09.06.2022
Cinema Moralia – Folge 275

Der Sommer, in dem das deutsche Kino starb

Berlin Alexanderplatz
Vom 10.-12. Juni gibt es in München Fassbinders »Berlin Alexanderplatz« im Kino zu sehen
(Foto: Berlin Alexanderplatz mit Günther Lamprecht und Elisabeth Trissenaar © 2007, Bavaria Media, Karl Reiter © 1982, Ulrich Handl)

Plötzlicher Filmtod: Vor 40 Jahren verlor das Kino der Bundesrepublik drei seiner zentralen Leitfiguren. Außerdem ein paar Beobachtungen zu Filmkritik und Medien in Deutschland und den USA – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 275. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Wenn ich das Bewusst­sein des Einzelnen revo­lu­tio­niere, verändere, dann wird man letztlich auch die Gesell­schaft verändern. Das ist meiner Ansicht nach der richtige Weg, das Bewusst­sein des Einzelnen, na ja, aufzu­klären oder klarer zu gestalten.«
Rainer Werner Fass­binder

Auf das »Cinema Moralia« letzte Woche (»Was ist (gute) Film­kritik?«) gab es besonders viel und zumeist positive private Resonanz. Danke dafür, auch für die vielen inhalt­li­chen Anre­gungen! Wo noch nicht geschehen, werden die E-Mails beant­wortet.

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Das Thema wird uns weiter verfolgen. Gegenwart und Zukunft der Kritik und die Frage, wie weit die Erin­ne­rungen an bessere Vergan­gen­heiten zu einer Renais­sance der Kritik – insbe­son­dere auch ihrer gesell­schaft­li­chen und kultu­rellen Bedeutung – beitragen könnten, haben viele Facetten, die wir hier in den nächsten Monaten weiter entfalten wollen. Auch aus konkretem Anlass. Dazu bei Gele­gen­heit mehr.
Manche Bereiche dieses Themas gehen aller­dings weit über die Frage der Kritik und die Befind­lich­keit der Kritiker hinaus. Man könnte zum Beispiel mit der Frage nach dem Sinn von Film­fes­ti­vals beginnen, egal ob Cannes oder München. Hier haben Film­kri­tiker eine Funktion, die sich nicht im Bewerten eines Programms und in Urteilen über einzelne Filme erschöpft. Und schon gar nicht in der Abglei­chung eines Festivals an der Schablone der aktuellen Politik. Also daran, wie viel Filme von Corona handeln oder welche Rolle der Klima­wandel spielt, oder ob die russi­schen Filme im Programm sich auch weit genug von Putin absetzen.
Beim nach­träg­li­chen Studium der Berichte über das Cannes-Film­fes­tival habe ich mich über die vielen Forde­rungen an das Festival geärgert und über das Einfor­dern von allem Möglichen, was das Festival angeblich nicht tut.
Es scheint mir ziel­füh­render, mal darüber zu reden, was da alles für Filme laufen und wie sie präsen­tiert werden, und welche Rolle diese Filme im Programm des Jahres spielen.

Allein in dieser und der letzten Woche kommen drei Filme aus der »Offi­zi­ellen Selektion« des vergan­genen Jahres ins Kino. Und sie werden positiv bespro­chen von den gleichen Leuten, die das Festival, das sie zeigt, negativ bespre­chen. Dieser Wider­spruch wäre gele­gent­lich von den Akteuren aufzu­klären.

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Vor 40 Jahren, am 10. Juni 1982, starb Rainer Werner Fass­binder, mit gerade 37 Jahren. »Keiner, nicht einmal die alten Hollywood-Profis, hat in so kurzer Zeit so viele Filme gemacht«, schrieb Peter Buchka in seinem wunder­schönen, gar nicht erkennbar erschüt­terten SZ-Nachruf am Tag darauf: »Er wußte, daß er keine Zeit hatte, gleich­gültig, wie lange sein Leben währte. Daß es nur kurz sein würde, hat er geahnt. Er nahm es in Kauf. Ganz bewußt hat er mit seiner Lebens­zeit, seiner Lebens­kraft Raubbau getrieben: Es mußte so vieles gemacht und gesagt werden. Was er tat, tat er hundert­fünf­zig­pro­zentig: Arbeiten, leben, lieben. Das ging nicht ganz ohne Aufputsch­mittel, was den Teufels­kreis noch vers­tärkte. Fass­binder aber scherte sich darum nicht. Er arbeitete wie ein Beses­sener.«

Schon 12 Tage zuvor, am 29. Mai 1982, war in Paris Romy Schneider gestorben. »An gebro­chenem Herzen.« In der SZ stand der Nachruf auf Seite 3, und stammte vom Paris-Korre­spon­denten Rudolf Chimelli. Nichts dagegen im Feuil­leton! Warum? möchte man die Verant­wort­li­chen noch nach 40 Jahren fragen.

Eine Woche später, am 18. Juni 1982, starb Curd Jürgens, mit 66 Jahren – auch das ist kein Alter. Buchka schrieb zu ihm: »Er war nun einmal, jeden­falls vor Romy Schneider, der einzige Weltstar, den der deutsche Nach­kriegs­film hervor­ge­bracht hat; der einzige, der das Provin­zi­elle abge­schüt­telt hatte, der etwas Welt­män­ni­sches ausstrahlte.«

Wer kennt ihn heute überhaupt noch, wer seine Rollen, seine Filme?

In 160 Spiel­filmen bewies er sein Gefühl dafür, wie er auf der Leinwand wirkte. Er hatte jene schwer defi­nier­bare, vor allem uner­lern­bare Star­qua­lität. Wo er auftauchte, war er sofort Mittel­punkt, da versanken alle andern sofort in die Rollen von Statisten.

Nochmal Buchkas Nachruf: »Da man in Deutsch­land von Schau­spie­lerei so gut wie nichts versteht – die Kritik nicht ausge­nommen –, war er bei uns eher ein gesell­schaft­li­ches Phänomen denn ein wirklich ernst­ge­nom­mener Künstler. Curd Jürgens hat sich dem, trotz mancher selbst­iro­ni­scher Einsichten, nicht unwillig gebeugt, obwohl er auch immer mit Anstren­gung versucht hat, dem Klischee zu entrinnen.«

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R.W. Fass­binder, Romy Schneider, Curd Jürgens – drei Namen, die für drei Zeitalter und drei Stile des west­deut­schen Nach­kriegs­kinos stehen. So verschieden, wie gleich­be­deu­tend wichtig; nicht nur für den damaligen Weltruhm dieses Kinos. Auch weil sie die Dimension des Mediums deutlich machen, verschie­dene Formen von Star-Ruhm, von persön­li­cher Hand­schrift.

Bald danach ging es mit dem deutschen Kino bergab. Alexander Kluge begann Fernsehen zu machen; die Filme von Wenders wurden schlechter und bedeu­tungs­loser; Volker Schlön­dorff war schon in den USA; Werner Herzog folgte ihm bald und begann sich spätes­tens nach dem Tod von Kinski voll­kommen neu zu erfinden. Als ob ohne Fass­binder, aber auch ohne die anderen, die Phantasie aller plötzlich ausge­trocknet war, und sie das Kino, jeden­falls das deutsche, sich nicht mehr vorstellen konnten.

Hat es sich erholt? Wirklich? Ich kann das nicht sehen. Gibt es das überhaupt, »das deutsche Kino«? Der Sommer 1982 war der Sommer, in dem das deutsche Kino starb.

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Medi­en­kritik in den Medien übt diese Woche Michael Angele im »Freitag«. Ein Fazit steht bereits in der Unter­zeile: »Nicht die eine große Lüge, sondern die vielen kleinen Risse im Gebälk der seriösen Presse bereiten Unbehagen – gerade im Ukraine-Krieg«.

Angele verweist auf die schon länger bekannte und profes­sio­nelle Beob­achter kaum über­ra­schende Studie der »Otto Brenner Stiftung« von 2017. Deren Kern­aus­sage, so der Leiter der Studie, Michael Haller: »Statt als neutrale Beob­achter die Politik und deren Voll­zugs­or­gane kritisch zu begleiten (…), übernahm der Infor­ma­ti­ons­jour­na­lismus die Sicht (…) der poli­ti­schen Elite.«
Die in dieser Zeit erfolgte »Fron­ten­bil­dung ... entlang von Alter­nativ- und Main­stream-Medien« habe sich, so Angele, in den letzten Jahren fort­ge­setzt. Der »Freitag«-Redakteur spricht von einer »desin­te­gra­tiven Wirkung der Medien auf die Gesell­schaft«. Im derzei­tigen Ukraine-Krieg fühle sich »der skep­ti­sche Geist unbehaust.« Er konsu­miere zwar, schon weil er infor­miert werden will, spiegel.de oder faz.net, aber ganz wohl sei ihm dabei nicht. »Mein Gefühl sagt mir, dass dieses Unbehagen verbreitet ist, es stützt sich auf Gespräche im Freundes- und Kolle­gen­kreis, aber mangels solider Daten­basis muss ich dann doch von mir selbst sprechen.«
Das Miss­trauen, »das ich für einen wichtigen Impuls eines Jour­na­listen halte«, sei gegenüber den Ange­grif­fenen zu wenig ausge­prägt. Angele stellt eine Frage, die jeder von uns Bericht­erstat­tern, nicht nur in der Poli­tik­be­richt­erstat­tung, sich selber regel­mäßig stellen sollte: »Müssten Jour­na­listen vers­tänd­li­chen Impulsen nicht stärker wider­stehen?« Sollten sie sich nicht auf das Rollen­ver­s­tändnis des neutralen Beob­ach­ters und kriti­schen Beglei­ters der Mächtigen rück­be­sinnen? Ein solches Vers­tändnis »würde heute«, so Angele, »wenn nicht skan­da­li­siert, so doch als unzeit­gemäß empfunden. Die meisten Jour­na­listen sind Partei.«

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Inter­es­sant in dem Zusam­men­hang war auch der Auftritt des US-ameri­ka­ni­schen Lingu­isten John McWhorter. McWhorter ist schwarz und einer der eher wenigen Univer­si­täts­do­zenten, die derzeit offen Stellung gegen die an US-Univer­si­täten zur Zeit domi­nie­rende, »ganze Wissen­schaften infi­zie­rende« Iden­ti­täts­po­litik beziehen. Sein Buch »Woke Racism«, das gerade auf Deutsch erschienen ist, beschreibt das, was der Autor eine »neue Religion« nennt: Die Aufklärungs­feind­schaft einer kleinen Gruppe von Selbst­ge­rechten, die aus ihrem Umgang mit iden­ti­täts­po­li­ti­schen Fragen ein Dogma erklären und allen Kritikern mit Shit­s­torms, Belei­dungs­klagen und oft genug Berufs­verbot drohen. John McWhorter spricht von Neoras­sismus, der die Inte­gra­tion um Jahr­zehnte zurück­werfe. Dieser »woke Rassismus« mag bene­vo­lent gemeint sein, schade aber vor allem den Schwarzen Amerikas und nutze der weißen akade­mi­schen Elite, argu­men­tierte McWhorter in Berlin.

Aufschluss­reich für das Verhalten der Medien war aber eine andere Passage seines Vortrags. McWhorter ist nämlich auch seit einigen Jahren Kolumnist der »New York Times«, des publi­zis­ti­schen Aushän­ge­schilds der links­li­be­ralen USA.

»Dort bin ich ein Außen­seiter«, sagte er, »und vermut­lich könnte ich, hätte ich eine weiße Hautfarbe, das nicht schreiben, was ich in meiner Kolumne schreibe. Ich weiß, dass viele meiner Gedanken die von den 'Wokies' domi­nierte Redaktion der 'New York Times' stören, oder ihnen zumindest unbequem sind und sie in ihrer Sensi­bi­lität 'beun­ru­higen'. Zugleich lassen sie mich dort schreiben, um ihre Toleranz zu demons­trieren.«
Aber dass sie seine Texte anders behan­delten als die anderer Autoren könne man ganz einfach daran sehen, dass es bei jeder seiner Kolumnen »viel mehr Fact-Checking gibt als bei anderen Autoren.« Noch nie habe man einen Artikel zurück­ge­wiesen – aber die Redaktion der »New York Times« habe viele seiner Aussagen mit Fußnoten und Belegen versehen – eine Praxis, die sie bei anderen Autoren seltener an den Tag legten –, um sich gewis­ser­maßen gegenüber poten­ti­ellen Vorwürfen der »Wokies« abzu­si­chern.

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Die Probleme von FAS-Lesern zeigen sich in einer Titel­zeile des vergan­genen Sonntags: »Wie soll ich jetzt 10.000 € anlegen?« Ja, das frage ich mich auch. Ich weiß auch nicht, wie ich 10.000 Euro anlegen soll. Denn ich habe gar keine 10.000 Euro zum Anlegen übrig. Weitere Probleme der FAS-Leser: »Das wilde Schenken.«

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Unter einem Spiegel-Online-Text zu der Wahl auf den Phil­ip­pinen lese ich: »Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesell­schaft. Unter dem Titel 'Globale Gesell­schaft' berichten Repor­te­rinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Latein­ame­rika und Europa – über Unge­rech­tig­keiten in einer globa­li­sierten Welt, gesell­schafts­po­li­ti­sche Heraus­for­de­rungen und nach­hal­tige Entwick­lung. Die Repor­tagen, Analysen, Fotostre­cken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslands­res­sort des SPIEGEL. Das Projekt ist lang­fristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foun­da­tion (BMGF) unter­s­tützt. Ein ausführ­li­ches FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.«

Was soll dieser präten­tiöse Schmarrn? Früher gab es einfach Auslands­be­richt­erstat­tung. Da berich­teten Reporter auch aus Asien, Afrika, Latein­ame­rika und Europa, sogar aus Nordame­rika, Austra­lien und der Antarktis und – man höre und staune – auch über Unge­rech­tig­keiten in der Welt, über Heraus­for­de­rungen aller Art und über Entwick­lung. Offenbar gibt es das in dem Umfang beim Spiegel nicht mehr und man muss sich seine Repor­tagen von US-Milli­ar­dären bezahlen lassen.
Oder geht es um Tendenz­jour­na­lismus?

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Mit Fass­bin­ders oben zitierter Äußerung ist klar benannt, worum es geht, und worum es dem Kino, nicht nur in Deutsch­land einmal ging: Revo­lu­tion des Bewusst­seins, Aufklärung, Verän­de­rung der Gesell­schaft. Das Kino wollte nicht so dumm sein wie der Rest der Gesell­schaft; es wusste, dass es klüger war, und es stand dazu. Es war Elite, aber nicht elitär. Für die Film­kritik galt das selbst­ver­s­tänd­lich auch.

(to be continued)