03.11.2022
Cinema Moralia – Folge 286

»Das globale Kino ist zu kodi­fi­ziert und zu bequem geworden«

»Argentinien, 1985«
Argentinien, 1985: Bei den Filmfestspielen von Venedig mit dem Preis der Fipresci ausgezeichnet
(Foto: Biennale di Venezia)

Gibt es einen »internationalen Stil« und einen »ästhetischen Imperativ« des Kinos? Nur mal eine Frage von Roger Koza – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 286. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Nochmal ein Rückblick auf den Anfang Oktober, das Filmfest Hamburg: Wie über­sicht­lich, klar und in sich konzis ein Programm sein kann! Davon könnten sich manche Film­fes­ti­vals vor allem im Südosten Deutsch­lands eine Scheibe abschneiden.

Ganz hervor­ra­gend ist auch die Festi­val­il­lus­trierte. Dort gibt es Texte, die wirklich die Lektüre lohnen, die auch im Feuil­leton einer über­re­gio­nalen Tages­zei­tung stehen könnten, wie das Interview mit Hans-Christian Schmid oder das Interview mit dem irani­schen Produ­zenten Farzad Pak. Oder Marc Stöhrs Porträt des Werks von Ulrich Seidl.

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Im Vorwort schreibt Festi­val­chef Albert Wieder­spiel: »Kurz noch eine Sache zum russi­schen Angriffs­krieg: wir haben in diesem Jahr keine russi­schen Filme im Programm. Das ist kein Ausdruck eines Boykotts, gerne hätten wir Filme von oppo­si­tio­nellen russi­schen Film­schaf­fenden gezeigt, aber wir haben einfach nichts Adäquates finden können. Wir glauben weiterhin an einen künst­le­ri­schen Dialog, auch quer durch die Fronten...«

So klar und einfach und selbst­ver­s­tänd­lich kann man es sagen.

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Das Hamburger Filmfest unter­füt­tert sein Programm konse­quent mit einer zweiten, intel­lek­tu­ellen Ebene und stellt Fragen, die über das eigent­liche Hamburger Filmfest weit hinaus­rei­chen und die wir verfolgen müssen. Zum Beispiel die Einlei­tung des argen­ti­ni­schen Kurators Roger Koza im Programm­heft zur Reihe über spanisch- und portu­gie­sisch­spra­chiges Kino. Da finden sich gleich zwei wichtige Anmer­kungen. Koza spricht zum einen von dem »inter­na­tio­nalen Stil« im latein­ame­ri­ka­ni­schen Kino. »Es gibt eine bestimmte Tendenz im latein­ame­ri­ka­ni­schen Kino, die man als inter­na­tio­nalen Stil bezeichnen könnte. Dieser bedient bestimmte Erwar­tungen des inter­na­tio­nalen Publikums an die Realität Latein­ame­rikas und deren Darstel­lungen im Film: Soziale Gewalt, eine revi­sio­nis­ti­sche Lesart der Dikta­turen des letzten Jahr­hun­derts, ein Hauch von magischem Realismus sowie Portraits von Menschen, die fernab vom Einfluss­be­reich der Moderne leben und mit einer tieferen mysti­schen Weisheit ausge­stattet sind.«

Und dann fast noch wichtiger seine beiläu­fige Bemerkung über »den ästhe­ti­schen Imperativ ..., der im inter­na­tio­nalen Festi­val­be­trieb vorherr­schend ist.« Kino, das kritisch sein möchte, sollte solche Impe­ra­tive nicht bedienen, sondern sie kriti­sieren. Es sollte sich hinter­fragen, es sollte sie parodieren, es sollte sie dekon­stru­ieren und dadurch offen­legen in dem, was sie vor allem sind: Imperial. Die Imperien des inter­na­tio­nalen Kinos heißen nicht Verei­nigte Staaten von Amerika, Russische Föde­ra­tion, oder China. Sie sind schwerer zu finden und zu bezeichnen. Wir sollten sie versuchen, zu beschreiben.

Das globale Kino, so Koza, sei »zu kodi­fi­ziert und zu bequem geworden«.

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Argen­ti­nien, 1985 Mit dem Unter­titel »Nie wieder« erzählt dieser so packende wie subtile Film von dem Prozess, der Verant­wort­liche für die Gräuel­taten der Mili­tär­dik­tatur gegen alle Wider­s­tände zur Verant­wor­tung zog. Dafür gab es in Venedig den Kriti­ker­preis der FIPRESCI.

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Es ist schon ein merk­wür­diges Phänomen: Um mit der schreck­li­chen Erfahrung des Ersten Welt­kriegs fertig zu werden, schrieben in den Zwanziger Jahren die Leute Romane oder malten Bilder, etwas später machten sie dann Filme. Ähnlich nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch der Viet­nam­krieg führte vor allem zu einer künst­le­ri­schen Bear­bei­tung der psychi­schen und körper­li­chen Folgen des Kriegs.
Aber die Kriege des ausge­henden 20. und des 21. Jahr­hun­derts, also der jugo­sla­wi­sche Bürger­krieg, der Golfkrieg, der Irakkrieg und die Dauer­kon­flikte in Afgha­ni­stan haben zwar groß­ar­tige Doku­men­tar­filme entstehen lassen, im fiktio­nalen Bereich war man bisher dazu nicht in der Lage.

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Der Film Amsterdam, der jetzt in die Kinos kommt, erinnert manchmal an Terry Gilliams Brazil, aber vor allem nähert er sich den ästhe­ti­schen Gesten der frühen Avant­garde an. Kunst und Film sind hier wie in der histo­ri­schen Wirk­lich­keit das probate Mittel, um einer bedroh­li­chen Zeit­ge­schichte ins Auge zu blicken.
Das Kino kann sich aber nur noch befreien, wenn es seine eigene Sinn­haf­tig­keit und seinen getra­genen Ernst über Bord wirft.

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Die Hofer Filmtage haben mal wieder verloren. Jeden­falls beim Fußball­spiel. Viel­leicht lag es daran, dass das Grün­dungs­mit­glied des Teams FC Hofer Filmtage Werner Herzog diesmal nicht einge­laden wurde, sondern zu seinem 80. lieber der Viennale einen Besuch abstat­tete.
Vers­tänd­lich.

Auch ansonsten ist die Bilanz der Filmtage durch die Kollegin Margret Köhler viel­sa­gend: »das vorwie­gend heimische Publikum ... auch wenn es mühsam war, eine Programm­struktur auszu­ma­chen ... Ein unaus­ge­reiftes Online-Ticket­system nervte, die meisten Zuschauer kehrten zum Papier­ti­cket zurück, Festi­val­leiter Torsten Schaumann war zwar online sehr präsent, man hätte ihn aber gerne mehr 'live' vor Ort gesehen, bei Vorfüh­rungen oder im beliebten Treff­punkt 'Hotel Strauß'. Vermisst wurde eine attrak­tive Retro...«

Man kann’s sich vorstellen.

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Wer es noch nie gesehen hat, hat jetzt die Gele­gen­heit: Zum 90. Geburtstag von Edgar Reitz zeigt 3sat noch einmal »Heimat – Eine deutsche Chronik«, die erste Staffel der mehrfach ausge­zeich­neten »Heimat«-Serie, digital restau­riert.
Alle Folgen der Staffel sind bis Sonntag, 4. Dezember 2022, in der 3sat-Mediathek abrufbar.

(to be continued)