Cinema Moralia – Folge 294
»Man verliert sein Existenzrecht, wenn man Angst hat, zu provozieren!« |
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Über Schriftsteller im Nationalsozialismus: Dominik Grafs neuer Film Jeder schreibt für sich allein | ||
(Foto: Lupa Film, Markus Schindler | Woche der Kritik Berlin) |
»Kein System hält den durchwachten Nächten stand. Unter der Analyse der Schlaflosigkeit fallen die Gewissheiten auseinander.« – Emile Cioran
»We are up all night to get lucky.« – Daft Punk
»Gute Filme brauchen die Kraft der Regie. Wir formen aus vielen künstlerischen Einzelleistungen ein Ganzes. Wir sind die zentralen Urheber eines Filmwerks. Wir tragen die künstlerische Verantwortung, uns obliegt deshalb die Leitung aller notwendigen künstlerischen Prozesse.« – »RegieJetzt!«, BVR-Papier
Die Berlinale macht es ihren Gegnern mal wieder leicht: Ich möchte doch von einem Festival herausgefordert werden. Ich möchte doch nicht, dass alle meine Vorurteile, die ich leider habe, bestätigt oder noch überboten werden. Das genau ist aber wieder der Fall. Die in einer guten Woche beginnende Berlinale 2023 zeigt zwar viel zu viele deutsche Filme, von denen viele nach menschlichem Ermessen und unseren einschlägigen Erfahrungen nach reichlich medioker sein werden, aber sie zeigt
schon mal zwei nicht, die sie zeigen müsste. Die FAZ und die »Welt« haben schon darüber berichtet, dass die Demminer
Gesänge, die erste Arbeit seit über dreißig Jahren des großen – und ja: umstrittenen, aber eben auch singulären – Regisseurs Hans Jürgen Syperberg von der Berlinale abgelehnt wurde.
Man kann über Syberberg ja verschiedener Ansicht sein. Man kann ihn – wie manche, gerade Junge, Schlaue, Unschuldige das aus meiner Sicht zu Unrecht tun – persönlich verdammen, ihm massive Vorwürfe ad hominem machen, und so der Auseinandersetzung über seine Kunst
ausweichen. Aber um sich überhaupt eine begründete Meinung bilden zu können, müssen die Filme doch gezeigt werden! Was nicht gezeigt werden muss, das sind irgendwelche 08/15-Sachen, die sowieso in ein paar Wochen im Fernsehen kommen.
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Worüber bislang nicht geschrieben wurde: Die Berlinale hat auch den neuen Film von Dominik Graf abgelehnt. Und das ist nichts Anderes als ein Skandal!!
Dies nicht etwa, weil etwa Dominik Graf ein Anrecht hätte, mit jedem seiner Firma auf der Berlinale gezeigt zu werden – so etwas hat nur Christian Petzold – sondern weil dieser Film ein Stich ins Herz unserer derzeitigen deutschen Debatten und Probleme ist. Es ist ein historischer Film, ein Dokumentarfilm, er heißt Jeder schreibt für sich allein und basiert auf dem gleichnamigen Buch von Anatol Regnier. Es ist ein Film, der von Kompromissen und von Opportunismus, von moralischen Abgründen und Empathielosigkeit handelt, von Verhaltenslehren der Kälte und der Wärme, von Bücherverbrennungen und Arrangements. Es ist ein Film, der Linien zieht zu unseren eigenen Verhältnissen, zum Totalitarismus der Gegenwart – und zwar dem in den westlichen Demokratien
– und zum Terrorismus der jüngeren Vergangenheit, von Willi Vesper zu Bernhard Vesper, dem Mann von Gudrun Ensslin, der Linien zieht von Gottfried Benn zu Günter Rohrbach, von Erich Kästner zu Dominik Graf selber, zu unseren Eltern und Großeltern und unserer eigenen Zukunft.
Es ist ein großer Film, der schön und extrem schmerzhaft ist, jedenfalls für mich. Und nicht nur für mich, da bin ich sicher. Und der allein schon deswegen unbedingt verdient, dass ihn jeder sieht.
Glücklicherweise kann man ihn sehen, nächste Woche. Nicht auf der Berlinale, aber während der Berlinale, parallel zu ihr in der »Woche der Kritik«. Gratulation an das Team um Dennis Vetter, dass sie diesen Film bekommen haben und dass sie ihn genommen haben. Und weil sie ihn genommen haben, bin ich sicher, dass auch ihre anderen Filme sich lohnen.
Wir werden über den Film ausführlich berichten, aber nicht heute. Nur empfehlen wollen wir ihn schon jetzt. Jeder, der kann, sollte sich schleunigst Karten besorgen für eine der beiden Berliner Vorstellungen
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Schon am kommenden Montag ist Graf in Berlin zu Gast bei einer Runde in der Akademie der Künste. Um nichts Geringeres als das Wesen des Kinos soll es da gehen. Na dann…
Der Titel »Content versus Film« schon sagt das Wichtigste: Film ist eben kein »Content«.
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Vor über drei Jahren im Gefolge der Affäre um den seinerzeitigen hessischen Filmförderer Mendig, und dem Aufstand der deutschen Filmemacher gegen dessen rechtsoffenen Verhaltensweisen, forderten wir auch an dieser Stelle ein Netzwerk »Film gegen Rechts«. Wo bleibt denn ein solches Netzwerk? war unsere Frage. Inzwischen gibt es das. Ein Netzwerk, das zwar explizit kein Netzwerk »gegen Rechts« sein will, das sich diesem Namen verweigert und sich dafür diffuser »Netzwerk Film & Demokratie« nennt, aber immerhin. De facto ist dies aber natürlich (und jeder weiß es) ein Netzwerk gegen Rechts. Jetzt gab es ein erstes halböffentliches Vorstellungstreffen dieses Netzwerks vor Verbänden und ihren eingeladenen Teilnehmern. Weil auch Berichterstatter anwesend waren, wollen wir ohne explizit zu berichten, doch zumindest an einer Stelle daraus zitieren.
Denn
Agnieszka Holland, die Grande Dame des polnischen und vielleicht europäischen Kinos, die dabei zu Gast war, um von den politischen Verheerungen in ihrer Heimat Polen zu berichten, sagte auch einige Dinge, die wir uns alle eine Woche vor der Berlinale ins Gedächtnis rufen sollten. Es ging um die Lage des europäischen Autorenfilms.
Holland benannte ohne Umschweife die antiprogressiven und antiemanzipatorischen Tendenzen im heutigen Film: »Ich sehe nicht viele mutige Filme, die gemacht werden. Die Tendenz der öffentlichen Filmfonds und Filmförderer geht dahin, sich den Streaming-Plattformen anzupassen. Die Streaming-Plattformen haben mehr und mehr Macht. Sie mögen keine Kontroversen. Sie wissen, dass sie ihre Zuschauerschichten verlieren, wenn sie irgendetwas Kontroverses machen, irgendetwas
Unangenehmes. Darum wollen sie 'middleground'.
Wenn man ein Künstler oder ein Filmemacher ist, muss man provozieren. Wenn man Angst hat, zu provozieren, dann verliert man sein Existenzrecht. Ich glaube, dass wir in Polen einige extreme Ausformungen dieser Haltung erleben. Aber es geht eben nicht nur um Polen, den Prozess, den ich beschreibe, der ist ein globaler Prozess. ...«
Künstler können natürlich das tun, was sie wollen. Aber in einer Situation, wie der unsrigen mit so vielen Herausforderungen, ist die Haltung, den tatsächlichen Problemen den Rücken zuzuwenden, eine Form von Eskapismus. Und für diesen Eskapismus zahlt man den Preis. Und Teil dieses Preises ist, dass wir unser Publikum verlieren!
Wir sind nicht gut genug im Entertainment, um die Amerikaner zu schlagen, und wir berühren nicht wirklich den Kern dessen, was in der Zukunft relevant ist. Neue Filme haben eine nette Mittelmäßigkeit, (nice mediocracy), ich glaube, das ist einer der Gründe, warum das Publikum davon nicht angezogen ist. Das Publikum haut ab, weil das Kino nicht mutig genug ist. Es ist feige in jedem Bereich, es ist kleinbürgerlich, es ist nett, es ist süß, es ist sensibel, aber es ist nicht auf dem
Niveau der Herausforderung unserer Zeit.
Wir müssen mutiger sein; wir müssen mutige Filme machen. Aber auch die Leute, die darüber entscheiden, wo das Geld ausgegeben wird, produzieren Luxusprodukte. Aber das ist nicht das, was Kunst sein sollte und das ist nicht das, was Filmkunst zu ihren besten Zeiten gewesen ist.
Alles was sie sagte, gilt eigentlich auch für Filmfestivals.
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Im deutschen Kino, das künstlerisch schon seit einigen Jahren nicht überzeugen kann, ist so manches aus den Fugen geraten. Zum Beispiel wird zunehmend der Autorenfilm als solcher angegriffen, insbesondere von Drehbuchautoren. Die Selbstermächtigung der Drehbuchautoren trägt den Namen »Kontrakt 18«. Und sie hat, wenn man ihr nicht nachdrücklich entgegentritt, schwere Folgen vor allem für das Kino. Zudem bietet sie eine Art Hebel, mit dem die Fernsehsender sich ihre schwindende Macht und Kontrolle über Produzenten und Regisseure zurückzuerobern suchen. Unter der Maske der Anerkennung, des Respekts und der Wertschätzung verbirgt sich die schiere Kontrollwut.
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Jetzt endlich regt sich Widerstand. Hoffentlich nicht zu spät. In einer Erklärung, die uns bereits vorliegt und die in zwei Tagen veröffentlicht werden wird, ergreift der Bundesverband Regie (BVR) die Initiative und definiert die tatsächlichen Aufgaben der Regie. Verbunden mit Vorschlägen für praxisgerechte Arbeitsbedingungen.
Es geht darum, die künstlerische Kreativität zu befreien und denjenigen, die es leider nicht besser wissen, in Politik, Förderung und Sendern, klar zu machen, dass ein Drehbuch viel unwichtiger ist, als sie glauben. Dass es nicht mehr ist als Material für den erst noch zu machenden Film, und keineswegs dieser Film selber. Es muss klar werden, dass Drehbuchautoren zuarbeiten, nicht mehr, und dass sie nicht wichtiger sind, oft unwichtiger, als die Bildgestaltung durch die Kamera, das Schauspiel, oder die Montage. Es muss auch klar gemacht werden, dass längst nicht jeder Film auf der Grundlage eines Drehbuchs entsteht, und dass fast alle erfolgreichen Filme Autorenfilme sind, also Filme, bei denen der Regisseur das Drehbuch selbst geschrieben hat oder mindestens entscheidend mitarbeitet.
In dem Papier des BVR heißt es unter anderem: »Gute Filme brauchen die Kraft der Regie. Wir formen aus vielen künstlerischen Einzelleistungen ein Ganzes. Wir sind die zentralen Urheber eines Filmwerks. Wir tragen die künstlerische Verantwortung, uns obliegt deshalb die Leitung aller notwendigen künstlerischen Prozesse.«
Mehr ist zu diesem Thema inhaltlich eigentlich nicht zu sagen. Weil wir uns ausrechnen können, dass der Gegenangriff der Drehbuchautoren und ihrer
Funktionäre nicht lange auf sich warten lassen wird, werden wir vermutlich an dieser Stelle noch öfters über die Angelegenheit berichten.
(To be continued)