Gesell­schaft, die ange­sichts der gegen­wär­tigen Bedro­hungen mit der Aussicht auf Wohl­stands­ver­luste konfron­tiert ist, muss die Groß­zü­gig­keit gerettet werden. Diese Tugend in Zeiten von Fach­kräf­te­mangel, Mate­ri­al­knapp­heit, stei­genden Preisen, 'Corona-Engpässen', welt­weiten Liefer­schwie­rig­keiten, ökolo­gisch moti­vierten Maßhal­te­ap­pellen und dem Krieg mitten in Europa als etwas Erstre­bens­wertes zu sehen, mag kühn und ein wenig naiv erscheinen. Aber gerade im aktuellen Desaster ist es geradezu lebens­not­wendig, sich auf die Suche nach Ideen und Haltungen zu machen, die nicht bloß darauf hinaus­laufen, dass wir weiter so wie bisher handeln, nur eben effi­zi­enter. Und dass wir dabei auf ein paar scheinbar über­flüs­sige Dinge zu verzichten lernen.«

Verschwen­dung sei also ein Faktor für die Krisen­fes­tig­keit einer Gesell­schaft.

Daneben gibt es aber noch einen anderen, wich­ti­geren Grund für die Vertei­di­gung der Verschwen­dung: Es ist die Einsicht, dass ohne Exzesse und Verschwen­dung ein gutes Leben nicht möglich ist. Gerade in unserer gegen­wär­tigen Lage müssen wir die viel zu vielen guten Menschen da draußen daran erinnern, dass Verzicht meistens lustfremd, lebens­feind­lich und unsinn­lich ist. Zu den Menschen­rechten gehörten auch Exzess und Verschwen­dung.

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Die erwähnte Film­fleisch-Meldung behauptet weiter: »Das Thema Fleisch­konsum wird auch in der Film­branche sehr emotional disku­tiert. 42,1 Prozent aller Teil­nehmer gaben an, bereits gar kein Fleisch mehr zu essen.« Man fragt sich, warum die eigent­lich über Fleisch am Set mitab­stimmen sollten, denn diese Frage betrifft sie ja gar nicht. Ärgerlich ist, dass hier wieder mal »bewuss­tere und gesündere« Ernährung mit »vege­ta­ri­schen und veganen Produkten« zusam­men­ge­dacht wird, was wissen­schaft­li­cher Humbug ist.
Wichtiger aber ist, dass diese nicht-wissen­schaft­liche Umfrage einmal mehr beweist, wie wenig reprä­sen­tativ die Filmszene für die Gesamt­be­völ­ke­rung ist.

(to be continued)