Cinema Moralia – Folge 275
Der Sommer, in dem das deutsche Kino starb |
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Vom 10.-12. Juni gibt es in München Fassbinders »Berlin Alexanderplatz« im Kino zu sehen | ||
(Foto: Berlin Alexanderplatz mit Günther Lamprecht und Elisabeth Trissenaar © 2007, Bavaria Media, Karl Reiter © 1982, Ulrich Handl) |
»Wenn ich das Bewusstsein des Einzelnen revolutioniere, verändere, dann wird man letztlich auch die Gesellschaft verändern. Das ist meiner Ansicht nach der richtige Weg, das Bewusstsein des Einzelnen, na ja, aufzuklären oder klarer zu gestalten.«
Rainer Werner Fassbinder
Auf das »Cinema Moralia« letzte Woche (»Was ist (gute) Filmkritik?«) gab es besonders viel und zumeist positive private Resonanz. Danke dafür, auch für die vielen inhaltlichen Anregungen! Wo noch nicht geschehen, werden die E-Mails beantwortet.
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Das Thema wird uns weiter verfolgen. Gegenwart und Zukunft der Kritik und die Frage, wie weit die Erinnerungen an bessere Vergangenheiten zu einer Renaissance der Kritik – insbesondere auch ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutung – beitragen könnten, haben viele Facetten, die wir hier in den nächsten Monaten weiter entfalten wollen. Auch aus konkretem Anlass. Dazu bei Gelegenheit mehr.
Manche Bereiche dieses Themas gehen allerdings weit über die Frage
der Kritik und die Befindlichkeit der Kritiker hinaus. Man könnte zum Beispiel mit der Frage nach dem Sinn von Filmfestivals beginnen, egal ob Cannes oder München. Hier haben Filmkritiker eine Funktion, die sich nicht im Bewerten eines Programms und in Urteilen über einzelne Filme erschöpft. Und schon gar nicht in der Abgleichung eines Festivals an der Schablone der aktuellen Politik. Also daran, wie viel Filme von Corona handeln oder welche Rolle der Klimawandel spielt, oder ob die
russischen Filme im Programm sich auch weit genug von Putin absetzen.
Beim nachträglichen Studium der Berichte über das Cannes-Filmfestival habe ich mich über die vielen Forderungen an das Festival geärgert und über das Einfordern von allem Möglichen, was das Festival angeblich nicht tut.
Es scheint mir zielführender, mal darüber zu reden, was da alles für Filme laufen und wie sie präsentiert werden, und welche Rolle diese Filme im Programm des Jahres spielen.
Allein in dieser und der letzten Woche kommen drei Filme aus der »Offiziellen Selektion« des vergangenen Jahres ins Kino. Und sie werden positiv besprochen von den gleichen Leuten, die das Festival, das sie zeigt, negativ besprechen. Dieser Widerspruch wäre gelegentlich von den Akteuren aufzuklären.
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Vor 40 Jahren, am 10. Juni 1982, starb Rainer Werner Fassbinder, mit gerade 37 Jahren. »Keiner, nicht einmal die alten Hollywood-Profis, hat in so kurzer Zeit so viele Filme gemacht«, schrieb Peter Buchka in seinem wunderschönen, gar nicht erkennbar erschütterten SZ-Nachruf am Tag darauf: »Er wußte, daß er keine Zeit hatte, gleichgültig, wie lange sein Leben währte. Daß es nur kurz sein würde, hat er geahnt. Er nahm es in Kauf. Ganz bewußt hat er mit seiner Lebenszeit, seiner Lebenskraft Raubbau getrieben: Es mußte so vieles gemacht und gesagt werden. Was er tat, tat er hundertfünfzigprozentig: Arbeiten, leben, lieben. Das ging nicht ganz ohne Aufputschmittel, was den Teufelskreis noch verstärkte. Fassbinder aber scherte sich darum nicht. Er arbeitete wie ein Besessener.«
Schon 12 Tage zuvor, am 29. Mai 1982, war in Paris Romy Schneider gestorben. »An gebrochenem Herzen.« In der SZ stand der Nachruf auf Seite 3, und stammte vom Paris-Korrespondenten Rudolf Chimelli. Nichts dagegen im Feuilleton! Warum? möchte man die Verantwortlichen noch nach 40 Jahren fragen.
Eine Woche später, am 18. Juni 1982, starb Curd Jürgens, mit 66 Jahren – auch das ist kein Alter. Buchka schrieb zu ihm: »Er war nun einmal, jedenfalls vor Romy Schneider, der einzige Weltstar, den der deutsche Nachkriegsfilm hervorgebracht hat; der einzige, der das Provinzielle abgeschüttelt hatte, der etwas Weltmännisches ausstrahlte.«
Wer kennt ihn heute überhaupt noch, wer seine Rollen, seine Filme?
In 160 Spielfilmen bewies er sein Gefühl dafür, wie er auf der Leinwand wirkte. Er hatte jene schwer definierbare, vor allem unerlernbare Starqualität. Wo er auftauchte, war er sofort Mittelpunkt, da versanken alle andern sofort in die Rollen von Statisten.
Nochmal Buchkas Nachruf: »Da man in Deutschland von Schauspielerei so gut wie nichts versteht – die Kritik nicht ausgenommen –, war er bei uns eher ein gesellschaftliches Phänomen denn ein wirklich ernstgenommener Künstler. Curd Jürgens hat sich dem, trotz mancher selbstironischer Einsichten, nicht unwillig gebeugt, obwohl er auch immer mit Anstrengung versucht hat, dem Klischee zu entrinnen.«
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R.W. Fassbinder, Romy Schneider, Curd Jürgens – drei Namen, die für drei Zeitalter und drei Stile des westdeutschen Nachkriegskinos stehen. So verschieden, wie gleichbedeutend wichtig; nicht nur für den damaligen Weltruhm dieses Kinos. Auch weil sie die Dimension des Mediums deutlich machen, verschiedene Formen von Star-Ruhm, von persönlicher Handschrift.
Bald danach ging es mit dem deutschen Kino bergab. Alexander Kluge begann Fernsehen zu machen; die Filme von Wenders wurden schlechter und bedeutungsloser; Volker Schlöndorff war schon in den USA; Werner Herzog folgte ihm bald und begann sich spätestens nach dem Tod von Kinski vollkommen neu zu erfinden. Als ob ohne Fassbinder, aber auch ohne die anderen, die Phantasie aller plötzlich ausgetrocknet war, und sie das Kino, jedenfalls das deutsche, sich nicht mehr vorstellen konnten.
Hat es sich erholt? Wirklich? Ich kann das nicht sehen. Gibt es das überhaupt, »das deutsche Kino«? Der Sommer 1982 war der Sommer, in dem das deutsche Kino starb.
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Medienkritik in den Medien übt diese Woche Michael Angele im »Freitag«. Ein Fazit steht bereits in der Unterzeile: »Nicht die eine große Lüge, sondern die vielen kleinen Risse im Gebälk der seriösen Presse bereiten Unbehagen – gerade im Ukraine-Krieg«.
Angele verweist auf die schon länger bekannte und professionelle Beobachter kaum überraschende Studie der »Otto Brenner Stiftung« von 2017. Deren Kernaussage, so der Leiter der Studie, Michael Haller: »Statt als neutrale Beobachter die Politik und deren Vollzugsorgane kritisch zu begleiten (…), übernahm der Informationsjournalismus die Sicht (…) der politischen Elite.«
Die in dieser Zeit erfolgte »Frontenbildung ... entlang von Alternativ- und
Mainstream-Medien« habe sich, so Angele, in den letzten Jahren fortgesetzt. Der »Freitag«-Redakteur spricht von einer »desintegrativen Wirkung der Medien auf die Gesellschaft«. Im derzeitigen Ukraine-Krieg fühle sich »der skeptische Geist unbehaust.« Er konsumiere zwar, schon weil er informiert werden will, spiegel.de oder faz.net, aber ganz wohl sei ihm dabei nicht. »Mein Gefühl sagt mir, dass dieses Unbehagen verbreitet ist, es stützt sich auf Gespräche im Freundes- und
Kollegenkreis, aber mangels solider Datenbasis muss ich dann doch von mir selbst sprechen.«
Das Misstrauen, »das ich für einen wichtigen Impuls eines Journalisten halte«, sei gegenüber den Angegriffenen zu wenig ausgeprägt. Angele stellt eine Frage, die jeder von uns Berichterstattern, nicht nur in der Politikberichterstattung, sich selber regelmäßig stellen sollte: »Müssten Journalisten verständlichen Impulsen nicht stärker widerstehen?« Sollten sie sich nicht auf das
Rollenverständnis des neutralen Beobachters und kritischen Begleiters der Mächtigen rückbesinnen? Ein solches Verständnis »würde heute«, so Angele, »wenn nicht skandalisiert, so doch als unzeitgemäß empfunden. Die meisten Journalisten sind Partei.«
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Interessant in dem Zusammenhang war auch der Auftritt des US-amerikanischen Linguisten John McWhorter. McWhorter ist schwarz und einer der eher wenigen Universitätsdozenten, die derzeit offen Stellung gegen die an US-Universitäten zur Zeit dominierende, »ganze Wissenschaften infizierende« Identitätspolitik beziehen. Sein Buch »Woke Racism«, das gerade auf Deutsch erschienen ist, beschreibt das, was der Autor eine »neue Religion« nennt: Die Aufklärungsfeindschaft einer kleinen Gruppe von Selbstgerechten, die aus ihrem Umgang mit identitätspolitischen Fragen ein Dogma erklären und allen Kritikern mit Shitstorms, Beleidungsklagen und oft genug Berufsverbot drohen. John McWhorter spricht von Neorassismus, der die Integration um Jahrzehnte zurückwerfe. Dieser »woke Rassismus« mag benevolent gemeint sein, schade aber vor allem den Schwarzen Amerikas und nutze der weißen akademischen Elite, argumentierte McWhorter in Berlin.
Aufschlussreich für das Verhalten der Medien war aber eine andere Passage seines Vortrags. McWhorter ist nämlich auch seit einigen Jahren Kolumnist der »New York Times«, des publizistischen Aushängeschilds der linksliberalen USA.
»Dort bin ich ein Außenseiter«, sagte er, »und vermutlich könnte ich, hätte ich eine weiße Hautfarbe, das nicht schreiben, was ich in meiner Kolumne schreibe. Ich weiß, dass viele meiner Gedanken die von den 'Wokies' dominierte Redaktion der 'New York Times' stören, oder ihnen zumindest unbequem sind und sie in ihrer Sensibilität 'beunruhigen'. Zugleich lassen sie mich dort schreiben, um ihre Toleranz zu demonstrieren.«
Aber dass sie seine Texte anders behandelten als die anderer
Autoren könne man ganz einfach daran sehen, dass es bei jeder seiner Kolumnen »viel mehr Fact-Checking gibt als bei anderen Autoren.« Noch nie habe man einen Artikel zurückgewiesen – aber die Redaktion der »New York Times« habe viele seiner Aussagen mit Fußnoten und Belegen versehen – eine Praxis, die sie bei anderen Autoren seltener an den Tag legten –, um sich gewissermaßen gegenüber potentiellen Vorwürfen der »Wokies« abzusichern.
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Die Probleme von FAS-Lesern zeigen sich in einer Titelzeile des vergangenen Sonntags: »Wie soll ich jetzt 10.000 € anlegen?« Ja, das frage ich mich auch. Ich weiß auch nicht, wie ich 10.000 Euro anlegen soll. Denn ich habe gar keine 10.000 Euro zum Anlegen übrig. Weitere Probleme der FAS-Leser: »Das wilde Schenken.«
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Unter einem Spiegel-Online-Text zu der Wahl auf den Philippinen lese ich: »Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft. Unter dem Titel 'Globale Gesellschaft' berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt. Ein ausführliches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.«
Was soll dieser prätentiöse Schmarrn? Früher gab es einfach Auslandsberichterstattung. Da berichteten Reporter auch aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa, sogar aus Nordamerika, Australien und der Antarktis und – man höre und staune – auch über Ungerechtigkeiten in der Welt, über Herausforderungen aller Art und über Entwicklung. Offenbar gibt es das in dem Umfang beim Spiegel nicht mehr und man muss sich seine Reportagen von US-Milliardären bezahlen
lassen.
Oder geht es um Tendenzjournalismus?
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Mit Fassbinders oben zitierter Äußerung ist klar benannt, worum es geht, und worum es dem Kino, nicht nur in Deutschland einmal ging: Revolution des Bewusstseins, Aufklärung, Veränderung der Gesellschaft. Das Kino wollte nicht so dumm sein wie der Rest der Gesellschaft; es wusste, dass es klüger war, und es stand dazu. Es war Elite, aber nicht elitär. Für die Filmkritik galt das selbstverständlich auch.
(to be continued)