Cinema Moralia – Folge 286
»Das globale Kino ist zu kodifiziert und zu bequem geworden« |
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Argentinien, 1985: Bei den Filmfestspielen von Venedig mit dem Preis der Fipresci ausgezeichnet | ||
(Foto: Biennale di Venezia) |
Nochmal ein Rückblick auf den Anfang Oktober, das Filmfest Hamburg: Wie übersichtlich, klar und in sich konzis ein Programm sein kann! Davon könnten sich manche Filmfestivals vor allem im Südosten Deutschlands eine Scheibe abschneiden.
Ganz hervorragend ist auch die Festivalillustrierte. Dort gibt es Texte, die wirklich die Lektüre lohnen, die auch im Feuilleton einer überregionalen Tageszeitung stehen könnten, wie das Interview mit Hans-Christian Schmid oder das Interview mit dem iranischen Produzenten Farzad Pak. Oder Marc Stöhrs Porträt des Werks von Ulrich Seidl.
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Im Vorwort schreibt Festivalchef Albert Wiederspiel: »Kurz noch eine Sache zum russischen Angriffskrieg: wir haben in diesem Jahr keine russischen Filme im Programm. Das ist kein Ausdruck eines Boykotts, gerne hätten wir Filme von oppositionellen russischen Filmschaffenden gezeigt, aber wir haben einfach nichts Adäquates finden können. Wir glauben weiterhin an einen künstlerischen Dialog, auch quer durch die Fronten...«
So klar und einfach und selbstverständlich kann man es sagen.
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Das Hamburger Filmfest unterfüttert sein Programm konsequent mit einer zweiten, intellektuellen Ebene und stellt Fragen, die über das eigentliche Hamburger Filmfest weit hinausreichen und die wir verfolgen müssen. Zum Beispiel die Einleitung des argentinischen Kurators Roger Koza im Programmheft zur Reihe über spanisch- und portugiesischsprachiges Kino. Da finden sich gleich zwei wichtige Anmerkungen. Koza spricht zum einen von dem »internationalen Stil« im lateinamerikanischen Kino. »Es gibt eine bestimmte Tendenz im lateinamerikanischen Kino, die man als internationalen Stil bezeichnen könnte. Dieser bedient bestimmte Erwartungen des internationalen Publikums an die Realität Lateinamerikas und deren Darstellungen im Film: Soziale Gewalt, eine revisionistische Lesart der Diktaturen des letzten Jahrhunderts, ein Hauch von magischem Realismus sowie Portraits von Menschen, die fernab vom Einflussbereich der Moderne leben und mit einer tieferen mystischen Weisheit ausgestattet sind.«
Und dann fast noch wichtiger seine beiläufige Bemerkung über »den ästhetischen Imperativ ..., der im internationalen Festivalbetrieb vorherrschend ist.« Kino, das kritisch sein möchte, sollte solche Imperative nicht bedienen, sondern sie kritisieren. Es sollte sich hinterfragen, es sollte sie parodieren, es sollte sie dekonstruieren und dadurch offenlegen in dem, was sie vor allem sind: Imperial. Die Imperien des internationalen Kinos heißen nicht Vereinigte Staaten von Amerika, Russische Föderation, oder China. Sie sind schwerer zu finden und zu bezeichnen. Wir sollten sie versuchen, zu beschreiben.
Das globale Kino, so Koza, sei »zu kodifiziert und zu bequem geworden«.
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Argentinien, 1985 Mit dem Untertitel »Nie wieder« erzählt dieser so packende wie subtile Film von dem Prozess, der Verantwortliche für die Gräueltaten der Militärdiktatur gegen alle Widerstände zur Verantwortung zog. Dafür gab es in Venedig den Kritikerpreis der FIPRESCI.
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Es ist schon ein merkwürdiges Phänomen: Um mit der schrecklichen Erfahrung des Ersten Weltkriegs fertig zu werden, schrieben in den Zwanziger Jahren die Leute Romane oder malten Bilder, etwas später machten sie dann Filme. Ähnlich nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch der Vietnamkrieg führte vor allem zu einer künstlerischen Bearbeitung der psychischen und körperlichen Folgen des Kriegs.
Aber die Kriege des ausgehenden 20. und des 21. Jahrhunderts, also der jugoslawische
Bürgerkrieg, der Golfkrieg, der Irakkrieg und die Dauerkonflikte in Afghanistan haben zwar großartige Dokumentarfilme entstehen lassen, im fiktionalen Bereich war man bisher dazu nicht in der Lage.
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Der Film Amsterdam, der jetzt in die Kinos kommt, erinnert manchmal an Terry Gilliams Brazil, aber vor allem nähert er sich den ästhetischen Gesten der frühen Avantgarde an. Kunst und Film sind hier wie in der historischen Wirklichkeit das probate Mittel, um einer bedrohlichen Zeitgeschichte
ins Auge zu blicken.
Das Kino kann sich aber nur noch befreien, wenn es seine eigene Sinnhaftigkeit und seinen getragenen Ernst über Bord wirft.
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Die Hofer Filmtage haben mal wieder verloren. Jedenfalls beim Fußballspiel. Vielleicht lag es daran, dass das Gründungsmitglied des Teams FC Hofer Filmtage Werner Herzog diesmal nicht eingeladen wurde, sondern zu seinem 80. lieber der Viennale einen Besuch abstattete.
Verständlich.
Auch ansonsten ist die Bilanz der Filmtage durch die Kollegin Margret Köhler vielsagend: »das vorwiegend heimische Publikum ... auch wenn es mühsam war, eine Programmstruktur auszumachen ... Ein unausgereiftes Online-Ticketsystem nervte, die meisten Zuschauer kehrten zum Papierticket zurück, Festivalleiter Torsten Schaumann war zwar online sehr präsent, man hätte ihn aber gerne mehr 'live' vor Ort gesehen, bei Vorführungen oder im beliebten Treffpunkt 'Hotel Strauß'. Vermisst wurde eine attraktive Retro...«
Man kann’s sich vorstellen.
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Wer es noch nie gesehen hat, hat jetzt die Gelegenheit: Zum 90. Geburtstag von Edgar Reitz zeigt 3sat noch einmal »Heimat – Eine deutsche Chronik«, die erste Staffel der mehrfach ausgezeichneten »Heimat«-Serie, digital restauriert.
Alle Folgen der Staffel sind bis Sonntag, 4. Dezember 2022, in der 3sat-Mediathek abrufbar.
(to be continued)