Cinema Moralia – Folge 282
Wer stirbt zuerst? |
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Auch von der neuen Skandalinflation betroffen: Marie Kreutzer und Corsage | ||
(Foto: Alamode) |
»Das Kino stellt keine Fragen. Das Kino gibt keine Antworten.«
- Jean-Luc Godard (1930-2022)
Es ist immer, so dass der Übergang zwischen dem Filmfestival in Venedig und dem von San Sebastian fließend ist. San Sebastian wird nur fünf Tage, nachdem Venedig zu Ende ist, eröffnet, und dazwischen liegt auch noch Oldenburg. In diesem Jahr erlaube ich mir zum ersten Mal überhaupt dieses Herbst-Triple.
Bin gespannt auf Oldenburg, das manche als »Sundance von Deutschland« beschreiben. Aber so wurde auch schon mal Mannheim-Heidelberg beschrieben.
In jedem Fall hätte dieses Festival die Aufmerksamkeit, die es verdient, würde es etwas besser und nicht in der Mitte des Sandwich zwischen zwei A-Festivals liegen. Und wenn die Filmkritik in besserem Zustand wäre.
Wir werden auf artechock berichten, erst recht aber ab Samstag von San Sebastian, wo neben aufregenden Weltpremieren auch eine komplette Claude-Sautet-Retrospektive laufen wird.
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Auf Festivals und auf hoher See gibt es keine Gesetze.
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In Oldenburg bin ich bei einer feinen kleinen Veranstaltung über Filmkritik beteiligt, zu der Oldenburg-Chef Torsten Neumann angeregt hatte.
Es geht darin um Folgendes:
Seit es das Kino gibt, gibt es die Filmkritik. Doch so wie Kritik gesellschaftlich in Verruf geraten ist und man lieber der Schwarmintelligenz des Mainstream und der Algorithmen vertraut, so geht es gegenwärtig erst recht der Filmkritik. Sie ist heute fast vollkommen zum Dienstleister, zur
Serviceinstitution geronnen, die dem Publikum ein gutes Gefühl, den Kinos ein paar Zuschauer und allen gemeinsam »werbend wertende« Inhalte und Einnahmen bringen soll. Kritik hingegen, die sich und ihren Gegenstand als Kunst ernst nimmt, die will man nicht – am wenigsten in den Redaktionen, die sich einst mit ihr schmückten.
Das Publikum hingegen will und braucht Kritik sehr wohl. Mindestens als unabhängigen Ratgeber und Freizeitkurator, der nicht im Sold irgendeiner
Industrie oder Institution steht. Am besten als kritischen Freund oder »liebsten Feind« (Werner Herzog), mit dem man produktiv streiten, dem man vertrauen kann.
Ein unabhängiges Festival wie Oldenburg will unabhängige Kritik. Darum interessiert man sich dort nicht nur für Zuschauerzahlen (bei Festivals immer steigend. Quizfrage: Wie kommts?) und das ebenfalls zum Fetisch gewordene Publikum, das ja angeblich immer recht hat (Spoiler: Natürlich nicht!), sondern für Fragen, die wir, die ich für brennend aktuell halte: Wozu Filmkritik? Wer braucht Filmkritik? Gibt es überhaupt noch Filmkritik? Oder nur noch Service – den aber bitte ohne Spoiler.
Wir sind überzeugt: Wenn die Filmkritik verschwindet, dann verschwindet auch das Kino und bald auch unabhängige Festivals in der Verwechselbarkeit. Insofern ist diese Frage eine Überlebensfrage, und wir wollen sie am Freitag nicht pseudo-unparteiisch stellen, sondern auf der Basis einer klaren Parteinahme: Für Filmkritik, die ihren Namen verdient, weil sie unverwechselbar ist und mutig, die sich streiten möchte, weil Streit ein Teil jeder Kultur ist. Die sich selber als Kunst versteht, weil man auch über Geschmacksfragen nur streiten kann, wenn man selber Geschmack hat.
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Traurige Tatsache: Mehr und mehr Filmkritiker besprechen keine Filme mehr, oder dürfen und können sie nicht mehr besprechen, sondern geben dafür der allgemeinen Neigung nach, überall Skandale zu finden und Filme, besser noch ihre Macher zu skandalisieren. Diese Skandalinflation führt vor allem dazu, dass man sich für die tatsächlichen Skandale nicht mehr interessiert.
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Vorletztes Beispiel: Der sommerliche angebliche #MeToo-Skandal um Marie Kreutzer und ihren Film Corsage.
Das ist pikant, weil Marie Kreutzer selbst ranghohe Proponentin bei FC Gloria ist. In die Kritik kam sie, weil gleich zwei ihrer
Darsteller der sexuellen Gewalt verdächtig wurden.
Der Stil und das unpolitische Gedruckse der Beteiligten machen einen weitaus ratloser als die Sache selbst.
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Marie Kreutzer selbst hat die Schere zwischen Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit folgendermaßen kommentiert: »Ich würde niemals auf Basis von Gerüchten einen Mitarbeiter, eine Mitarbeiterin der Bühne verweisen oder ausladen, das wäre letztklassig; wir leben in einem Rechtsstaat, und wenn es gegen jemanden weder konkrete Vorwürfe noch ein Verfahren gibt, würde ich mich, wenn ich darauf mit Konsequenzen reagierte, als Richterin aufspielen. Aber die bin ich nicht.«
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Hinzu kommt, dass im Augenblick viele, allen voran die selbsternannten Investigativmedien auf der eigentlich wichtigen Angelegenheit ihr eigenes Süppchen kochen. Manchmal geht es um Karriere, manchmal nur um blöde Wichtigtuerei. Und um gar nicht mal zynischen, sondern naiven Narzissmus: Viele glauben, sie müssten jetzt irgendetwas dazu sagen, obwohl sie selber nicht wissen, was sie dazu sagen sollen.
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Interessant an der Causa Corsage ist auch, dass die Regisseurin, die mit einem raunenden, keine Namen nennenden Post in den sozialen Netzwerken die ganze Angelegenheit angestoßen hat, zufällig gerade selbst einen Film zum Thema fertig hatte, der bis dato (Anfang Juli) noch ohne
Festivaleinladung geblieben ist. Interessanterweise wurde die Tatsache, dass die Anklägerin einen Film zu diesem Thema fertig hat, der bald veröffentlicht wird, in keinem Bericht erwähnt.
Blind ermittelt.
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Wie fehlgeleitet und verquer unsere augenblicklichen Diskurse sind, beweist gerade wieder die sogenannte »Affäre« um den österreichischen Filmregisseur Ulrich Seidl: Diffuse Vorwürfe, die falls sie überhaupt zutreffen, größtenteils nicht strafrechtlich relevant sind, die außerdem komplett unbewiesen sind und aus diffusen Quellen und von zweifelhaften Autoren stammen, genügen, um einen Filmemacher öffentlich fertigzumachen. Sie genügen, damit sein Film – in diesem Fall Sparta – vom Filmfestival Toronto aus dem Programm gestrichen wird, und Preise, die einem Filmkünstler gelten, zurückgezogen werden.
Es sind die falschen Leute und die falschen Kriterien, die unsere öffentlichen Debatten bestimmen. Dagegen muss man kämpfen.
Natürlich gilt das nicht nur für das Feld von Kino und Film, es gilt allerdings insbesondere für den ganzen Bereich der Kunst. Im Feld der Kunst, und das heißt, auf dem Rücken der Kunstwerke und der Künstler werden zur Zeit die Schlachten ausgetragen, die man sich im politischen Verhältnis nicht auszutragen traut; bzw. wo die attackierende Partei, die Politisch-Korrekten, die Schlaumeier und Moralisten, die Sprachpolizisten schon längst verloren haben. Sie werden auch hier verlieren. Aber es wird mühsam.
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Toronto hat den Film in letzter Minute ausgeladen, in San Sebastian hätte er sowieso seine offizielle Weltpremiere gehabt und dort wird sie selbstverständlich auch stattfinden. Die Basken haben bittere eigene Erfahrungen mit Zensur, sie sind also sensibel – was den politisch Überkorrekten eigentlich gefallen müssen. Bloß halt in eine andere Richtung.
Man bewerte Festivalbeiträge ausschließlich nach ihrer ästhetischen Qualität, erklärt das Festival. »Wenn jemand
Beweise für ein Verbrechen hat, sollte er dies der Justiz melden. Nur ein Gerichtsbeschluss könnte dazu führen, dass wir eine geplante Vorführung aussetzen.« Recht haben sie.
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Eine befreundete Regisseurin, die Seidl nur in seinem Werk kennt, hatte mich bereits vor zehn Tagen auf den skandalisierenden Spiegel-Text hin angeschrieben, und nach meiner Meinung gefragt.
Ihrem eigenen Kommentar stimme ich intuitiv zu: »Ich denke, das ganze hat einen ziemlich üblen Beigeschmack, diese Art wie da recherchiert wurde. Die Mitspieler und ihre Eltern hatten offenbar kein Problem mit den Dreharbeiten, bis die Journalisten ihnen weisgemacht haben, es gehe um
Pädophilie. Und jetzt wollen sie sich erst durch diese mediale Wirkung distanzieren vom Film. Ich finde das ziemlich daneben. Den Film hat ja offenbar keiner von denen gesehen, auch nicht die Journalisten. Die nicht mal danach gefragt haben. Ich finde es ziemlich krass, wie da mit dem Seidl umgegangen wird.«
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Man versteht sowieso nicht, was die Ankläger eigentlich haben? Die Eltern sind nicht informiert worden? Bei der Suche soll die Produktionsfirma verschwiegen haben, dass es sich um die Geschichte eines Pädophilen handelt.
Mei wie schrecklich.
Jeder, der nur einen Film von Seidl gesehen hat, weiß, dass dessen Kino von der Provokation, und zwar der ästhetischen lebt. Die muss man herstellen.
Aber die demokratische Hofgesellschaft im neuen SPIEGELsaal ist puritanisch.
Tatsächlich hat aber niemand, der jetzt Seidl den Schauprozess macht, den Film überhaupt gesehen.
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Mehr Debatten, weniger Diskurse. Das würde uns gut tun.
(to be continued)