ABSTAND/ZOOM
Film-Alphabet: R_RITUAL |
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Ritualhaft durch die Zeit rennen: PT Andersons Licorice Pizza | ||
(Foto: Universal Pictures) |
Von Nora Moschuering
Ich hab’s ja nicht so mit Ritualen, ab und an versuche ich welche einzuführen, kleine private, bescheidene, um meinem Tagesablauf Struktur zu geben. Das Frühstück z.B. hat sich bei mir von Anfang an bewährt, dagegen ist das Mittagessen, das sich ja allgemein gut durchgesetzt hat, bei mir sowohl zeitlich als auch inhaltlich instabil und unkonkret. Ebenso wie das Abendessen. Da die drei Sachen aber aufeinander aufbauen, wächst eine Unregelmäßigkeit in die nächste.
Ich bin schon mit wenig festen Ritualen aufgewachsen, das heißt nicht, dass zu Weihnachten oder an Geburtstagen nichts stattfand, es war einfach immer ein wenig anders als im Vorjahr. In gesellschaftliche oder soziale Rituale bin ich schon ab und an eingebunden, aber so ganz geheuer sind sie mir eigentlich nicht, obwohl ich insgeheim schon immer mal gerne Teil eines traditionellen Gesangsvereins gewesen wäre.
Eröffnung der Berlinale 2022: mal wieder mit einem Roten Teppich und dem ganzen Drum und Dran: Schöne Roben, viele Fotograf*innen, Eindrücke und kurze Statements vom Roten Teppich, das Bären-Logo und ein bisschen Glitzer-Glitzer. Kein Ritual, an dem ich jemals aktiv teilgenommen habe, aber das mir doch in seiner nicht-Einzigartigkeit sehr bekannt ist. Ich habs dann auf 3sat nachgeschaut: Die Reden der Festival-Leitung, der Dank an die Partner, die Vertreterinnen der Politik, Schauspielerinnen-Reden, Jurybegrüßung, Anzahl der Filme, aus wie vielen Ländern, Eröffnungsfilm-Ankündigung, Begrüßung Regie, ein rotes Band wird durchgeschnitten, eine Sektflasche geköpft, ein Gong geschlagen, applaudiert oder so. Das kann natürlich nur zu einem Ritual werden, wenn man jährlich mit dabei ist, oder wenn man zu vielen verschiedenen Festivals geht.
Man kann auch für seinen Kinoabend ein Ritual haben: 1 Liter Cola, Nachos, nach einer Stunde aufs Klo. Das klingt erst Mal bescheiden, kann aber ausgebaut werden. Nachos finde ich ganz ok, in eine Art Kino-Ritual haben sie es aber bei mir nie geschafft und mit Lakritz könnte man mich jagen. Dass »Licorice« Lakritz heißt, ist mir erst nach dem Film aufgegangen. Licorice Pizza von Paul Thomas Anderson, benannt nach einer ehemaligen Schallplattenladenkette und einzelne Worte, die Anderson an seine Jugend erinnern, beschreibt eine Zeit, in der es scheinbar weniger Rituale gibt. In der Jugend ist man bereit, die in der Kindheit von anderen gegebenen Rituale abzuschütteln oder sie zumindest als solche zu erkennen und dann aktiv anzunehmen oder abzulehnen (um sie dann zwanzig Jahre später wieder aufzunehmen). Wilder Freiraum, in dem erst mal alles neu zu sein scheint: Schule, Partys, Freundschaften, Liebe ... im besten Fall ist nichts festgefahren und man überrascht sich ständig selber. Gary Valentine und Alana Kane begegnen sich Anfang der Siebziger, er ist 15 und sie 25 und entgegen dem, was ich eben geschrieben habe, sieht Gary in ihrer Begegnung eine ziemlich klare Sache: »Ich hab meine zukünftige Frau getroffen.« Ziemlich viel Gewissheit für dieses Alter. Gary wittert zudem überall Geschäftsideen: Zuerst ist er Schauspieler, dann macht er in Wasserbetten, dann in Spielautomaten. Anderson hält sich in dieser Liebesgeschichte nicht unbedingt an einen klassischen Aufbau – außer mit Garys Zielvorstellungssatz und dem Happy End –, dazwischen bewegt er sich charmant an Hollywood vorbei, obwohl es in L.A. spielt. Vieles ist gleichwertig, z.B. beide Personen und ihre jeweilige Geschichte und manches läuft Bekanntem zuwider, wie z.B. die Flucht mit einem alten Laster in den Hollywood Hills, rückwärts und ohne Benzin.
Dagegen ist Drive My Car von Ryusuke Hamaguchi, basierend auf einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami, voller Rituale. Der Schauspieler und Regisseur Yūsuke Kafuku ist verheiratet mit der Drehbuchautorin Oto. Oto findet ihre Geschichten während des gemeinsamen Sexes, sie erzählt sie ihm dann als eine Art zweiten Höhepunkt. Das Ritual, der Aktivierungsschub, die Lebendigkeit, bringen Oto dazu, ihre Phantasie ins Ungewöhnliche zu steigern. Einige Zeit nach ihrem Tod nimmt Kafuku einen Auftrag als Theaterregisseur in Hiroshima an, er soll dort Tschechows »Onkel Wanja« inszenieren. Die Rollen besetzt er mit Schauspieler*innen, die unterschiedliche Sprachen sprechen. Markierung für das Textende einer Figur wird durch ein Klopfen auf den Tisch gesetzt, ein Rhythmus, der den Text verkörperlicht. Kafuku fährt täglich mit seinem roten Saab 900 von seiner Unterkunft zum Probeort und während der Fahrten lernt er den einst von Oto eingesprochenen Wanja-Text. Sie ließ für ihn Lücken, in die er schlüpfen kann. Nun wird ihm in Hiroshima eine Fahrerin zur Seite gestellt, die in diesen für ihn sehr intimen Raum einbricht, ihn aber sowohl mit ihrem Gefühl für das Auto als auch mit ihrer eigenen Geschichte beeindruckt. Drive My Car handelt von Geschichten, von Texten, deren Inhalt ins Abstrakte fließt, ins Gefühl und wieder zurück. So kommt man von einem Rhythmus zu einem Verständnis. Zwischen all diesen persönlichen Ritualen finden individuelle Annäherungen statt, treffen sich Personen mit ihren Geschichten: Kafuku und die Fahrerin Misaki Watari oder auch der junge Schauspieler Kōji Takatsuki. Rituale bringen Beruhigung, Sicherheit, müssen dann aber aufgebrochen werden. Beim Theaterstück, durch den feierabendlichen Gang in die Bar oder durch das Proben im Park, bei den täglichen Autofahrten durch das Abkommen vom üblichen Fahrweg.
Watari fährt den Saab und Trinity fährt das Motorrad. Extremst guter Übergang zu Matrix Resurrections. In Serien oder auch Fortsetzungen freut man sich natürlich über Dinge, Sätze oder Bewegungen, die man wiedererkennt. Darin sieht man dann aber auch, ob die Fortsetzung diesen schmalen Grat von Altem zu Neuem, von Wiedererkennung zu neuem Input bzw. aktueller Relevanz schafft oder einfach nur in einer Wiederholungsschleife mit – äh ja – Déjà-vus hängen bleibt. Matrix gelingt beides ab und an ein bisschen: Aus den zwei Pillen sind unzählige geworden (zur Stabilisierung des Gemüts), die grünen Zeichenkaskaden bleiben, die Körperkokons sind immer noch die gleichen, Neo muss da schon wieder draus befreit werden und die Kämpfe kommen einem doch alle sehr bekannt vor. Ich mochte ihn trotzdem, ich mochte das ironische Cappuccino-Trinken, das Spieledesigner-Hipster-Leben, Neos/Keanu Reeves knallhart durchgezogenen, sehr monotonen Gesichtsausdruck und Look, der übergangslos bestehen bleibt, vom desillusionierten, müden in der Kreativ-Wirtschaft Arbeitenden bis hin zum kämpferischen Trinity-Befreier. Abgelaufen hat sich die Idee aber trotzdem. Aber allein der Kinogang wurde zu einem Ritual, indem ich davor die ersten drei Teile angesehen habe und ein bisschen aufgeregt war, wegen des Neuen.
Von »Matrix« gibt es bisher »nur« vier Filme, Star Wars ist ein ganzes, immer weiter wachsendes Universum, ich habe mir die neun Hauptfilme noch mal angesehen (und Solo und Rogue One). Hier gibt es auch Rituale, oft muss man die Todessterne oder imperialistischen Kreuzer durch einen besonders schmalen Schacht an ihrer Schwachstelle treffen. Dazu muss eine kleine Gruppe in relativ kurzer Zeit noch an Informationen kommen. Alle stehen unter Zeitdruck, und zum Schluss passiert alles parallel. Das fällt wahrscheinlich weniger auf, wenn man es alle Jahre mal sieht, hintereinander dann doch. Immer ein wenig wie eine Schnitzeljagd und viel von einem Computerspiel – im besten Sinne, denn hier hat jemand nicht nur an die Spielemechanik, sondern auch an die Story gedacht. Das sieht man auch an der Entwicklung der Figuren, ihren Zweifeln und Schwächen (dass sie nun wirklich alle immer aus ein bis zwei Genpools stammen müssen, dramatisiert die Story zwar, das Ganze wird dadurch aber sehr monarchistisch). Ich habe mir wöchentlich einen Film gegeben, das war ein sehr profanes Ritual, was nur aus einer Handlung bestand: Sonntags Star Wars gucken. Jetzt könnte ich mich an »The Mandalorian« und »Boba Fett« machen. Vielleicht folgt nun aber auch Der Pate, drei Filme, sehr kurz (wie Matrix). Ich bin mir nicht sicher, ob das dann schon ritualisiert werden kann, aber in meiner Serie der Aufarbeitung oder des Wiedersehens von Klassikern dann vielleicht doch. Ist alles eine Frage der Definition. Und wie zu Beginn schon geschrieben, wahrscheinlich entsprechen mir Mini-Serien allgemein einfach mehr als Serien.