09.02.2023
Cinema Moralia – Folge 294

»Man verliert sein Exis­tenz­recht, wenn man Angst hat, zu provo­zieren!«

Jeder schreibt für sich allein
Über Schriftsteller im Nationalsozialismus: Dominik Grafs neuer Film Jeder schreibt für sich allein
(Foto: Lupa Film, Markus Schindler | Woche der Kritik Berlin)

Für Eskapismus zahlt man den Preis: Holland, Syberberg, Graf und die Lage des Autorenkinos – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 294. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Kein System hält den durch­wachten Nächten stand. Unter der Analyse der Schlaf­lo­sig­keit fallen die Gewiss­heiten ausein­ander.« – Emile Cioran

»We are up all night to get lucky.« – Daft Punk

»Gute Filme brauchen die Kraft der Regie. Wir formen aus vielen künst­le­ri­schen Einzel­leis­tungen ein Ganzes. Wir sind die zentralen Urheber eines Filmwerks. Wir tragen die künst­le­ri­sche Verant­wor­tung, uns obliegt deshalb die Leitung aller notwen­digen künst­le­ri­schen Prozesse.« – »RegieJetzt!«, BVR-Papier

Die Berlinale macht es ihren Gegnern mal wieder leicht: Ich möchte doch von einem Festival heraus­ge­for­dert werden. Ich möchte doch nicht, dass alle meine Vorur­teile, die ich leider habe, bestätigt oder noch überboten werden. Das genau ist aber wieder der Fall. Die in einer guten Woche begin­nende Berlinale 2023 zeigt zwar viel zu viele deutsche Filme, von denen viele nach mensch­li­chem Ermessen und unseren einschlä­gigen Erfah­rungen nach reichlich medioker sein werden, aber sie zeigt schon mal zwei nicht, die sie zeigen müsste. Die FAZ und die »Welt« haben schon darüber berichtet, dass die Demminer Gesänge, die erste Arbeit seit über dreißig Jahren des großen – und ja: umstrit­tenen, aber eben auch singulären – Regis­seurs Hans Jürgen Syperberg von der Berlinale abgelehnt wurde.
Man kann über Syberberg ja verschie­dener Ansicht sein. Man kann ihn – wie manche, gerade Junge, Schlaue, Unschul­dige das aus meiner Sicht zu Unrecht tun – persön­lich verdammen, ihm massive Vorwürfe ad hominem machen, und so der Ausein­an­der­set­zung über seine Kunst auswei­chen. Aber um sich überhaupt eine begrün­dete Meinung bilden zu können, müssen die Filme doch gezeigt werden! Was nicht gezeigt werden muss, das sind irgend­welche 08/15-Sachen, die sowieso in ein paar Wochen im Fernsehen kommen.

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Worüber bislang nicht geschrieben wurde: Die Berlinale hat auch den neuen Film von Dominik Graf abgelehnt. Und das ist nichts Anderes als ein Skandal!!
Dies nicht etwa, weil etwa Dominik Graf ein Anrecht hätte, mit jedem seiner Firma auf der Berlinale gezeigt zu werden – so etwas hat nur Christian Petzold – sondern weil dieser Film ein Stich ins Herz unserer derzei­tigen deutschen Debatten und Probleme ist. Es ist ein histo­ri­scher Film, ein Doku­men­tar­film, er heißt Jeder schreibt für sich allein und basiert auf dem gleich­na­migen Buch von Anatol Regnier. Es ist ein Film, der von Kompro­missen und von Oppor­tu­nismus, von mora­li­schen Abgründen und Empa­thie­lo­sig­keit handelt, von Verhal­tens­lehren der Kälte und der Wärme, von Bücher­ver­bren­nungen und Arran­ge­ments. Es ist ein Film, der Linien zieht zu unseren eigenen Verhält­nissen, zum Tota­li­ta­rismus der Gegenwart – und zwar dem in den west­li­chen Demo­kra­tien – und zum Terro­rismus der jüngeren Vergan­gen­heit, von Willi Vesper zu Bernhard Vesper, dem Mann von Gudrun Ensslin, der Linien zieht von Gottfried Benn zu Günter Rohrbach, von Erich Kästner zu Dominik Graf selber, zu unseren Eltern und Großel­tern und unserer eigenen Zukunft.
Es ist ein großer Film, der schön und extrem schmerz­haft ist, jeden­falls für mich. Und nicht nur für mich, da bin ich sicher. Und der allein schon deswegen unbedingt verdient, dass ihn jeder sieht. Glück­li­cher­weise kann man ihn sehen, nächste Woche. Nicht auf der Berlinale, aber während der Berlinale, parallel zu ihr in der »Woche der Kritik«. Gratu­la­tion an das Team um Dennis Vetter, dass sie diesen Film bekommen haben und dass sie ihn genommen haben. Und weil sie ihn genommen haben, bin ich sicher, dass auch ihre anderen Filme sich lohnen.

Wir werden über den Film ausführ­lich berichten, aber nicht heute. Nur empfehlen wollen wir ihn schon jetzt. Jeder, der kann, sollte sich schleu­nigst Karten besorgen für eine der beiden Berliner Vorstel­lungen

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Schon am kommenden Montag ist Graf in Berlin zu Gast bei einer Runde in der Akademie der Künste. Um nichts Gerin­geres als das Wesen des Kinos soll es da gehen. Na dann…
Der Titel »Content versus Film« schon sagt das Wich­tigste: Film ist eben kein »Content«.

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Vor über drei Jahren im Gefolge der Affäre um den seiner­zei­tigen hessi­schen Film­för­derer Mendig, und dem Aufstand der deutschen Filme­ma­cher gegen dessen rechts­of­fenen Verhal­tens­weisen, forderten wir auch an dieser Stelle ein Netzwerk »Film gegen Rechts«. Wo bleibt denn ein solches Netzwerk? war unsere Frage. Inzwi­schen gibt es das. Ein Netzwerk, das zwar explizit kein Netzwerk »gegen Rechts« sein will, das sich diesem Namen verwei­gert und sich dafür diffuser »Netzwerk Film & Demo­kratie« nennt, aber immerhin. De facto ist dies aber natürlich (und jeder weiß es) ein Netzwerk gegen Rechts. Jetzt gab es ein erstes halböf­fent­li­ches Vorstel­lungs­treffen dieses Netzwerks vor Verbänden und ihren einge­la­denen Teil­neh­mern. Weil auch Bericht­erstatter anwesend waren, wollen wir ohne explizit zu berichten, doch zumindest an einer Stelle daraus zitieren.
Denn Agnieszka Holland, die Grande Dame des polni­schen und viel­leicht europäi­schen Kinos, die dabei zu Gast war, um von den poli­ti­schen Verhee­rungen in ihrer Heimat Polen zu berichten, sagte auch einige Dinge, die wir uns alle eine Woche vor der Berlinale ins Gedächtnis rufen sollten. Es ging um die Lage des europäi­schen Autoren­films.

Holland benannte ohne Umschweife die anti­pro­gres­siven und antieman­zi­pa­to­ri­schen Tendenzen im heutigen Film: »Ich sehe nicht viele mutige Filme, die gemacht werden. Die Tendenz der öffent­li­chen Filmfonds und Film­för­derer geht dahin, sich den Streaming-Platt­formen anzu­passen. Die Streaming-Platt­formen haben mehr und mehr Macht. Sie mögen keine Kontro­versen. Sie wissen, dass sie ihre Zuschau­er­schichten verlieren, wenn sie irgend­etwas Kontro­verses machen, irgend­etwas Unan­ge­nehmes. Darum wollen sie 'midd­le­ground'.
Wenn man ein Künstler oder ein Filme­ma­cher ist, muss man provo­zieren. Wenn man Angst hat, zu provo­zieren, dann verliert man sein Exis­tenz­recht. Ich glaube, dass wir in Polen einige extreme Ausfor­mungen dieser Haltung erleben. Aber es geht eben nicht nur um Polen, den Prozess, den ich beschreibe, der ist ein globaler Prozess. ...«

Künstler können natürlich das tun, was sie wollen. Aber in einer Situation, wie der unsrigen mit so vielen Heraus­for­de­rungen, ist die Haltung, den tatsäch­li­chen Problemen den Rücken zuzu­wenden, eine Form von Eska­pismus. Und für diesen Eska­pismus zahlt man den Preis. Und Teil dieses Preises ist, dass wir unser Publikum verlieren!

Wir sind nicht gut genug im Enter­tain­ment, um die Ameri­kaner zu schlagen, und wir berühren nicht wirklich den Kern dessen, was in der Zukunft relevant ist. Neue Filme haben eine nette Mittel­mäßig­keit, (nice medio­cracy), ich glaube, das ist einer der Gründe, warum das Publikum davon nicht angezogen ist. Das Publikum haut ab, weil das Kino nicht mutig genug ist. Es ist feige in jedem Bereich, es ist klein­bür­ger­lich, es ist nett, es ist süß, es ist sensibel, aber es ist nicht auf dem Niveau der Heraus­for­de­rung unserer Zeit.
Wir müssen mutiger sein; wir müssen mutige Filme machen. Aber auch die Leute, die darüber entscheiden, wo das Geld ausge­geben wird, produ­zieren Luxus­pro­dukte. Aber das ist nicht das, was Kunst sein sollte und das ist nicht das, was Filmkunst zu ihren besten Zeiten gewesen ist.

Alles was sie sagte, gilt eigent­lich auch für Film­fes­ti­vals.

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Im deutschen Kino, das künst­le­risch schon seit einigen Jahren nicht über­zeugen kann, ist so manches aus den Fugen geraten. Zum Beispiel wird zunehmend der Autoren­film als solcher ange­griffen, insbe­son­dere von Dreh­buch­au­toren. Die Selbst­er­mäch­ti­gung der Dreh­buch­au­toren trägt den Namen »Kontrakt 18«. Und sie hat, wenn man ihr nicht nach­drück­lich entge­gen­tritt, schwere Folgen vor allem für das Kino. Zudem bietet sie eine Art Hebel, mit dem die Fern­seh­sender sich ihre schwin­dende Macht und Kontrolle über Produ­zenten und Regis­seure zurück­zu­er­obern suchen. Unter der Maske der Aner­ken­nung, des Respekts und der Wert­schät­zung verbirgt sich die schiere Kontrollwut.

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Jetzt endlich regt sich Wider­stand. Hoffent­lich nicht zu spät. In einer Erklärung, die uns bereits vorliegt und die in zwei Tagen veröf­fent­licht werden wird, ergreift der Bundes­ver­band Regie (BVR) die Initia­tive und definiert die tatsäch­li­chen Aufgaben der Regie. Verbunden mit Vorschlägen für praxis­ge­rechte Arbeits­be­din­gungen.

Es geht darum, die künst­le­ri­sche Krea­ti­vität zu befreien und denje­nigen, die es leider nicht besser wissen, in Politik, Förderung und Sendern, klar zu machen, dass ein Drehbuch viel unwich­tiger ist, als sie glauben. Dass es nicht mehr ist als Material für den erst noch zu machenden Film, und keines­wegs dieser Film selber. Es muss klar werden, dass Dreh­buch­au­toren zuar­beiten, nicht mehr, und dass sie nicht wichtiger sind, oft unwich­tiger, als die Bild­ge­stal­tung durch die Kamera, das Schau­spiel, oder die Montage. Es muss auch klar gemacht werden, dass längst nicht jeder Film auf der Grundlage eines Drehbuchs entsteht, und dass fast alle erfolg­rei­chen Filme Autoren­filme sind, also Filme, bei denen der Regisseur das Drehbuch selbst geschrieben hat oder mindes­tens entschei­dend mitar­beitet.

In dem Papier des BVR heißt es unter anderem: »Gute Filme brauchen die Kraft der Regie. Wir formen aus vielen künst­le­ri­schen Einzel­leis­tungen ein Ganzes. Wir sind die zentralen Urheber eines Filmwerks. Wir tragen die künst­le­ri­sche Verant­wor­tung, uns obliegt deshalb die Leitung aller notwen­digen künst­le­ri­schen Prozesse.«
Mehr ist zu diesem Thema inhalt­lich eigent­lich nicht zu sagen. Weil wir uns ausrechnen können, dass der Gegen­an­griff der Dreh­buch­au­toren und ihrer Funk­ti­onäre nicht lange auf sich warten lassen wird, werden wir vermut­lich an dieser Stelle noch öfters über die Ange­le­gen­heit berichten.

(To be continued)