Cinema Moralia – Folge 277
Der deutsche Film hat gerade keinerlei Maßstäbe |
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Fast alle Lolas gingen an ihn: Lieber Thomas | ||
(Foto: Wild Bunch) |
»In einer freien Gesellschaft müssen auch Pazifisten Pazifisten sein dürfen.«
Andreas Kleinert, in seiner Dankesrede beim Deutschen Filmpreis»Oft reichen 1000 Worte nicht und manchmal sind es 10«.
Jürgen Jürges, in seiner Dankesrede beim Deutschen Filmpreis»Ich denke, wenn man die eigenen Sachen erklärt, dass man sie schwächt dadurch. Und jetzt erklär ich nichts mehr.«
Elfriede Jelinek, Zitat aus »Elfriede Jelinek – die Sprache von der Leine lassen«
Beim Filmfest München hatte gestern Abend der Dokumentarfilm Elfriede Jelinek – die Sprache von der Leine lassen über die Literaturnobelpreisträgerin von 2004 Premiere. Dieser Film hat in etwa die Wirkung, dass man aus dem Kino herauskommt und sich sagt: »Ich muss sofort endlich mal Jelinek lesen.«
So in etwa müsste es doch auch sein, wenn der Deutsche Filmpreis vorbei ist: »Ah, ich müsste jetzt endlich mal wieder einen deutschen Film ansehen, ich möchte jetzt endlich mal wieder überhaupt ins Kino gehen, weil Kino etwas ganz Tolles ist. Aber stellt sich so ein Gefühl ein? Macht diese Veranstaltung Lust aufs Kino?«
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»Ich habe schon drei Energy-Drinks getrunken« sagt die Kollegin der Presseagentur des Filmpreises zur Begrüßung im Pressezelt. Und ich denke, es hat wahrscheinlich seinen guten Grund, dass sie schon im Presseraum und dann auch später bei der Party Energy-Drinks ausschenken. Denn nicht nur der deutsche Film, sondern auch diese Veranstaltung und die Gesichter der ganzen Leute brauchen sowas von Energienachschub...
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Deutscher Filmpreis – das verspricht Glamour Stars auf dem roten Teppich und Selbstfeier der deutschen Filmbranche. Aber in den letzten zwei Jahren war die Partylaune ziemlich verdorben, Corona sorgte für einen Einbruch der Zuschauerzahlen und natürlich dafür, dass man nicht wie gewohnt gemeinsam und eng zusammen feiern konnte. Einmal wurde die Veranstaltung komplett ins virtuelle Nirwana verlegt, im vergangenen Jahr feierte man fast wie gewohnt, aber erst im schon kühlen
September.
In diesem Jahr dagegen fand die Veranstaltung wieder wie gewohnt im Juni statt, am Samstagabend. Schon vor dem Abend war klar, dass es vor allem um die Konkurrenz zwischen zwei Filmen gehen würde: Andreas Kleinerts Lieber Thomas und Andreas Dresens Filmkomödie über die Mutter des in Guantanamo inhaftierten Murat Kurnaz.
Die Entscheidung der Massenabstimmung aller
Akademie Mitglieder war überaus klar:
Es war ein einziger Triumph für Andreas Kleinert, den 59-jährigen Berliner Regisseur und seinen Film Lieber Thomas, eine liebevolle, subjektive, sehr persönliche und an manchen Stellen nostalgische Film-Biografie auf Grundlage des Lebens des großartigen deutschen Schriftstellers Thomas Brasch.
Zwölfmal war der Film am letzten Freitagabend für den Deutschen Filmpreis nominiert, neunmal konnte er auch gewinnen. Ein verdienter Sieg für – unter anderem – Drehbuch, Regie, Kamera, Hauptdarsteller und Produktion!
Eine krachende Niederlage war der Abend dagegen für Kleinerts Kollegen Andreas Dresen, der lange Jahre einer der Darlings der die mit Steuergeld dotierten Preise vergebenden Filmakademie gewesen war.
Zehnmal war Dresens Polit-Komödie Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush nominiert, in allen Kategorien – den wichtigsten und den weniger wichtigen – hat der Film gegen Lieber Thomas verloren und nur in zweien gewonnen: Den Preise für die »Beste Schauspielerin«, der erwartungsgemäß an Meltem Kaptan ging. Und dem für die »Beste männliche Nebenrolle«, den Alexander Scheer verdient gewann.
Damit hat auch die Deutsche Filmakademie ein bisschen was von ihrer Achtung und Würde gerettet, nachdem die Anfang Mai bekanntgegebenen Filmpreis-Nominierungen zum Teil für heftige Kritik und jedenfalls für Kopfschütteln vor allem in der Branche selbst gesorgt hatten.
Hätte tatsächlich Andreas Dresens nette, aber unausgegorene Komödie in den wichtigen Kategorien auch gewonnen, hätte man wieder einmal am Verstand der abstimmenden über 2000 Akademie-Mitglieder verzweifeln müssen.
So aber kann man sagen: Es gewannen in vielen Fällen wenigstens die Richtigen unter den Nominierten.
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Eine Ausnahme: Den Preis für die beste Schauspielerin hätte endlich, endlich, the one and only Saskia Rosenthal bekommen müssen. Sie war nominiert für Niemand ist bei den Kälbern.
Stattdessen Meltem Kaptan. Warum muss sie den Preis kriegen? Die Rolle ist Mutter Beimer auf Döner. Klischee-Sprache hoch Zehn.
Mit diesem Preis kann man das ganze Gerede über Diversität sowieso vergessen. Wenn
dieses Deutsch-Türken-Bild irgendetwas mit Diversität zu tun hat, dann sollte keiner mehr zu diesem Thema den Mund aufmachen.
Das Schlimmste ist, dass sie wirklich überhaupt nicht spielen kann. Keine Szene gelingt ihr. Und wenn das überhaupt kein Kriterium mehr für einen Schauspielpreis ist, ob jemand ein guter Schauspieler ist, dann gute Nacht.
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Im Gespräch mit einer Freundin fällt die Quizfrage: warum lieben alle Andreas Dresens Film so? Man könnte jetzt mit der Gegenfrage antworten, ob sie wirklich alle den Film so lieben und Andreas Dresen? Denn zumindest bei der Abstimmung um den Deutschen Filmpreis ergibt sich ja ein anderes Bild.
Aber man kann auch so antworten: Erstens weil sie glauben, der Film sei politisch und weil das Thema fern genug ist, dass man sich ein politisches Urteil erlauben kann, ohne selber ernsthaft betroffen zu sein oder mit Konsequenzen bedroht. Es ist Politik, die einem nicht wehtut.
Zweitens weil sie glauben der Film sei witzig. Das glauben viele wirklich, weil sie ihren Humor ja nur in ZDF-Komödien gelernt haben. Drittens: Weil bei Andreas Dresen alle Beißhemmungen haben. Weil man
glaubt, dass Andreas Dresen einfach »nett« ist, weil er auch mal in kurzen Hosen rumläuft, aus dem Osten kommt, Schmunzelhumor hat und weil er natürlich im Sinn des deutschen Films kein bisschen arrogant ist, kein bisschen intellektuell, kein bisschen ernsthaft, und natürlich kein bisschen elitär – und damit ist er alles das, was sich der deutsche Film wünscht und was der deutsche Film seinem Selbstbild nach heute sein möchte. Und zugleich genau alles das, was den deutschen Film
kaputtmacht.
Denn der deutsche Film braucht Arroganz, Intellektualität, Ernst, Elitismus und Rangordnung, um es mal ganz böse und klassisch mit Friedrich Nietzsche auszudrücken. Warum braucht er das? Weil er sich an etwas ausrichten muss. Weil er Maßstäbe braucht. Der deutsche Film hat ja gerade keinerlei Maßstäbe. Und wo will man diese Maßstäbe hernehmen, außer durch Vorbilder, durch einen Kanon – das sind ja letztlich alles andere Worte für das Gleiche.
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Die zwei wichtigsten deutschen Filmpreise gingen damit an zwei Filme von ostdeutschen Regisseuren und der drittwichtigste ging an einen österreichischen Film. So könnte man die Geschichte des gestrigen Abends erzählen.
Man könnte sie aber auch so erzählen: Nicht der Osten gewann, sondern zwei Kölner Filmproduktionsfirmen, sowie der NDR, dessen Spielfilmchef Christian Granderath sich für beide Filmpreis-Sieger persönlich starkgemacht und sie auch gegen interne Widerstände durchgesetzt hatte – im Fall von Lieber Thomas auch mit Hilfe des Kultursenders Arte.
Oder man könnte die Geschichte so erzählen: Bei vier von sechs in der Hauptkategorie nominierten deutschen Spielfilmen handelt es sich um das, was man früher Kostümfilme nannte: Geschichten, die in der Vergangenheit angesiedelt sind. Und auch Filme wie Wunderschön oder Contra, die beiden anderen nominierten Filme, haben mit der Gegenwart so gut wie gar nichts zu tun.
Man könnte schließlich auch sagen: Selbst wenn viele Frauen abstimmen, gewinnen am Ende die Männer die Preise.
Denn es ist schon eine bizarre Fehlleistung der Filmakademie – und zwar aus ästhetischen und geschmacklichen Gründen, nicht aus politischer Korrektheit –, dass so überaus starke und international erfolgreiche Filme von Regisseurinnen wie A E I O U von
Nicolette Krebitz und Niemand ist bei den Kälbern von Sabine Sarabi beim Filmpreis peinlich schwach nominiert wurden und in den Preisen fast komplett leer ausgingen.
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Wie immer bekommt derjenige der nominierten Dokumentarfilme den Preis, der am wenigsten mit unserer deutschen Gegenwart und Wirklichkeit zu tun hat. Also politische Filme haben keine Chance, Filme über Industrialisierung und Bürgerengagement in Deutschland, Filme, die wehtun, Filme, die spalten – denn Politik funktioniert nur durch Spalten, nicht durch Versöhnen –, fallen raus.
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Ansonsten gab es bei der Preisverleihung die gewohnte Mischung aus wohlfeilem Engagement und Rührung. Für Letzteres sorgten die Ehrungen der Toten des vergangenen Jahres und vor allem der Ehrenpreis für den großen Kameramann Jürgen Jürges.
Ersteres boten diverse deutsche Film-Celebrities, in deren Statement kaum ein Problem dieser Welt ausgesperrt wurde: Krieg und Klimawandel, Corona und Kinokrise sorgten zwar kurz für Krokodilstränen, konnten aber die grundsätzliche Partylaune kaum schmälern, die sich auch in einer sehr gut gelaunten und vergleichsweise geschmackvollen Verleihungsveranstaltung niederschlug.
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Wie gesagt: Die Veranstaltung war vergleichsweise gut. Und es stimmt: Es gab wirklich nicht viele peinliche Momente, wie es sie in früheren Jahren schon gegeben hatte – aber einfach nur zu sagen: es war okay, das genügt doch nicht. Es war weder inhaltlich richtig interessant, noch war es eine richtig gute Show – und eins von beiden sollte es doch zumindest sein!?
Auch sonst: Live verhunzen es die Sender mit ihren komischen »Sendeanforderungen« – und im Fernsehen guckt es auch keiner. Das machen sie beim Bayerischen Filmpreis besser.
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Am Besten: Die Laudatio von Sandra Hüller, Laura Tonke, Eva Löbau für Komplizen-Film (von zwei Frauen geführt, noch nicht umbenannt) war super. Ausgerechnet dies übertrug die ARD nicht.
Über Bernd Eichinger, den Namensgeber des Preises hörte man: Er wollte Filme, die ein Wagnis eingehen, er hatte keine Angst, ein Risiko einzugehen.
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Erst kamen Filmförderchefinnen medienwirksam mit dem Fahrrad.
Christoph Maria Herbst veralbert das Diversitäts- und Nachhaltigkeitsgedöns der Filmakademie: »Beste Weibliche Hauptrolle: Super! Alles Frauen!! Auch mit... Hintergrund. Oder kann man auch Österreich sagen?«
Auf der Party wurde dann gerätselt, ob es bald vegane Vampirfilme gibt, und Stasi-Filme ohne Trabis?
Ob der Kommissar mit dem Fahrrad zum Tatort kommt?
Das Problem ist, dass wir Deutschen auch im Kino keine Autoindustrie haben und vor allem keine modernen Autos produzieren. Was wir machen, sind keine Tesla-Filme, sondern alte Diesel-Filme wie z.B der von...
Naja...
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Margarita Broich war die einzige, die offensichtlich ihre Laudatio (auf Jürgen Jürges) auch selbst geschrieben hat. Die hatte einen persönlichen Bezug, und sie hatte etwas zu sagen. Das war authentisch und nett.
Kameramann Jürgen Jürges selber erzählte dann von Dau, das habe ihn »zehn Jahre meines Lebens intensivst beschäftigt«. Und sagte auch sonst sehr viel schöne, kluge Sachen: »Dieser Krieg wird unser aller Leben nachhaltig verändern.« Er sei überzeugt, »dass langfristig eine weltweite Aufrüstung nicht die Lösung sein kann.« Es sei »Umdenken in der Politik gefordert.«
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Mal ehrlich: Ist Katrin Bauerfeind eine gute Moderatorin für eine Filmpreis-Veranstaltung? Vielleicht besser als Anke Engelke, aber was ist das für ein Maßstab? Die erste halbe Stunde war irgendwie okay, aber dann nutzte sich der freche Mädchen-Ton einer 40-Jährigen arg ab. Entweder macht man das wirklich gut, oder man macht es irgendwie, ernsthaft – aber dieses prosiebenmäßige Rumkumpeln a la »Hey, ich gehe zwar nicht ins Kino und weiß auch nicht wirklich, worüber ich hier rede, aber wir machen uns hier ein bisschen lustig...« ist eines deutschen Filmpreises unwürdig. Wem soll das gefallen? Dann bitte Bully.
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Da ist kein Gefühl für das Momentum oder die Fähigkeit, Vorheriges inhaltlich aufzugreifen, sondern es wird einfach nur ein Text reproduziert, der ihr geschrieben wurde.
Und nachdem man jetzt endlich sogar bei der Oscar Academy gelernt hat, dass man nach der Liste der Toten nicht klatscht, kommt Bauerfeind raus und klatscht an.
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Weitere Geschmacksverwirrung: Als die Akademie die besten Filme auf der Leinwand vorstellte, haben sie tatsächlich diese besten Filme zusammengeschnitten und miteinander zu einem Madley verquirlt.
Nach dem Motto: Wir finden keine 30 Sekunden, die wir mal am Stück zeigen können, darum schneiden wir unsere eigenen besten Filme zusammen und machen quasi einen einzigen Trailer aus sechs Filmen.
Man stelle sich das einmal in Frankreich vor!
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Kleinerts Film hat ca 60.000 Zuschauer, hätte 600.000 haben müssen. Dresens Film hat nur 100.000, auch so etwas hätte 500.000 Zuschauer kriegen müssen.
Trauriger Zustand.
Jetzt in der existenziellen Krise beschädigt und gefährdet das verengte Denken der deutschen Filmförderer, die fast nur noch Serien fördern, und die Zusammenballung von Feigheit, von Einknicken, von fehlendem Geschmack, von Inkompetenz das deutsche Kino existenziell.
An diesem Zustand ändert auch der Filmpreis nicht das Geringste. Im Gegenteil.
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In den Party-Gesprächen danach erlebte man nachdenkliche, aber letztlich auch verhalten optimistische Stimmen: Langfristig werde es mit dem Kino schon wieder aufwärts gehen, vor allem wenn kommende Film-Jahrgänge noch wieder ein bisschen besser werden als der diesjährige.
Bis dahin muss die Frage beantwortet werden: Was würde dem Gegenwartskino fehlen, wenn es keine deutschen Filme gäbe?
(to be continued)