Cinema Moralia – Folge 302
Sause in der Sommerpause |
||
Ende des Sharing-Streamens |
»Auf dem Weg zum Einkaufen in der Stadt fühlte ich mich dann, wie ein Wesen, das von einem anderen Planeten heruntergefallen ist. Schuld daran ist sicher auch das plötzlich ausgebrochene Frühlingswetter. Aber nicht nur.«
Rudolf Thomé, Moana-Tagebuch, 18.11.2009
»Die Serienblase ist geplatzt«, der ganze Serienboom »war in Wahrheit ein Schneeballsystem, wir haben uns alle dem Rausch der Goldgräberstimmung hingegeben«, erzählt die Serienautorin und »Kontrakt 18«-Initiatorin Annette Hess (»Weissensee«, »Ku'damm 56« und »Ku'damm 59«) im Wiener »Standard«, und gibt sich über all das sehr verwundert.
+ + +
Die Lage ist tatsächlich ernst, und der aktuelle Streik der Drehbuchautorinnen und Schauspieler in Hollywood wird alles noch etwas schlimmer machen: Sky streicht seine deutschen Fictionproduktionen, Disney kürzt massiv, Paramount verhandelt mit Banken wegen neuer Kredite. Der vielmilliardenschwere Streamingboom, angeblich das Geschäft der Zukunft, ist erst einmal gestoppt. Alles wird schmaler, kleiner, zugleich teurer.
Angebote und Plattformen werden ganz verschwinden. »Der Markt ist gesättigt« heißt das im Kapitalismusdeutsch. Und wenn die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland nicht nur »Funk«, sondern einen Funken Verstand und Kundenverständnis und kreativen Esprit hätten, und klüger wären, als sie sind, dann würden sie längst nicht nur ihr Programm in sogenannten Mediatheken zum Nachgucken anbieten, sondern ihre ganzen Mediatheken – in denen man sich nicht nur deswegen nicht zurechtfindet, weil das Menü ultrakompliziert und oldschool ist, und nicht verlässlich funktioniert –, wenn sie also ihre ganzen Mediatheken zu einer großen öffentlich-rechtlichen Megathek zusammenschmeißen würden.
+ + +
Es ist ein tolles Interview geworden, weil Frau Hess kein Blatt vor den Mund nimmt: »Das Ganze ist in Wahrheit ein Schneeballsystem gewesen, und dieser Elefant stand schon lange im Raum.« »Die Berufsanfänger werden es schwer haben. Und viele haben in den letzten Jahren an Serienkonzeptionen gearbeitet, mit der großen Hoffnung, einen Coup zu landen. Das war ein Stück weit umsonst, und es herrscht großer Frust. Auch bedingt durch die massive Absagewelle der letzten Monate –
die noch lange nicht abgeebbt ist.«
»Früher wollten alle fürs Kino schreiben, heute wollen alle ihre eigene Serie kreieren und sind sich zu schade für Unterhaltung. Das rächt sich jetzt.«
Auch vor KI hat Hess keine Angst: »Ich bilde mir aber ein, dass man die Seelenlosigkeit wahrnimmt. Ich habe ChatGPT aufgefordert, einen Liedtext im Stil von Till Lindemann zum Thema Bauernopfer zu schreiben. Antwort: 'Sowas machen wir hier nicht. Wir gehen respektvoll miteinander um.' Das Ding kann keinen Dreck, keinen Sex, keine Unkorrektheit, nichts Gefährliches. Widersprüchlichkeit und Doppelbödigkeit – alles, was Geschichten aufregend macht, kann KI nicht. Aber das wollen die Leute sehen, das wird gebinged. Deshalb wird uns das als Geschichtenerzähler nicht ersetzen. ... KI ist ein Banalitätenbomber.«
+ + +
In einem Punkt möchten wir Frau Hess allerdings korrigieren und ihr wünschen, dass sie in Zukunft, wenn sie wieder mehr Zeit hat, ihre Lektüreliste ändert. Sie behauptet – und ich finde, da tut sie ein bisschen naiver, als sie vermutlich ist: »Es ist nicht mein Job, ich bin ja keine Produzentin. Aber ich finde schon interessant, dass das nicht mal jemand durchgerechnet hat. Wo kommt das ganze Geld her, das da reingepumpt wird, und wie soll da ein Gewinn herauskommen?«
Wir bei »artechock« haben genau das geschrieben, schon vor vielen Jahren und zwar mehr als einmal. Schon 2018 stand an dieser Stelle unter dem Titel: »Die Wutbürger von Netflix und ihre Schulden«: »Die Finanzierungsfrage ist die offene Flanke des Unternehmens.« »Der Streaming-Dienst erkauft seinen rasanten Ausbau in Eigenproduktion nämlich mit einem rasant wachsenden Schuldenberg… im operativen Geschäft sind solche Kosten auch mit 137 Millionen Abonnenten nicht einzuspielen.«
Wir haben sehr klar geschrieben, dass es bei Netflix um nichts anderes geht, als mit Dumping-Preisen komplett destruktiv die Konkurrenz einfach noch ein bisschen schneller sterben zu lassen, als man selber sterben wird. Es ging darum, das Kino kaputt zu machen, und darum hat ein Filmfestival wie das von Cannes vollkommen recht, wenn es solchen üblen Wertvernichtern nicht auch noch den roten Teppich ausrollt – wie das viele deutsche Beobachter, also sogenannte Filmkritiker, an Cannes gerne gehabt hätten.
Oder, bei anderer Gelegenheit: »Sie häufen riesige Schulden übereinander, und es ist schon jetzt klar, dass es zu einer Flurbereinigung kommt und zu einer gegenseitigen Kannibalisierung dieser Streamer. Man fragt sich heute eigentlich nicht mehr: Wird Netflix verkauft? Sondern man fragt sich nur noch. An wen wird Netflix verkauft? Und man kann ziemlich sicher sein, dass wir in den nächsten zwei drei Jahren eine Art Erdbeben in der Streaminglandschaft erleben...«
+ + +
Durch die Sommerferienzeit und die parlamentarische Sommerpause suppt die Filmpolitik irgendwie trotzdem weiter. Denn die sogenannte »Kulturstaatsministerin« – ihr tatsächlicher Titel ist »Bundesbeauftragte für Kultur und Medien« (BKM) – hat bekanntlich schon Anfang des Jahres angekündigt, die Filmförderung grundlegend zu reformieren. Claudia Roth war damit zwar schon im Februar spät dran, lässt sich aber viel mehr Zeit, als angekündigt.
Die Reaktion vieler Verbände auf die Vorschläge folgt dem Agendasetting durch die Bundeskulturministerin.
Immer wieder zu lesen ist auch die Behauptung, erst Pandemie und Streaming hätten die Film- und Kinolandschaft massiv verändert, und nun müsse die Politik reagieren. Tatsächlich wird in dieser Darstellung wieder das Narrativ der BKM bestätigt und zudem tut man so, als ob die Krise an Pandemie und Streaming läge und nicht an schlechten Bedingungen in Deutschland, nicht an einem Fernsehen, das sich aus der Verantwortung zieht, und überhaupt an Marktveränderungen, die nicht etwas mit den letzten drei Jahren zu tun haben.
Viele Ansätze der BKM gehen in die richtige Richtung: Format offener zu fördern, wieder mehr Genre zu fördern, ist gut. Aber es ist zu allgemein und unentschieden. Die Förderer schießen mit Schrot, um überall ein bisschen dabei zu sein.
Zwei Schwachstellen von Roths Konzept sind offensichtlich: Sie blendet das immer geringere Engagement des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aus und scheut den Kampf um die Erfüllung des Kulturauftrags, der Film ganz explizit beinhaltet. Trotzdem werden immer weniger Kinofilme co-produziert.
Zweiter Punkt: Filmförderung ist oft Ländersache. Auf jedes einzelne der 16 Bundesländer kann die BKM nur durch öffentliche Debatte oder durch Verhandlungen mit allen 16 Ministern
Einfluss nehmen.
Was dem Kino und seinen Machern vor allem helfen würde, sind einfach viel viel weniger Bürokratie und viel viel mehr Flexibilität.
Nicht immer neue Vorschriften, mögen sie auch noch so guten und wichtigen Sachen dienen, wie der Diversität, der Gleichstellung und der Umwelt. Aber auch so etwas muss letztendlich die Gesellschaft selber regeln, es kann und wird nicht durch Vorschriften von oben aufoktroyiert werden.
+ + +
Aber Claudia Roth hat noch anderen Ärger, der ausnahmsweise mal nichts mit ihrer Zuständigkeit für Kino und Film zu tun hat. Die Frankfurter Allgemeine berichtet über einen Fall, den wir hier auch erwähnen wollen. Denn alles ist leider so typisch für das Politikverständnis dieser Ministerin; das Schlimmste hat ja auch im letzten Jahr die Causa »documenta XV« gezeigt. Eine Ministerin, die nämlich eigentlich eine antipolitische Ministerin ist, die ausschließlich aufs eigene
Image bedacht ist, darauf, gut und bedeutsam auszusehen, aber nichts riskiert, nichts wagt, für nichts steht, außer für ein paar wohlfeile Allgemeinplätze, die Bekenntnisse zu Menschenrechten oder zu einem anständigen Umgang mit der deutschen Vergangenheit – alles gut, aber Selbstverständlichkeiten.
Eine Ministerin, die ansonsten alles aussitzt wie Helmut Kohl zu seinen allerschlimmsten Zeiten, die sich nicht festlegt, und die Politik eigentlich nur für ihren Parteitag
macht, aber nicht für die Menschen, für die sie zuständig ist.
Es geht um den Vorwurf, dass die Ministerin ihren Amtspflichten nicht nachkomme. Unter dem Titel »Die Staatsministerin ist betroffen und schaut zu« steht (leider hinter der Paywall), dass Mitarbeiter der »Arolsen Archives« – einer Institution, die den Auftrag hat, alles, was man über Opfer und Verfolgte des NS-Regimes in Erfahrung bringen kann, zu sammeln und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen – massive Mobbingvorwürfe gegen die Leitung der Behörde erheben.
Die FAZ berichtet, dass der Rechtsanwalt Daniel Vogel der BKM ein Dossier geschickt hat, in dem mehr als 25 Mitarbeiter der Direktorin und dem Vizedirektor Steffen Baumheier vorwerfen, an dem Archiv »eine Kultur der Angst geschaffen zu haben«.
Von systematischem Drangsalieren ist die Rede, Einschüchterung, Krankheit, Depressionen und Angstzuständen, Veruntreuung und Vetternwirtschaft, Sadismus und persönlicher Demontage, Druck und Sätzen wie »Ich mache dir das Leben zur Hölle«. Man könnte das noch lange weitererzählen.
Entscheidend aber ist, dass Roth, als Chefin des BKM mit 16,4 Millionen Euro jährlich alleiniger Finanzgeber, an der Aufklärung und auch nur unabhängiger Prüfung der Vorwürfe komplett desinteressiert ist. Ja, die grüne Politikerin gibt den Beschwerdeführern keine Akteneinsicht und versucht die Affäre lautlos zu entsorgen.
Roth spielt auch hier auf Zeit, oder ist zu faul oder zu unorganisiert, um ihre Aufgaben fristgerecht zu erledigen. Zunächst sollte ihr Bericht
Anfang August vorliegen, nun ist von Herbst die Rede.
Nachfragen der FAZ blieben unbeantwortet. »Außerdem, so die Klage der Mitarbeiter, sei nichts unternommen worden, um sie während der laufenden Untersuchung vor weiteren Angriffen zu schützen, obwohl die Schikanen seither andauerten, wie 23 namentlich genannte Mitarbeiter in einem neuerlichen Brief an Staatsministerin Roth beklagen.«
Nach Ansicht des Anwalts hat Roth die Amtspflicht, gesetzwidriges Verhalten nicht zu
finanzieren.
Wie passt die Duldung potentieller Willkürherrschaft und undurchsichtigen Gebarens zu einer Ministerin, die sich bei jeder Gelegenheit für Transparenz und Respekt einsetzt?
Warten wir ab, ob Claudia Roth diesen Fall aussitzen kann.