Cinema Moralia – Folge 298
Gefühlte Wahrheiten... |
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Eröffnungsfilm der Grazer Diagonale: La bête dans la jungle | ||
(Foto: Patric Chiha | Diagonal Graz) |
»Die Kritik der gegenwärtigen Produktion richtet sich mithin keineswegs ausschließlich gegen die Industrie, sie wird genauso an der Öffentlichkeit geübt, die dieser Industrie sich auszuleben erlaubt. Mitgefangen, mitgehangen – das gilt hier im strengen Sinn.«
Siegfried Kracauer: »Der heutige Film und sein Publikum«, 1928»Kulturkritik teilt mit ihrem Objekt dessen Verblendung.«
Th. W. Adorno: »Prismen – Kulturkritik und Gesellschaft«»'Sammle den Untergang' hieß es unlängst, es klang wie ein Gebot. Das möchte ich nicht. Wenn es eine Bitte wäre, so wäre sie zu überlegen, aber Gebote jagen mir Angst ein.«
Ilse Aichinger: »Schlechte Wörter«
Prismen – das Licht ist gebrochen und strahlt in allen Regenbogenfarben, das Material ist grob, in den ersten Momenten denkt man, hier hat jemand Found Footage zusammengetragen, Dokumentarfilme aus den 70er, den 60er, vielleicht sogar den 50er Jahren. Ziegelrot leuchtet New York City, es ist eine andere Stadt als die saubere, aufgeräumte Metropole, die wir heute kennen. Es ist die Stadt von Filmen wie Cruising und Brennpunkt Brooklyn. Eine andere Ära – das leitet den Abend ein auf eine Weise, mit der man in diesem Moment noch gar nicht rechnen kann.
Es sind dann doch Bilder von heute, das Licht steht schräg in ihnen und es ist 16 Millimeter-Material, das der kurze Film »NYC RGB« von Viktoria Schmid zeigt, mit dem der Eröffnungsabend der
Diagonale ‘23 losgeht.
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Die Schönheit der Bilder, die zum Prisma für alle möglichen individuellen Sehnsüchte werden, wird abgenommen und weitergeführt, entfaltet von der Eröffnungsrede des Intendantenduos. »… und am Ende die Silhouette des ikonischen Empire State Building. Ein neuer Tag beginnt, die Zeit nimmt ihren Lauf. Wenn uns ein Lichtstrahl von Graz aus nach New York mitnehmen kann, dann sind wir im Kino.«
Es ist nicht die letzte Diagonale, aber es ist die letzte von Sebastian und Peter, also von Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger, die nach acht kurzweiligen, pandemiebedingt langen, begeisternden Jahren aufhören.
Noch einmal zeigen die beiden in dieser Eröffnungsrede und mit dieser Eröffnung, was sie immer am allerbesten konnten: begeistern, verbinden, entfesseln, popularisieren im allerbesten Sinn des Wortes, nämlich Popmomente schaffen, also Intelligenz und Sexyness, Film und Musik, Gefundenes und Erfundenes und das Wissen darum, dass es nichts Neues gibt, mit dem ganz innovativen und die Innovation performativ perfekt zusammenführen.
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»Das Aufregende am Kino ist ja vielleicht, dass wir hier in dieser portionierten Momentgemeinschaft alle die gleiche Postkarte erhalten und doch möglicherweise einen ganz anderen Film gesehen haben. Denn im Kino liegen individuelles Fühlen und kulturindustrielles Kalkül so nah beieinander wie kaum woanders. Was individuell gefühlt werden soll, wird häufig minutiös geplant, gewiss ist jedoch nichts – wirklich niemals –, und stets bleibt eine Lücke. Gefühlte Wahrheiten sind das Geschäft des Kinos und der Kunst, im besten Fall nicht jenes der Politik«, so heißt es dann.
Und weiter geht es um das Vermögen des Kinos, uns aus dem »oft allzu eingezäunten Schrebergarten« herauszureißen in die Perspektiven und Erlebnisse der Anderen. Sie reden von Sehnsuchtsorten, Kulissen, Abenteuern, Liebesbekundungen, auch dem Grauen. Gefeiert wird die Dissonanz des Kinos, die »der eigenen Engstirnigkeit und Kleinkariertheit den Marsch bläst.«
Kinos sind politische Orte, Orte, an denen wir unseren Alltag abstreifen oder in Relation zu etwas anderem, vielleicht noch nicht Gekanntem setzen. Aber – auch das hat die Geschichte gezeigt – Kinos sind auch Orte, an denen sich Normalität erhärten und vorgebliche Gewissheit fortgeschrieben werden kann.
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Im besten Fall, so verstehe ich die beiden, ist Kino der Ort, an dem ein anderes Zeichensystem geboren wird. Es muss nicht unbedingt ein gemeinsames Zeichensystem sein. Kann es aber: »Erlauben Sie uns, hier etwas auszuholen: Sie werden andere Filme schauen als wir. Weniger österreichische vermutlich. Sie werden andere Bücher lesen und andere Musik hören. Und dennoch, so hoffen wir, werden wir alle – auch wenn wir noch so unterschiedlich sein mögen – gemeinsame Nenner ausmachen: Dinge, die unserem kollektiven Gedächtnis eingeschrieben sind, Erfahrungen, die wir nicht nur individuell, sondern als Gesellschaft gemacht haben, auf denen wir aufbauen, wenn wir die Welt zu begreifen versuchen.«
So macht Kino Gesellschaft. Und so macht ein Festival Kino.
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»Prismen – Kulturkritik und Gesellschaft.« Bei Adorno heißt es: »Ginge man aber dem Beruf des Kritikers in der bürgerlichen Gesellschaft nach, der schließlich zum Kulturkritiker avancierte, so stieße man fraglos auf ein usurpatorisches Element im Ursprung, wie es etwa noch Balzac vor Augen stand. Die berufsmäßigen Kritiker waren vorab 'Berichterstatter': sie orientierten über den Markt geistiger Erzeugnisse. Dabei erlangten sie zuweilen Einsicht in die Sache, blieben stets jedoch auch Agenten des Verkehrs, im Einverständnis wo nicht mit dessen einzelnen Produkten so doch mit der Sphäre als solcher.«
Jeder Film ist Kritik und Kritiker in diesem Sinn. Jedes Festival. Anders geht es nicht.
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Eine Ode an die Clubkultur, inspiriert immerhin von Henry James, der dem Kino schon einige leidenschaftliche oft genug melodramatische Stoffe geschenkt hat. In diesem Fall The Beast of the Jungle, der zweite Eröffnungsfilm des Abends. Auch dort ist die Sehnsucht Kern und Quintessenz: eine Sehnsucht wider alle Widerstände und alle Vernunft.
Patrick Chihas Ode an die Clubkultur von den 70ern bis in die 2000er. Alles beginnt mit Jugendlichen wieder in 16mm-Nostalgie. 1979 irgendwo in Paris. Hochhackige Damenfüße stöckeln in High Heels und roten Strümpfen über verregneten Asphalt, vier Menschen stehen Schlange vor einem Club. Die Türsteherin – großartig verkörpert von der zwischen geisterhafter Nachtgestalt und realer Randexistenz changierenden Beatrice Dalle – scannt die Nachtschwärmer und gewährt dem
Quartett Einlass. Der Film feiert die Nacht, die Clubkultur den Teufelspakt mit ihr.
Ein ganz erstaunlicher Film! Denn so etwas wäre undenkbar in Deutschland: ein Film in französischer Sprache, der, wenn überhaupt irgendwo auf dieser Welt, dann jedenfalls nicht im Herkunftsland des Films, in Österreich, sondern in Paris spielt. In einem imaginären Paris, das alle möglichen Filme, auch die, mit denen Beatrice Dalle berühmt wurde, zusammendenkt mit Phantasien, die
zurückreichen zu Jean Cocteau und Georges Franju, ins Paris der »Misérables« und zur Jakobinerjugend der Französischen Revolution und zu Giftmischerromanen um das Fräulein von Scuderi.
Ein fiebriger Diagonale-Eröffnungsfilm, der schon im Berlinale-Panorama spaltete, ein Stück globales Kino, das kontrovers ist und so sein soll, das provoziert und herausfordernd ist, rätselhaft, mythisch und von schwarz-glänzender Dunkelheit.
»Es ist immer alles möglich«, heißt es da. Und »Man muss tanzen, das kann uns niemand nehmen«. Das ist fast schon »Frauen, Leben, Freiheit«.
Lassen wir uns beide Sätze nicht nehmen.
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»Zweifel und Graustufen sind aus der Mode gekommen. Von der eigenen Meinung abzuschweifen liegt längst nicht mehr im Trend.«, sagten Peter und Sebastian dann noch.
Es ist klar: Ein Festival und jeder Film sind dazu da, Zweifel und Graustufen zu verstärken. Willkommen auf der Diagonale!
(To be continued)