28.10.2004
Dogville Kills Bill

II. Im Kino

Szenenbild DOGVILLE
Zuschauer in Dogville
(Foto: Concorde)

Dogville Kills Bill – Frank Müllers' umfang­reiche Ausein­an­der­set­zung mit Kill Bill und Dogville

Zwei Ansichten Amerikas, zwei rächende Frauen im Zentrum, zwei eigen­wil­lige Regie­leis­tungen, in sich grund­ver­schieden

Mögliche Alternativen vom Hollywood-Kino

Von Frank Müllers

Wenn wir nun auf zwei Filme zu sprechen kommen (aber in Wahrheit sprechen wir ja schon die ganze Zeit von ihnen), und beide einen Wettlauf antreten lassen, um die Stelle, welches der Filme den richtigen Weg in die Zukunft weist, dann sollte man gar nicht so tun, als ob der Ausgang dieses Rennens nicht schon längst entschieden wäre. Es ist nicht zu leugnen, dass der Blick auf den momen­tanen Zustand des Kinos, der sich im Zustand unserer eigenen Satu­riert­heit spiegelte, sich dem Film Dogville bereits schon verdankt. Das sich daraus ablei­tende Anfor­de­rungs­profil ist daher auf Dogville schon so perfekt zuge­schnitten, dass Kill Bill von vorn­herein als aussichts­loser Bewerber sich die Füße vor der Tür vertreten kann. Bei einer Stel­len­aus­schrei­bung in der lebens­fremden Politik oder in der kunst­fernen Wirt­schaft müsste man hier von unsau­beren Wett­be­werbs­din­gungen sprechen, aber im Bereich der Kunst, wie im wirk­li­chen Leben, ist der Weg bekannt­lich das Ziel: Es kommt nicht darauf an, zu welchem Ender­gebnis man kommt, sondern es kommt darauf an, welche Einsichten über die Filme und über die Natur des Films man auf dem Weg findet. So macht es auch nichts, den Ausgang des Rennens schon im Titel verraten zu haben (ebenso wie der reine Span­nungs­film ist auch der reine Span­nungs­essay aller­un­terste Schublade, und daher tunlichst zu vermeiden).

Der Zufall, der beide Filme fast zeit­gleich im Abstand von einer Woche in unseren Kinosälen starten ließ, ließ in all ihrer Gegen­sätz­lich­keit ihrer Herkunft und ihrer Absichten auch ihre innere Verwandt­schaft erkennen, die vor allem darin besteht, dass beide denselben Platz bean­spru­chen: nämlich den Anspruch, eine Alter­na­tive zum Hollywood-Kino darstellen zu wollen. Diese wich­tigste und erste Gemein­sam­keit – ihr gemein­samer Anspruch – zeigt sich in ihrer Abkehr auf den von der Hollywood-Filme typischen Abbild­il­lu­sion, und der Hinwen­dung zu eigenen ästhe­ti­sche Welten. Allein diese Eigen­schaft, als »Filme« hervor­zu­treten, lässt sie zu Leucht­türmen innerhalb einer verflachten, nivel­lierten Kino­land­schaft werden. Die Wege, die beide Filme weisen, sind gänzlich entge­gen­ge­setzt, die Tatsache aber, dass sie überhaupt in den Himmel ragen, zeigt ihren gemein­sames Wollen, einen Weg jenseits des gängigen Hollywood-Kinos zu beschreiten. Vorab gesagt: Es wird sich erweisen, dass es sich hierbei nicht nur um die Konkur­renz zweier einzelner Filme handelt, sondern dass sich dahinter alte Fehden verbergen, die sich bis in die Anfänge des Kinos zurück­ver­folgen lassen: nämlich der Kampf zwischen dem »totalen Kino«, das allein auf die Eigen­mäch­tig­keit der Bilder setzt, und einem Kino, das von dieser Radi­ka­lität und Einsei­tig­keit absieht, und sich vielmehr als Medium versteht. Der Streit, der hier zwischen beiden Filmen in meinem inneren Rubriken-Bewer­tungs­käst­chen losbrach, ist also nicht nur durch die Gegen­sätz­lich­keit von zufällig zur gleichen Zeit gestar­teten Filmen verschuldet, sondern – wie es sich für jeden vernünf­tigen Streit gehört – grund­sätz­li­cher Natur.

Neben diesen morpho­lo­gi­schen Gemein­sam­keiten trat aber noch eine weitere Gemein­sam­keit hinzu, sicher­lich die verblüf­fenste, nämlich eine inhalt­liche: die Gemein­sam­keit des Sujets. Nicht nur, dass beide Filme von Rache handeln, sie widmen sich der Rache auch in ähnlich positiver Weise: beiden Filmen stehen weibliche Heldinnen voran, die sich für erlittene Demü­ti­gungen und Verlet­zungen rächen; beide Filme wollen den Zuschauer in Versu­chung bringen, den Racheakt ihrer Heldinnen für gut zu befinden. Wenn man bedenkt, dass ein Rachakt unserem Lebens­ge­fühl als modern fühlende und denkenden Menschen völlig wider­spricht, und wir auch im Kino den Rachakt nur als Notbehelf für fehlende Gerech­tig­keits­in­stanzen in archai­sche Zeiten dulden (was die verächt­liche Rezeption der Death-Wishes-Filme in den 70ern, und der Rambo-Serie in den 80ern beweist), dann stellt die Wieder­auf­nahme der Rache als legitime, positive Handlung in unserem kine­ma­to­gra­phi­schen Wahr­neh­mungs­feld sowohl eine mora­li­sche Provo­ka­tion, wie aber auch ein gemein­sames ästhe­ti­sches Verspre­chen dar: nämlich das Verspre­chen, im Verlauf des Films aus unseren gewohnten Denk- und Fühl­gleisen wegge­führt zu werden. Daher könnte man auch geneigt sein, den Zufall – das gemein­same Sujet – nicht für einen Zufall zu halten, sondern gewis­ser­maßen als eine Notwen­dig­keit zu erkennen, die sich aus dem Anspruch ableitet, dem Zuschauer eine einzig­ar­tige emotio­nale und kognitive Erfahrung zu ermög­li­chen. Aber selbst, wenn man diese Zusam­men­hänge bestreiten wollte, die Gemein­sam­keit des Sujets ist gegeben, was ideale Wett­be­werbs­be­din­gungen schafft: Beide Filme lassen sich daran messen, wie weit es ihnen gelingt, sich der Heraus­for­de­rungen des Themas zu stellen, und dem Zuschauer eine unge­wöhn­liche Erfahrung zu ermög­li­chen.

Und noch etwas: Bei der Innen­be­sich­ti­gung beider Filme werden wir wieder­holt auf den bekannten und viel veröf­fent­lichten Film­kri­tiker, Film­essay­isten und Film­wis­sen­schaftler Georg Seeßlen stoßen. Das ist weder Zufall, noch beab­sich­tigt, sondern dem schlichten Umstand geschuldet, dass Seeßlen eine diametral verschie­dene Position einnimmt, die er wieder­holt in den verschie­densten Veröf­fent­li­chungen dargelegt und beschrieben hat: Seeßlen ist ein Bewun­derer Taran­tinos und hat sich auf der anderen Seite 1999 in einem Artikel in der „Zeit“ als Bekämpfer der Filme Lars von Triers und der Dogma-Filme hervor­getan. Aber wenn auch nicht beab­sich­tigt, so kann der Umstand, dass mit Seeßlen ein Kontra­hent mit ins Boot der Expe­di­tion kommt, dafür sorgen, dass die Fahrt nicht allzu schnell in den trüben Fluss mono­lo­gi­scher Denk­be­we­gungen gerät.