28.10.2004
Dogville Kills Bill

III. Kill Bill

Uma Thurman mit Schwert
She wants to Kill Bill
(Foto: Buena Vista)

Dogville Kills Bill – Frank Müllers' umfang­reiche Ausein­an­der­set­zung mit Kill Bill und Dogville

Zwei Ansichten Amerikas, zwei rächende Frauen im Zentrum, zwei eigen­wil­lige Regie­leis­tungen, in sich grund­ver­schieden.

Tarantinos postmodernes Kino

Von Frank Müllers

Auch wenn Taran­tinos Kino, und man darf sagen, auf keinen Fall zu Unrecht, im Verdacht steht, mit der eingangs beschrie­benen Misere der Erfah­rungs­re­sis­tenz und Satu­riert­heit verbunden zu sein, viel­leicht sogar auch ein wenig mitschuldig zu sein an der Misere, dass das Kino kein wirk­li­cher Ort der Erfahrung ist, täte man Tarantino Unrecht, wenn ihn vom Endpunkt seiner Entwick­lung aus betrachten würde. Wie Georg Seeßlen richtig sagt, hat Tarantino das Kino der 90er Jahre haupt­säch­lich beein­flusst, und der Grund hierfür ist mit einigem gutem Willen auch nach­voll­ziehbar: Das post­mo­derne Kino hat mit seiner pole­mi­schen Aufhebung der Trennung zwischen Kunst und Unter­hal­tung zwar auch die Kunst mit aufge­hoben – Kunst ist uncool – aber der Impuls, aus dem dies geschah, war ein durchaus künst­le­ri­scher Impuls: sich der schein­baren Trivi­al­kultur zuzu­wenden, war ein Protest gegen eine falsche und unpro­duk­tive Trennung zwischen dem Film mit künst­le­ri­schem Anspruch und dem Unter­hal­tungs­kino. Der Akt war deswegen künst­le­risch, weil er darauf zielte, die Möglich­keiten der Erfah­rungen im Kino zu erweitern.

Pulp Fiction stellt mit Recht den Höhepunkt und die Zäsur dieses post­mo­dernen Kinos dar. Allein schon der Umstand, dass Tarantino das scheinbar Niedrige und Geschmähte in den Palast des technisch perfekten Main­stream-Kinos führte, stellte einen Akt der Revolte dar. Indem er die Schlüs­sel­mo­mente, Schlüs­sel­fi­guren und Schlüs­sel­szenen aus dem früher als trivial verach­teten Genre-Kino in dem hellen Glanz unseres Main­stream-Bewußt­seins herein­stellte, reha­bi­li­tierte er das Geschmähte, und bescherte einer ganzen Gene­ra­tion von Kino- und Fern­seh­zu­schauern das Glücks­mo­ment, das früher als niedrig Geachtete nun im neuen Glanz erhöht und anerkannt zu sehen. Aber Tarantino ließ nicht nur die Genre-Inhalte in den Main­stream-Palast hinein und zele­brierte mit ihnen die Genre-Liturgie, sondern gesellte sich – und das war der zweite Kunst­griff – als ein anar­chis­ti­scher Minis­trant hinzu, der immer wieder in die Liturgie eingriff, und diese immer wieder in den entschei­denden Momenten der Absur­dität über­führte. Damit reha­bi­li­tierte er nicht nur das scheinbar triviale Genre, sondern zeigte einer Gemeinde aus gebil­deten und in die Liturgie einge­weihten Cine­philer (und er bedurfte dieser Gemeinde), wie man sich sonst noch seiner Kino­phan­ta­sien bemäch­tigen kann. Warum sollte man, anstatt seinen Phan­ta­sien ausge­lie­fert zu sein, nicht auf durchaus respekt­volle Weise Scherze mit ihnen treiben?

»Genres are part of our dreams«, wie es ein ameri­ka­ni­scher Film­theo­re­tiker mal formu­lierte. Macht man sich diese Analogie zwischen Traum und Genre-Kino zueigen, dann lässt sich der Nachteil des Verfah­rens von Tarantino schon in Pulp Fiction nicht übersehen. Tarantino ließ uns sozusagen unser Innen-Kino von außen betrachten, was zwar zu Witz und Ironie führte, aber auch zu einer Abwertung des Inhalts. Mit dem Betrachten der Kinoträume aus den Gangster- und Film-Noir-Genre von außen, ging auch deren früherer, innerer Erfah­rungs­in­halt verloren.

Tarantino dachte gar nicht daran, die Erfah­rungs­in­halte selbst zu wieder­holen, oder uns dazu einzu­laden, diese zu aktua­li­sieren, sondern er ließ uns diese betrachten und mit dem erwachsen gewor­denen Bewus­stein darüber Witze machen. Die Konven­tionen des Genres, sind, wenn man nicht mehr deren inneren Gefühls­in­halt mitspürt, in der Tat nur noch komisch und grotesk anzusehen, so wie einem die eigenen Träume grotesk werden, wenn man sie sich vom über­heb­li­chen Gipfel des wachen Bewusst­seins, oder vom eisernen Katheder der Logik aus betrachtet. Auch schon in den von Uma Thurman und John Travolta gespielten Figuren floss mehr Zelluloid als warmes Blut in ihren Adern, und wenn es in Pulp Fiction realis­tisch zu werden drohte, etwa wenn der Killer Viagra auf der Toilette über­ra­schend erschossen wurde, kam der nächste lustige Einfall, um uns ins Gedächtnis zu rufen, dass es sich hier nur um Kino-Bilder und Kino-Figuren – also nichts Ernstes – handelt.

So war schon Pulp Fiction eine seltsame Zwei­schnei­dig­keit eigen: Einer­seits wurde den Genre-Träumen Tribut gezollt, sie wurden gefeiert, in den Palast des Main­stream-Gesell­schaft einge­führt, aber auf der anderen Seite verloren sie in diesem hellichten Glanz aber auch ihr einstmals angst­ein­flös­sendes Aussehen. So wurde das Filme­gu­cken zugleich zu einer spezi­ellen Tarantino-Therapie, die darin bestand, durch das Gewahr­werden der von außen betrachtet lächer­li­chen Genre-Bilder sich der früheren erlit­tenen Zuständen der Angst in diesen vergan­genen Kino-Träumen zu entle­digen. Die Freude an der Wieder­erken­nung, die ja zentrale Absicht dieses Kinos ist, ist zugleich immer auch die Freude über die Wieder­hol­bar­keit, und was wieder­holbar ist, hat seinen Schrecken schon verloren, und ist die Bestä­ti­gung dafür, dass es schon Alltag geworden ist: dass wir uns in diesem Innen-Kino schon wie in einem Wohn­zimmer einge­richtet haben.

Wenn man sich nun Kill Bill nähert, dann muss man das im Bewusst­sein tun, dass es sich um einen Kino-Film »zweiter Ordnung« handelt, dass es also nicht um Rache geht, sondern um den Rachefilm. Hier ist der wesent­liche Unter­schied von Kill Bill zu Lars von Triers Dogville schon benannt. Obwohl beide Filme dasselbe Thema anschlagen, dieselbe Ausgangs­lage haben (eine Heldin, die gede­mü­tigt wird und sich an ihren Peinigern rächt), und obwohl auch beide Filme eine emotio­nale Wirkung erzeugen wollen, zielen beide auf eine andere Region unserer Emotionen. Lars von Trier möchte mit seinem Film das atavis­ti­sche Gefühl der Rache selbst erwecken, er möchte unsere gesamte Emotio­na­lität. Tarantino möchte ausschließ­lich die Gefühle wecken, die wir mit den Rache­filmen verbinden. Er möchte also nur die Seite unserer Erfah­rungs­welt erwecken, die wir mit dem Innen-Kino verbinden.

Wir müssen uns von Beginn an im Klaren sein, dass der Maßstab, mit denen wir beide Filme ausmessen und bewerten wollen, nämlich die Erfah­rungs­qua­lität, bei Taran­tinos Film auf ein Miss­ver­s­tändnis beruhen könnte, das wir aber solange billigend in Kauf nehmen wollen, bis geklärt ist, wo das Miss­ver­s­tändnis zu suchen ist – zwischen unserem Vers­tändnis von Kino und Taran­tinos Vers­tändnis, oder, wie wir jetzt schon freimütig vermuten wollen, zwischen Tarantino und seinem Medium. Aber natürlich möchte auch Tarantino keinen „kalten“ Film machen, auch er will unsere Emotionen erwecken, sogar die größten. Auf eine kritische Frage im »Spiegel« verspricht Tarantino: »Klar, das ist viel­leicht nicht Ihre Art Kino, und es ist Ihr gutes Recht den Film nicht zu mögen. Aber wer sich KILL BILL anschaut, der erlebt garan­tiert einen Kinoabend, der sein Geld wert ist. Sie können den Film hassen, seien Sie gewarnt! Aber Sie werden bewegt sein im Kino und liegen nicht nur in Ihrem Sessel, während ein paar beliebige bunte Bilder vor Ihren Augen vorbei­rasen.« Man könnte, zumindest wenn man Kill Bill noch nicht kennt, schon an dieser Stelle den Unter­schied beider Regis­seure formu­lieren: Wäre Lars von Trier ein „klas­si­scher“ oder konven­tio­neller Künstler, der in seinen Filmen erzählt, welche Wirkung das Leben auf ihn gehabt hat, so ließe sich Tarantino als der Künstler bezeichnen, der uns mitteilt, welche Wirkung das Kino auf ihn gehabt hat.

Aber leider: Das mag für Pulp Fiction noch gelten, aber eben für Kill Bill nicht mehr. In dem poeti­schen Verfahren von Pulp Fiction nimmt Tarantino in KILL BILL eine wesent­liche Änderung vor: Gab es in Pulp Fiction nicht nur die Kino­phan­ta­sien, sondern als »realis­ti­schen« Moment den Zuschauer Tarantino, der die Kino­phan­tasie durch seine Einfälle kommen­tierte und auch konter­ka­rierte, elimi­niert Tarantino sich nun selbst aus diesem Verfahren. Damit elimi­niert er das einzige Element, was an seinem Kino »authen­tisch«, was erste Hand war, und nicht zweiter, oder dritter Hand. In Kill Bill soll es nur noch die reinen Kino­phan­ta­sien geben, das totale Kino. Das ketze­ri­sche Minis­tran­ten­ge­wand ausge­zogen, die Kirchentür verram­melt, so dass kein Licht­strahl mehr von außen herein­dringt, erscheint Tarantino als Hohe­priester des Genre-Kino, um uns die totale, die reine Kinomesse zu zele­brieren. Es scheint, als ob Tarantino seinen Platz als Zuschauer endgültig verlassen wollte, um endlich auch einen „richtigen“ Film zu machen, den er schon mit Jackie Brown ange­strebt hat.

Tarantino erzählt also nicht mehr, welche Wirkung die Filme auf ihn gehabt haben, sondern er will die Bilder selbst erzählen lassen. Damit haben wir mit dem Film Kill Bill das fast einzig­artig daste­hende Expe­ri­ment, das darin besteht, einen Film allein aus Kino­bil­dern zu kompo­nieren und die Bedeutung allein aus den Bildern zu schöpfen.

»Allein aus Bildern« heißt: dass alle anderen möglichen Bedeu­tungs­träger den Bildern gänzlich unter­ge­ordnet werden. Weder gibt es realis­ti­sche Charak­tere, und zumindest, was den ersten Teil betrifft, gibt es noch nicht mal den Ansatz eines Dramas. Es gibt lediglich eine Ausgangs­si­tua­tion: eine junge Frau, die Mitglied einer Verbre­cher­bande ist, wird von ihren Mitkämp­fern auf Befehl des geheim­nis­vollen Chefs Bill (den wir im ersten Teil nicht zu sehen kriegen) halbtot geschlagen, wacht nach fünf Jahren aus dem Koma wieder auf, stellt fest, dass sie dabei auch ihr Baby verloren hat, und beginnt nun, nach einer Liste zu den verrä­te­ri­schen Banden­mit­glieder zu reisen, um sich an jedem einzelnen zu rächen. Dies ist im Prinzip alles, was „Geschichte“ an dem Film ist, aber es ist, wie wir im Vergleich mit Dogville sehen werden, auch alles, was der Inhalt dieses Films ist. Dass im zweiten Teil es doch zur Andeutung eines Inhalts kommt, nämlich den Konflikt zwischen »Der Braut« und »Bill«, ihrem Lehrer, Erzieher und Mentor und Mörder, ändert an dem Verfahren nichts, weil das ästhe­ti­sche Verfahren selbst auf diesen Konflikt nicht beruht. Die erzäh­le­ri­schen Zutaten im zweiten Teil (Bezie­hungen zwischen den Figuren, sofern man von Beziehung bei Comic-Figuren sprechen kann; Dialoge, wenn auch fürch­ter­lich klischierte) lassen das Verfahren nur ein bisschen weniger streng erscheinen, was auch die allge­meine Erleich­te­rung erklärt, mit der man diese erzäh­le­ri­schen Zutaten zur Kenntnis genommen hat. Die Bilder, die Einstel­lungen bleiben dieser Story aber voll­kommen enthoben, weil sie von außen, aus dem cine­as­ti­schen Fundus von Tarantino herein kommt, und nicht – wie in einem „gewöhn­li­chen“ Film – aus der Situation, oder den Charak­teren.

Sowenig es eine wirkliche Story gibt, so wenig gibt es auch wirkliche Charak­tere: Die Haupt­figur, genannt »Die Braut«, ist eine ganz und gar abstrakte Figur, was sich nicht nur durch die Abwe­sen­heit jeglichen inneren Konflikts, sondern durch das Fehlen jeglicher Emotion zeigt. Offenbar wird diese emotio­nale Leere vor allem in den Groß­auf­nahmen: Wenn Thurman z.B. Wut darzu­stellen hat (um das in Kill Bill vorherr­schende Gefühl zu nennen), dann senkt sie das Kinn, und justiert die Pupillen an die oberen Augen­rän­dern, und nichts weiter – es ist nur Wut, ohne den natür­li­chen Beiklang eines anderen Gefühls. Es ist eine Kinder­mimik, wie ja auch Kinder die dunklen Schatten, die Wider­s­tänden und Ambi­va­lenzen der Gefühls­welt empfinden, diese sich aber noch nicht gegen­ü­ber­stellen und zur Bewusst­heit bringen können. Es sind daher noch nicht mal Gefühle von Kindern, die Tarantino zeigt: es ist eine idea­li­sierte Kinder­welt, in der jegliche Spuren von Schauer, Angst und Schrecken heraus­sub­li­miert sind. Die Kamera findet keinen Inhalt, die Groß­auf­nahme nicht die ihr adäquate Gefühls­dar­stel­lung. Nicht, dass Thurman schlecht spielt, nur, es gibt für sie nichts zu spielen, und wenn wir Thurman nicht schon in anderen Filmen gesehen hätten, wüssten wir gar nicht, ob es sich bei ihr überhaupt um eine wirkliche Schau­spie­lerin handelt. Wenn sich mal eine echte Emotion androht, etwa in der Szene, wenn »Die Braut« nach fünf­jäh­rigem Koma entdecken muss, dass sie ihr Baby verloren hat – eine wie Tarantino im Interview sagt, eigent­lich »herz­er­grei­fende Szene« – lässt ihr der Regisseur gerade mal wenige Augen­blicke Zeit, sich dieses Schre­ckens zu verin­ner­li­chen, und zwingt dadurch seine Haupt­dar­stel­lerin, den Schrecken und das Entsetzen in völlig unglaub­hafte klischee­haften Darstel­lungs­weisen (Augen aufreißen) verflüch­tigen zu lassen.

Was wir hier mit leisem Bedauern fest­stellen, ist aber von Tarantino gänzlich beab­sich­tigt. Tarantino hat sich mit Pulp Fiction zu Godard bekannt, und tatsäch­lich steht die Furio­sität, mit der Tarantino alles, was nach Story, Drama­turgie aussieht, hinter sich lässt, in denkbar größtem Gegensatz zum plot­fi­xierten Hollywood-Kino. Rein nach Bildern erzählen heißt hier: was als nächstes folgt, wird nicht von der Drama­turgie, einem inneren Geschehen, oder gar von einem Charakter bestimmt, sondern allein nach der bild­li­chen, emotio­nalen Stei­ge­rung der Kampf­bilder, der Orgie der Farb­dra­ma­turgie und der Blut­fon­tänen bis hin zu den gehäuften Leichen einer Kampf­szene.

Die Bilder ohne ihren Inhalt, die Hand­lungen ohne ihre implizite Moral haben zu wollen, sichert allein das Kino als einen utopi­schen Ort, in dem es keine Folgen, keine Konse­quenzen, keine Bedeu­tungen gibt, sondern nur Bilder, die sich mit anderen Bildern verbinden. Vermut­lich haben wir mit Kill Bill den größten „Nouvelle Vague“ Film aller Zeiten vor uns. Die Idee des »reinen«, des »absoluten« Kinos ist noch in keinem Film in einer solchen Klarheit vor uns hinge­treten, wie in diesem Film. Die Beson­der­heit dieses Kinos besteht nicht darin, dass es sich auf andere Filme bezieht (das macht, mit unter­schied­li­chem Grad, jedes Kunstwerk offen oder versteckt), sondern die Ausschließ­lich­keit, mit der es sich auf andere Bilder bezieht, und mit der die Bilder sich vor jeder weiteren Hinzutat, sei es einer Emotion, sei es einer Geschichte, geradezu abdichten. Rein aus Bildern meint auch »reine Bilder«, und »reine Bilder« sind Bilder, die in unserer Vergan­gen­heit liegen, und nicht durch eine aktuelle Emotio­na­lität, man könnte fast sagen, verschmutzt, verun­staltet, verun­schönt werden sollen. Eine indi­vi­du­elle Emotion würde die Schönheit der Bilder beein­träch­tigen, und den Blick auf sie verstellen. Die Verklärung des Films auf der Höhe eines Gottes (wie dies Tarantino in Inter­views immer wieder macht) und der Kino­vor­stel­lung als einer Messe leitet sich direkt von der Vorstel­lung des reinen Kinos ab. Man soll zwar Gott preisen, aber man soll ihm zugleich auch nicht nahe kommen. Man soll die vergan­genen Kino-Bilder ehren, aber man soll sich kein eigenes Bildnis von ihnen machen.

Das eigen­tüm­liche (innere) Bild­nis­verbot in den Bildern zeigt sich am deut­lichsten in den Gewalt­dar­stel­lungen, die Tarantino einzig an seinen Vor-Bildern des Kung-Fu-Films und Spaghetti-Westerns inter­es­siert und über­nommen hat (andere poetische Momente dieses Genres finden in dem Tarantino-Kosmos keinen Widerhall). Um den Zuschauer auf Distanz zu halten und um einen moral­freien Raum zu erhalten, bedarf es immer auch der Aufrecht­erhal­tung des Wissens, dass es sich »nur« um einen Film handelt. In Pulp Fiction konnte eine sich andro­hende, realis­ti­sche Gewalt­szene durch einen lustigen Einfall unter­bro­chen werden, der damit dem Zuschauer zu Bewusst­sein bringt, dass in Wirk­lich­keit nicht Blut, sondern bloß Ketchup fließt. In Kill Bill aber, in dem der »Ketchup« rufende Minis­trant entfernt worden ist, muss sich das warnende Bewusst­sein, das es sich „nur“ um Kino handelt, durch die totale Über­trie­ben­heit der Gewalt­dar­stel­lung glei­cher­maßen durch meterhohe Blut­fon­tänen, herum­rol­lende Plas­tik­köpfen gleich mitin­sze­nieren. Die Über­trie­ben­heit, mit der Kunstblut fließt, erweckt überhaupt nicht mehr den Eindruck, als könnte es sich um wirk­li­ches Blut handeln. In dieser Gewalt­ferne seines Gewalt­films zeigt sich seine Konzep­tion eines reinen Kinos am deut­lichsten. Die Gewalt könnte abstrakter nicht auftreten, das Blut nicht über­trieben genug aus den Schläu­chen spritzen, so dass es nicht nur ein Kalauer ist, wenn wir sagen, noch niemals ein blut­lee­reren, gewalt­lo­seren »Gewalt­film« gesehen zu haben als diesen.

Just an dieser Stelle würde nun Tarantino sagen, ja, das ist genau das, was ich beab­sich­tige. Und eben genau an dieser Stelle müssen wir uns ernstlich auf die eben schon erwähnte Frage einlassen, auf welcher Seite das Miss­ver­s­tändnis liegt, wenn wir auch auf Taran­tinos Kino den Maßstab der ästhe­ti­schen Erfahrung anlegen – auf unserer, die wir Tarantino nach falschen Maßstäben messen, oder auf Seiten Taran­tinos, wobei das Miss­ver­s­tändnis nicht zwischen Tarantino und uns (den Zuschauern), sondern zwischen ihm und dem Medium des Films liegt. Es ist schon ein seltsamer Wider­spruch, dass Tarantino auf der einen Seite ein Höchstmaß an Spannung und Emotio­na­lität verspricht, auf der anderen Seite aber jeder Eindruck, dass es in seinem Film tatsäch­lich um etwas gehen sollte (um ein Leben, um die Ehre o.ä.) sofort wieder verneint wird. Welche emotio­nale Wirkung soll sich beim Zuschauer einstellen, sieht man von der Freude des Wieder­erken­nens von früheren Filmen ab?

Es ist schon befremd­lich, dass Tarantino die Konse­quenz seines eigenen Verfah­rens offen­sicht­lich nicht durch­schaut. In besagtem „Spiegel“-Interview erzählt Tarantino auf die Frage, wie viele Tote es in seinem Film gebe, er wisse es nicht, irgend­wann hätte er aufgehört zu zählen. Die Antwort dieser Frage lautet natürlich: Keine einzigen, denn was noch nicht mal eine Eigen­leben bean­sprucht hat, kann auch nicht sterben.

Noch seltsamer erscheint, dass Tarantino auch nicht aufzu­gehen scheint, wie sehr er sich mit der splat­ter­haften „Unrea­listik“ von seinen Vorbil­dern (Sergio Leone, den Bruce-Lee-Filmen) denen er doch nach­ei­fern möchte, entfernt, und man könnte fast den Eindruck haben, dass Taran­tinos Beziehung zu den Meistern des Spaghetti- und Kung Fu-Films wie fast in jeder Fan-Beziehung auf eine unred­liche Usur­pie­rung, zumindest auf jenes schon erwähnte Miss­ver­s­tändnis hinaus­läuft (und es sind ja einzig nur die Vor-Bilder, die ja die Bilder­welten Taran­tinos legi­ti­mieren, weil es einen anderen Bezugs­punkt nicht gibt). Man kann diesen Sach­ver­halt leicht erkennen, wenn man außerhalb der Bilder­wände von Kill Bill sich der Wirkung der Vorbilder Taran­tinos ins Gedächtnis zurück­ruft: den trashigen und doch manchmal kunst­vollen Kung-Fu-Filmen.

Alle Kunst findet in einem vom Leben abge­trennten Bereich statt, aber das ist nicht, wie Tarantino offen­sicht­lich meint, schon das Ziel, sondern dient bloß dem Zweck. Der Zweck besteht darin, in dem abge­grenzten Raum der Kunst eine Erfahrung zu ermög­li­chen, die das normale, alltäg­liche Leben nicht hergibt. Auch das Genre-Kino mit seinen beson­deren Regeln und Konven­tionen ist geschaffen, uns mit einem beson­deren Ausmaß von Bruta­lität zu konfron­tieren. Daher waren die Über­trie­ben­heiten der von Tarantino verehrten Vorbilder auch niemals so über­trieben, dass die Bruta­lität (etwa die Abtren­nung eines Arms) nicht mehr glaubhaft erschienen wäre. Die „Gewalt“ war immer realis­tisch genug, um die Empathie des Zuschauers am Leben zu erhalten, und sie war schön und abstrakt genug, dass wir uns trotz der Bruta­lität ihr nicht entziehen konnten. Zwischen der Schönheit des Bildes und der Angst und Ekel auslö­senden Handlung entstand im Bild eine Ambi­va­lenz und erst durch diese Ambi­va­lenz war auch Faszi­na­tion möglich. Jeder, der sich als Jugend­li­cher in einen Bruce-Lee-Film getraut hat, wird sich dieser Ambi­va­lenz erinnern, auch wenn er es damals nicht Ambi­va­lenz genannt, sondern nur als dumpfe Mischung der Freude und Angst vor der ersten brutalen Kopf- und Glied-ab-Szene wahr­ge­nommen hat, mit der bangenden Frage im Hinter­grund, ob er die Bruta­lität der nächsten Szene über­stehen würde. Tarantino aber will von der Ästhetik nur das Ästhe­ti­sche, er will nur die Schönheit der Gewalt, ohne aber das Empfinden der Gewalt dazu.

Ästhe­tisch lässt sich sein Verfahren, Schönheit und Authen­ti­zität herbei­rufen zu wollen, viel­leicht am ehesten mit dem in der Archi­tektur als Signum der Post­mo­derne bekannten Verfah­rens der „kriti­schen Rekon­struk­tion“ verglei­chen. Wie dort unter­nimmt Tarantino den Versuch, einer­seits die aus der Vergan­gen­heit bekannten Bilder aus unserem kollek­tiven Gedächtnis bis hin zur skla­vi­schen Nach­ah­mung auszu­stellen. Ande­rer­seits stellt er die Kampf­szenen in schöneren, aufge­frischten Bildern dar, indem er sie in einer Perfek­tion durch­kom­po­niert, die für seine Vorbilder niemals möglich gewesen wäre (für manche Kampf­szene hat er nach eigener Auskunft 22 Dreh­buch­seiten gebraucht). Was viel­leicht noch in Verzü­ckung versetzen kann, wenn wir in einem technisch besser ausge­leuch­teten Film die kämp­fenden Schau­spieler am Drahtseil hängen sehen, und dann verzückt aufstöhnen »Oh, die gute, alte Draht­seil­technik«, führt ande­rer­seits aber zu dem Gefühl, nicht unbedingt einer Fälschung zu begegnen, aber doch nur eine bloße Fassade zu erblicken, in denen wir zwar Origi­nal­teile wieder­erkennen können (eine Einstel­lung, eine Kame­ra­winkel, ein Requisit, der origi­naler Kung-Fu-Schau­spieler), die aber dennoch die emotio­nale Erin­ne­rung an die vergan­genen Filme nicht wieder­erwe­cken können (viel­leicht muss man sich dieses ästhe­ti­sche Verfahren so vorstellen, als würde Steven Spielberg einen Porno-Klassiker wie Deep Throat mit seinen zur Verfügung stehenden tech­ni­schen Mitteln nach­drehen, wozu er dann noch Origi­nal­schau­spieler in Neben­rollen steckt). Da Tarantino dem nichts weiter zufügt, sondern sich innerhalb dieses Verfah­rens sklavisch zu seinen Vorbil­dern verhalten muss (denn eine andere Referenz hat er nicht), führt dieses Verfahren zu Fassa­den­bil­dern und auch Fassa­den­hand­lungen. So lässt Tarantino im ersten Teil die Szene, in der die Heldin vom Schwert­meister das Schwert erhält, in quälender Länge ausspielen, wobei den Fan wohl nur noch die Tatsache in Verzü­ckung zu setzen hat, dass der Schwert­meister vom Kung-Fu-Schau­spieler Sona Chiba gespielt wird.

Im zweiten Teil von Kill Bill wird das Prinzip dieses Verfah­rens noch deut­li­cher: Anstelle der über­trie­benen Gewalt­szenen, die uns ja das Bewusst­sein am Leben erhalten, dass wir »nur« einen Film sehen, erhalten wir Zitat-Bildern von noch mehr Filmen als im ersten Teil, was dazu führt, dass der Film wie ein Potpourrie verschie­dener ästhe­ti­scher Versatz­stücke erscheint, die sich aber nicht aus dem Film ergeben, und dadurch auch kein Ganzes bilden können. Ob eine John-Ford Einstel­lung oder ein Sergio-Leone-Szenen­nachbau kommt, entscheidet sich nicht nach der Konflikt­lage der Figuren, sondern aus der Absicht des Regis­seurs, uns an diese Filme zu erinnern und seiner Freude, Film­ein­stel­lungen der Film­ge­schichte nach­zu­bauen. Die Figuren selbst sind gänzlich Gefangene dieser Ästhetik, in diesen technisch perfekten Szenen­nach­bauten einge­sperrt wie in einem Bern­stein­glas.

Tarantino, soviel kann man sagen, ist in tech­ni­scher Hinsicht ein glän­zender Rekon­struk­teur. So pinselt er beispiels­weise Unter­wei­sungs­szenen beim Lehr­meister Pei Mai (auch ein aus anderen Filmen herbei­ge­klonter Film­bö­se­wicht) »natur­ge­treu« in den verwa­schenen Farben der Kung Fu-Filme der 70er Jahre nach, und kopiert die gesamte Ästhetik der Filme mitsamt der Kame­ra­be­we­gungen (das plötz­liche Zoomen der Kamera auf die Gesichter, wenn gerade etwas Bedeu­tendes gezeigt werden soll). Uma Thurman (die wir als heutige Schau­spie­lerin wissen) wirkt darin selbst wie in einem 70er Jahre Film herein­ko­piert. Im Unter­schied zum Verfahren der „kriti­schen Rekon­struk­tion“ unter­lässt es Tarantino aller­dings, hinter den Fassaden eine Welt zu errichten, die den modernen Bedürf­nissen entspricht, er belässt es dabei, sie vielmehr ihres eigenen emotio­nalen Inhalts zu „entkernen“ (was mögli­cher­weise aber schon dem modernen Konsu­menten-Bedürfnis entge­gen­kommt). Es gibt keine Möglich­keit, hinter die Fassaden in das Innere der Bilder zu dringen, und viel­leicht wäre es richtiger, von den Bildern nicht als Fassaden, sondern vielmehr von Attrappen von Fassaden zu sprechen.

So sehr Tarentino, im Unter­schied zum Hollywood-Kino, von Bilder faszi­niert ist, so sehr kann sich diese Faszi­na­tion nicht mehr vermit­teln, weil ihr emotio­nales Gegen­s­tück, der Ekel, die Angst und der Hass aus den Bildern heraus­sub­li­miert ist. Somit sehen wir zwar Tarantino wie einem Kind zu, das faszi­niert in der Nach­stel­lung des von ihm Gesehenen vertieft ist, aber ohne die Faszi­na­tion noch nach­emp­finden zu können. In einer sehr klugen und ausführ­li­chen Bespre­chung zu Kill Bill hat Andreas Kilb Tarantino ein Fetisch-Verhältnis zu seinen Bildern attes­tiert, und das scheint auch die richtige Diagnose zu sein: Die Bedeutung (der emotio­nale Gehalt, der intel­lek­tu­elle Gehalt) liegt niemals in dem Medium selbst, in der Literatur nicht in den Worten, und im Kino nicht in den Bildern, die Bedeutung liegt sozusagen vor dem Medium, und wird erst sichtbar durch das Medium. Tarantino glaubt aber irrtüm­lich, mit den Bildern auch den Inhalt zu haben. Ohne aber eine gefühlte Bedeutung in den Bildern gibt es aber auch nichts mehr, was gestei­gert werden könnte, außer die äußere Virtuo­sität, die aber ohne die Grundlage eines gefühlten Inhalts sinnleer bleibt. Weniger abstrakt gespro­chen: wenn nach ungefähr einer halben Stunde der erste Kopf vom Rumpf fliegt, und sich noch nicht einmal das leiseste Erschre­cken einstellen will, ist der Film im Grunde schon an seinem Ende.

Man kann das eigent­liche Problem dieses Verfah­rens noch ein wenig allge­mein­gül­tiger und abstrakter angehen. Georg Seeßlen, der im Unter­schied zu mir bei Kill Bill »die Wonnen verlo­rener Kindheit« gespürt hat, hat in seiner Kritik zu dem Film geschrieben: Kill Bill verhält sich zu seinem Material (gemeint sind die Filme von John Woo, Sergio Leone u.s.w., d.V.) wie ein gewöhn­li­cher Film zur Wirk­lich­keit. Das ist eine zutref­fende Beschrei­bung des Verfah­rens von Tarantino, die aber statt sich schon als Antwort zu bequemen, doch zu weiteren Denk-Schritten auffor­dern müsste. So müsste man sich doch mal ganz naiv und unvor­be­lastet fragen, wie das gehen soll, wenn ein Medium zum selben Medium sich als sein Material verhält, und wie daraus überhaupt eine emotio­nale oder kognitive Wirkung entstehen soll. Es ist ja gerade die Verschie­den­heit des Mediums vom Leben, die ja die Voraus­set­zung dafür darstellt, dass das Leben auch tatsäch­lich zum Material und das Medium zum Medium werden kann.

Um das Beispiel von Sklovskij aufzu­greifen: Wenn ein Strahl (Material) sich durch ein Prisma (Medium) bricht, entsteht Bedeutung, nämlich eine emotio­nale und kognitive Wirkung. Das Ergebnis im glück­li­chen Fall ist: Wir sehen die Welt mit anderen Augen. Das Licht ist das Material, durch das es durch das Prisma gebrochen wird. Je verschie­dener nun das Medium vom Leben ist, desto größer auch der Brechungs­grad. Jedes Medium hat sein beson­deres spezi­fi­sches Brechungs­ver­hältnis zu seinem Material, dem Leben, je nach dem, wie „abgehoben“ es ist (das Brechungs­ver­hältnis vom Leben zur Musik zum Beispiel ist größer als das Brechungs­ver­hältnis zu einem Roman). Das Brechungs­ver­hältnis von einem Medium zum anderem, etwa vom Kino zur Literatur, ist zwar auch noch vorhanden, aber nicht mehr ganz so groß, was man an den vielen lite­ra­risch verbrämten Filme erkennen kann. Das Brechungs­ver­hältnis aber von demselben Medium zum selben Medium ist ausge­spro­chen gering und kann besten­falls durch die gegen­sei­tige Spie­ge­lung in den als gegen­sätz­lich empfun­denen Genres (ein Melodram durch eine Komödie, vom Gangs­ter­film durch einen film noir – Melville) erzeugt werden. Aber ein Brechungs­grad von Medium desglei­chen Genres zum Medium desglei­chen Genres liegt knapp über den Gefrier­punkt . Hier wird deutlich, warum Pulp Fiction noch halbwegs funk­tio­nieren konnte, und warum Kill Bill nicht mehr. In Pulp Fiction hatte Tarantino sich als aufge­klärter Zuschauer in die zitierten Kino­phan­ta­sien implan­tiert, wodurch ein geringer Brechungs­grad vorhanden war, und zumindest Witz und Ironie erzeugt werden konnte. In dem »totalen« Kino gibt es nichts mehr, was die Wahr­neh­mung verschieben oder verändern könnte, was auch die Öde an Sinn- und Bedeu­tungs­leere von Kill Bill erklärt.

Den Versuch, durch die inzes­tuöse Vermi­schung an sich schon verschwis­terter Genres (des Spaghetti-Western mit dem Kung-Fu-Film) ohne weitere Hinzutat eine emotio­nale Reaktion (sozusagen als Wert­zu­wächse) zu gewinnen, lässt sich durchaus mit dem Größen­wahn anderer alchi­mis­ti­scher Versuche der Mensch­heits­ge­schichte in eine Reihe stellen. Auf der anderen Seite drängte sich ja schon im Vergleich mit Taran­tinos Vorbil­dern der Verdacht auf, dass entgegen allen Bekun­dungen Taran­tinos eine irgendwie geartete Bedeutung überhaupt nicht gewollt ist. Im Gegenteil: Um die Kinowelt als reine Kinowelt zu erhalten, ist die Bedeu­tungs­ferne das eigent­lich ange­strebte Ziel, weil mit einer Bedeutung (eine emotio­nale Wirkung) doch wieder das Leben an dem Kino heran­treten lassen könnte. Das zeigt sich an der einzig „mensch­li­chen“ Szene, als die Haupt­fi­guren am Ende von Kill Bill sich gegen­ü­ber­sitzen, und ernsthaft überlegen, ob sie aus ihrem rein künst­li­chen Genre-Dasein nicht doch heraus­treten könnten und mensch­liche Gefühle zeigen. Es ist die einzige Szene, in der sich Tarantino an das wirkliche Leben heran­tastet. Aber natürlich wird auch diese Szene wieder ironisch vermit­tels von gezeigten Fern­seh­bil­dern gebrochen, und natürlich können und wollen die Figuren nicht aus ihrem künst­li­chen Leben hinaus. Dieses Kino kann und will sich nur durch Abdich­tung erhalten. Es ist nichts anderes als eine hoch­sub­li­mierte Kino-Idylle, hinter dem der alte post­mo­derne Traum aufscheint, das Leben leben zu können, ohne das Leben zu riskieren. Die Utopie dieses Kino ist die Vorstel­lung eines Lebens, in dem alles nichts bedeutet, und daher alles keine Bedeutung hat. Deswegen auch die Begeis­te­rung für das »total Über­trie­bene«, die freudige Hingabe am Unechten, und die Begeis­te­rung des Kritikers der Berliner Zeitung für falsche „Tränchen“ statt für wirkliche Tränen.

Das Leben aber leben zu können, ohne das Leben zu riskieren, ist nicht nur eine ziemlich infantile Vorstel­lung vom Leben, sondern auch von der Kunst. Uns an einen Ort zu führen, wo alles erlaubt ist, weil alles nichts mehr bedeutet, darin liegt wohl das eigent­liche Verspre­chen von Taran­tinos Kino. Ein Kino-Planet-Schla­raf­fen­land. Weil wir uns doch immer in irgend­einer Weise zu etwas und jemanden verhalten, im Leben wie in der Kunst, lässt sich im Leben und in der Kunst die Ästhetik von der Moral nicht trennen. Und weil sich die innere Bedeutung durch keinen Kunst­griff aus den Bildern heraus­jagen lässt, scheitert Kill Bill eben nicht „nur“ ästhe­tisch, sondern kann er dieses Verspre­chen nicht einlösen. Um aber die Illusion zu erhalten, dass es einen solchen moral­freie Ästhetik geben könnte, darf die Moral eben nicht sichtbar werden. Und um nicht sichtbar zu werden, darf gegen sie nicht verstoßen werden. Deshalb darf der Film die unsicht­baren Grenzen unserer Alltags­moral niemals über­schreiten. Wenn man einmal diese innere Logik erkannt hat, hört man auch auf, sich darüber zu wundern, dass es diesem so coolen Film nicht mal mehr gestattet ist, zumindest doch sein Rache­thema wirklich als solches auch ausspielen zu dürfen.

Weil die Vermei­dung von echter Rache für einen „Rachefilm“ schon etwas eher Unge­wöhn­li­ches ist, und weil wir ja Kill Bill und Dogville daran messen wollten, wie weit es beiden Filmen gelingt, uns über die Thematik der Rache eine ästhe­ti­sche Erfahrung zuteil werden zu lassen, möchten wir die betref­fende Szene schildern, in der Tarantino sein Rache­thema verrät. Gemeint ist nicht der Akt des Tötens selbst, sondern das Fehlen der Über­win­dung des Rach­e­tabus. Es handelt sich nicht um die erste Kampf­szene, aber um die erste und auch einzige Racheszene des Films. Nachdem »die Braut« aus dem Koma erwacht ist, und entdeckt hat, dass sie ihr Kind verloren hat, fährt sie zu ihrer ersten Ex-Kollegin, um sich an ihr zu rächen. Als diese an die Tür kommt, entbrennt sofort ein Schwert­kampf. Nun baut Tarantino einen mora­li­schen Wider­stand in Gestalt der heran­na­henden fünf­jäh­rigen Tochter »der Bösen« an. Dieser Wider­stand ist notwendig, denn um das Tabu der Rache zu brechen, müssen die inneren Skrupel über­wunden werden, denn ohne den Wider­stand würde die Rächende sich ihrer Rachsucht und ihrer Rück­sichts­lo­sig­keit nicht bewusst werden. Die Braut reagiert auf diesen Wider­stand, indem sie der Bitte der Bösen nachkommt, den Kampf zu unter­bre­chen, wobei die Braut den Zuschauer daran erinnert, dass deren Mutter Mitschuld am Tod ihres eigenen, unge­bo­renen Babys hat, was den Mitleids­ef­fekt für die Mutter-Böse schon mal etwas abdämpft. Das Kind wird nach oben geschickt, die beiden Frauen gehen in die Küche, und beginnen zu plaudern, was in den Zwischen­jahren passiert ist. Natürlich würden wir erwarten, dass der mora­li­sche Wider­stand über­wunden wird, und »die Braut« den Kampf wieder aufgreifen wird. Statt­dessen dreht sich die Böse mitten in dem Geplauder um und schießt durch eine Pistole, die sie in einer Corn­flakes­pa­ckung verborgen hat, auf die »Braut«, der natürlich nichts anderes übrig bleibt, als sich zu wehren und die Böse tötet.

Was ist passiert? Tarantino baut einen mora­li­schen Wider­stand in Gestalt des Kindes ein, wodurch das Tabu der Rache sichtbar wird. Die Braut ist in einem inneren Konflikt. Die Frage ist, ob ihr Rache­be­dürfnis so groß ist, dass sie diesen Wider­stand über­windet. Anstatt »der Braut« das amora­li­sche Recht auf Rache, und damit auf den ersten Schlag zu lassen, lässt Tarantino die »Böse« den feigen Mord­an­schlag begehen, wodurch die Braut aus ihrem inneren Konflikt plötzlich entlassen wird, und der vermeint­liche Racheakt zu einem besonders öden Fall moralisch korrekter Notwehr verkommt. Man sieht dann zwar das Mädchen an der Tür, das auf ihre tote Mutter ziemlich ausdruckslos guckt, zu der die Braut spricht, sie würde verstehen, wenn diese sich mal an ihr rächen würde. Aber das Gerede der Braut zu dem Mädchen ist nur noch bloße Behaup­tung, in unseren Augen ist sie mehrmals frei­ge­spro­chen, weil mehrmals entschul­digt: die Mutter des Mädchens war sowieso böse, sie hat zusammen mit den anderen das Kind der Braut auf den Gewissen, die Braut hat die Kampf­hand­lung frei­willig einge­stellt, die Mutter hat einen feigen Anschlag verübt, und die Braut war sozusagen gezwungen, die Mutter zu töten.

Wenn es überhaupt eines Beweises bedurft hätte, dass ein moral­freier Raum nicht existiert, und dass eine reine Ästhetik nicht zu bekommen ist, dann wäre er hiermit geliefert. Hat der Film durch sein im Vorspann voran­ge­stelltes Motto »Die Rache wird kalt serviert« uns doch in der Erwartung gewogen, dass die Alltags­moral davon gejagt würde, um uns damit in einem bedeu­tungs­freien Raum zu bewegen, sehen wir nun diese gute alte Moral wie einen alten und gebückten Hausierer wieder durch die Hintertür herein­schlei­chen, der uns seine alten, aufge­wärmten Entschul­di­gungs­gründe an den Mann zu bringen versucht. Hier offenbart sich ein Kino, das sich von eigens gezüch­teten Illu­sionen nährt, und mit falschen Verspre­chungen lockt: Erst ein Schild mit der Aufschrift »Rasen betreten verboten« (das Rachetabu in Gestalt des heran­na­henden Kindes) aufzu­stellen, das Schild dann klamm­heim­lich zu entfernen (die Böse ist Schuld am Tod des Kindes der Braut), und dann uns die Rasen­fläche noch nicht mal betreten, also den Racheakt uns noch nicht mal voll­ziehen, und statt­dessen zu einem Fall von Tötung aus Notwehr verkommen zu lassen, zeugt von einem Kino, das selbst zu der unschul­digsten Erfahrung nicht mehr in der Lage ist. Zwar gibt es, wie wir jetzt sehen konnten, am Ende von Kill Bill so etwas wie einen halben Racheakt – die Braut muss mit »Bill« den früheren Liebhaber und Vater ihres Kindes umbringen, was immer schon ein zumindest gedachter mora­li­scher Wider­stand ist (was dem Kind aber scheinbar, das später glücklich vor dem Fernseher sitzt, nichts ausmacht) – aber dieser Racheakt ist dermaßen wieder entschul­digt durch den vorhe­rigen Diskurs, und schließ­lich durch den dahin­schei­denden Bill selbst, dass auch hier jedes Erlebnis einer gren­zü­ber­schrei­tenden Gesche­hens von vorn­herein ausge­schlossen ist. Ange­sichts der von Tarantino im seinen Inter­views verbrei­teten markigen Worten von Schwanz und Eiern, mit denen er seine Produk­ti­vität meta­pho­ri­siert (»Denn was passiert, wenn Regis­seure nicht mehr auf ihren Penis hören? Sie machen Schlapp­schwanz­filme. Das soll mir nicht passieren« Spiegel-Interview), könnte man in die Versu­chung kommen, die Sach­lich­keit unserer Über­le­gungen zu verlassen, und den Film KILL BILL als das zu bezeichnen, was er letztlich auch ist, nämlich als einen Rachefilm für den narziss­ti­schen cine­philen Bordell­gänger des Kinos. Der wahre Fan aber wird seiner Erin­ne­rungen und Antriebe genauso beraubt, wie wir, die in den 70er Jahren wie Tarantino in die Bruce-Lee-Filme und Spaghetti-Western gegangen sind.

Schon jetzt ist es keine Frage, welches der beiden Filme der bessere Rachefilm ist. Bezüglich aber unseres über­ge­ord­neten Inter­esses müsste man das Scheitern von Kill Bill noch mal in dem Zusam­men­hang betrachten, den wir anfangs aufge­stellt haben. Hierfür wollen wir noch einmal die theo­re­ti­sche Fest­stel­lung aufgreifen, dass Taran­tinos Kino sich zum Kino als sein Material verhält, wie der gewöhn­liche Film zum Leben. Wenn man den Akzent dieser Fest­stel­lung nicht auf den Gegensatz, sondern das Gemein­same legt – »wie zu«, und dabei unter­stellt, dass mit dem gewöhn­li­chen Film das „Hollywood-Kino“ gemeint war, dann findet diese Fest­stel­lung seine weitere Bewahr­hei­tung darin, dass Taran­tinos Kino sich in der Tat in einer wichtigen Hinsicht genau wie das gewöhn­liche Hollywood-Kino verhält. Beide Arten von Kino verhalten sich nämlich zu dem Film als Medium gleich zerstö­re­risch, der Unter­schied ist lediglich, dass die Zers­törung von zwei entge­gen­ge­setzten Enden ausgeht: Gibt uns das Hollywood-Kino von der Inhalt­seite die Illusion, unsere Alltags­welt abzu­bilden, indem es auf den Inhalt setzt, und die Form unter­drückt, so soll uns Tarantino von der Formseite her die Illusion geben, unser Innen-Kino abzu­bilden, indem er den Inhalt unter­drückt. Beides führt, wie wir gesehen haben, zu einer Verab­so­lu­tie­rung von Bildern, die nichts weiter mehr enthalten, als das, was in ihnen zu sehen ist.

Von einem künst­le­ri­schen, bzw. kunst­dia­gnos­ti­schen Stand­punkt aus betrachtet gebiert das Verfahren Tarantino eine Kunst, die wie an sich selbst patho­lo­gisch geworden ist. Hat uns Tarantino in Pulp Fiction unser Innen-Kino von außen betrachten lassen, so sperrt er uns mit Kill Bill in unserem Innen-Kino hinein. Er führt uns zwar aus unserer Alltags-Welt heraus, bzw. er löscht sie aus, indem er dem Blick aus unserem Alltags­fenster eine Leinwand vorschiebt, wo wir Bilder sehen, die wir als genauso »wirklich« und absolut begreifen sollen, wie die Bilder des Alltags­le­bens. Ob wir aber, wie im Hollywood-Kino, in unserem Alltags­ge­fängnis einge­sperrt, oder aber, wie bei Tarantino, in unserem Innen-Kino mit all den Fassa­den­bil­dern einge­mauert sind, macht auf die Dauer auch keinen Unter­schied mehr. Im Gegenteil: Was eigent­lich Ort der Freiheit sein soll, nämlich das Kino, wird zu einem Ort, in dem wir mit unseren Kino­bil­dern, zwangs­kol­lek­ti­viert werden. Auf die Dauer ist das so beglü­ckend, wie Dauer­fern­sehen im Ich-Gefängnis.

das nächste Kapitel: IV. Dogville