Dogville Kills Bill
III. Kill Bill |
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She wants to Kill Bill | ||
(Foto: Buena Vista) |
Zwei Ansichten Amerikas, zwei rächende Frauen im Zentrum, zwei eigenwillige Regieleistungen, in sich grundverschieden.
Von Frank Müllers
Auch wenn Tarantinos Kino, und man darf sagen, auf keinen Fall zu Unrecht, im Verdacht steht, mit der eingangs beschriebenen Misere der Erfahrungsresistenz und Saturiertheit verbunden zu sein, vielleicht sogar auch ein wenig mitschuldig zu sein an der Misere, dass das Kino kein wirklicher Ort der Erfahrung ist, täte man Tarantino Unrecht, wenn ihn vom Endpunkt seiner Entwicklung aus betrachten würde. Wie Georg Seeßlen richtig sagt, hat Tarantino das Kino der 90er Jahre hauptsächlich beeinflusst, und der Grund hierfür ist mit einigem gutem Willen auch nachvollziehbar: Das postmoderne Kino hat mit seiner polemischen Aufhebung der Trennung zwischen Kunst und Unterhaltung zwar auch die Kunst mit aufgehoben – Kunst ist uncool – aber der Impuls, aus dem dies geschah, war ein durchaus künstlerischer Impuls: sich der scheinbaren Trivialkultur zuzuwenden, war ein Protest gegen eine falsche und unproduktive Trennung zwischen dem Film mit künstlerischem Anspruch und dem Unterhaltungskino. Der Akt war deswegen künstlerisch, weil er darauf zielte, die Möglichkeiten der Erfahrungen im Kino zu erweitern.
Pulp Fiction stellt mit Recht den Höhepunkt und die Zäsur dieses postmodernen Kinos dar. Allein schon der Umstand, dass Tarantino das scheinbar Niedrige und Geschmähte in den Palast des technisch perfekten Mainstream-Kinos führte, stellte einen Akt der Revolte dar. Indem er die Schlüsselmomente, Schlüsselfiguren und Schlüsselszenen aus dem früher als trivial verachteten Genre-Kino in dem hellen Glanz unseres Mainstream-Bewußtseins hereinstellte, rehabilitierte er das Geschmähte, und bescherte einer ganzen Generation von Kino- und Fernsehzuschauern das Glücksmoment, das früher als niedrig Geachtete nun im neuen Glanz erhöht und anerkannt zu sehen. Aber Tarantino ließ nicht nur die Genre-Inhalte in den Mainstream-Palast hinein und zelebrierte mit ihnen die Genre-Liturgie, sondern gesellte sich – und das war der zweite Kunstgriff – als ein anarchistischer Ministrant hinzu, der immer wieder in die Liturgie eingriff, und diese immer wieder in den entscheidenden Momenten der Absurdität überführte. Damit rehabilitierte er nicht nur das scheinbar triviale Genre, sondern zeigte einer Gemeinde aus gebildeten und in die Liturgie eingeweihten Cinephiler (und er bedurfte dieser Gemeinde), wie man sich sonst noch seiner Kinophantasien bemächtigen kann. Warum sollte man, anstatt seinen Phantasien ausgeliefert zu sein, nicht auf durchaus respektvolle Weise Scherze mit ihnen treiben?
»Genres are part of our dreams«, wie es ein amerikanischer Filmtheoretiker mal formulierte. Macht man sich diese Analogie zwischen Traum und Genre-Kino zueigen, dann lässt sich der Nachteil des Verfahrens von Tarantino schon in Pulp Fiction nicht übersehen. Tarantino ließ uns sozusagen unser Innen-Kino von außen betrachten, was zwar zu Witz und Ironie führte, aber auch zu einer Abwertung des Inhalts. Mit dem Betrachten der Kinoträume aus den Gangster- und Film-Noir-Genre von außen, ging auch deren früherer, innerer Erfahrungsinhalt verloren.
Tarantino dachte gar nicht daran, die Erfahrungsinhalte selbst zu wiederholen, oder uns dazu einzuladen, diese zu aktualisieren, sondern er ließ uns diese betrachten und mit dem erwachsen gewordenen Bewusstein darüber Witze machen. Die Konventionen des Genres, sind, wenn man nicht mehr deren inneren Gefühlsinhalt mitspürt, in der Tat nur noch komisch und grotesk anzusehen, so wie einem die eigenen Träume grotesk werden, wenn man sie sich vom überheblichen Gipfel des wachen Bewusstseins, oder vom eisernen Katheder der Logik aus betrachtet. Auch schon in den von Uma Thurman und John Travolta gespielten Figuren floss mehr Zelluloid als warmes Blut in ihren Adern, und wenn es in Pulp Fiction realistisch zu werden drohte, etwa wenn der Killer Viagra auf der Toilette überraschend erschossen wurde, kam der nächste lustige Einfall, um uns ins Gedächtnis zu rufen, dass es sich hier nur um Kino-Bilder und Kino-Figuren – also nichts Ernstes – handelt.
So war schon Pulp Fiction eine seltsame Zweischneidigkeit eigen: Einerseits wurde den Genre-Träumen Tribut gezollt, sie wurden gefeiert, in den Palast des Mainstream-Gesellschaft eingeführt, aber auf der anderen Seite verloren sie in diesem hellichten Glanz aber auch ihr einstmals angsteinflössendes Aussehen. So wurde das Filmegucken zugleich zu einer speziellen Tarantino-Therapie, die darin bestand, durch das Gewahrwerden der von außen betrachtet lächerlichen Genre-Bilder sich der früheren erlittenen Zuständen der Angst in diesen vergangenen Kino-Träumen zu entledigen. Die Freude an der Wiedererkennung, die ja zentrale Absicht dieses Kinos ist, ist zugleich immer auch die Freude über die Wiederholbarkeit, und was wiederholbar ist, hat seinen Schrecken schon verloren, und ist die Bestätigung dafür, dass es schon Alltag geworden ist: dass wir uns in diesem Innen-Kino schon wie in einem Wohnzimmer eingerichtet haben.
Wenn man sich nun Kill Bill nähert, dann muss man das im Bewusstsein tun, dass es sich um einen Kino-Film »zweiter Ordnung« handelt, dass es also nicht um Rache geht, sondern um den Rachefilm. Hier ist der wesentliche Unterschied von Kill Bill zu Lars von Triers Dogville schon benannt. Obwohl beide Filme dasselbe Thema anschlagen, dieselbe Ausgangslage haben (eine Heldin, die gedemütigt wird und sich an ihren Peinigern rächt), und obwohl auch beide Filme eine emotionale Wirkung erzeugen wollen, zielen beide auf eine andere Region unserer Emotionen. Lars von Trier möchte mit seinem Film das atavistische Gefühl der Rache selbst erwecken, er möchte unsere gesamte Emotionalität. Tarantino möchte ausschließlich die Gefühle wecken, die wir mit den Rachefilmen verbinden. Er möchte also nur die Seite unserer Erfahrungswelt erwecken, die wir mit dem Innen-Kino verbinden.
Wir müssen uns von Beginn an im Klaren sein, dass der Maßstab, mit denen wir beide Filme ausmessen und bewerten wollen, nämlich die Erfahrungsqualität, bei Tarantinos Film auf ein Missverständnis beruhen könnte, das wir aber solange billigend in Kauf nehmen wollen, bis geklärt ist, wo das Missverständnis zu suchen ist – zwischen unserem Verständnis von Kino und Tarantinos Verständnis, oder, wie wir jetzt schon freimütig vermuten wollen, zwischen Tarantino und seinem Medium. Aber natürlich möchte auch Tarantino keinen „kalten“ Film machen, auch er will unsere Emotionen erwecken, sogar die größten. Auf eine kritische Frage im »Spiegel« verspricht Tarantino: »Klar, das ist vielleicht nicht Ihre Art Kino, und es ist Ihr gutes Recht den Film nicht zu mögen. Aber wer sich KILL BILL anschaut, der erlebt garantiert einen Kinoabend, der sein Geld wert ist. Sie können den Film hassen, seien Sie gewarnt! Aber Sie werden bewegt sein im Kino und liegen nicht nur in Ihrem Sessel, während ein paar beliebige bunte Bilder vor Ihren Augen vorbeirasen.« Man könnte, zumindest wenn man Kill Bill noch nicht kennt, schon an dieser Stelle den Unterschied beider Regisseure formulieren: Wäre Lars von Trier ein „klassischer“ oder konventioneller Künstler, der in seinen Filmen erzählt, welche Wirkung das Leben auf ihn gehabt hat, so ließe sich Tarantino als der Künstler bezeichnen, der uns mitteilt, welche Wirkung das Kino auf ihn gehabt hat.
Aber leider: Das mag für Pulp Fiction noch gelten, aber eben für Kill Bill nicht mehr. In dem poetischen Verfahren von Pulp Fiction nimmt Tarantino in KILL BILL eine wesentliche Änderung vor: Gab es in Pulp Fiction nicht nur die Kinophantasien, sondern als »realistischen« Moment den Zuschauer Tarantino, der die Kinophantasie durch seine Einfälle kommentierte und auch konterkarierte, eliminiert Tarantino sich nun selbst aus diesem Verfahren. Damit eliminiert er das einzige Element, was an seinem Kino »authentisch«, was erste Hand war, und nicht zweiter, oder dritter Hand. In Kill Bill soll es nur noch die reinen Kinophantasien geben, das totale Kino. Das ketzerische Ministrantengewand ausgezogen, die Kirchentür verrammelt, so dass kein Lichtstrahl mehr von außen hereindringt, erscheint Tarantino als Hohepriester des Genre-Kino, um uns die totale, die reine Kinomesse zu zelebrieren. Es scheint, als ob Tarantino seinen Platz als Zuschauer endgültig verlassen wollte, um endlich auch einen „richtigen“ Film zu machen, den er schon mit Jackie Brown angestrebt hat.
Tarantino erzählt also nicht mehr, welche Wirkung die Filme auf ihn gehabt haben, sondern er will die Bilder selbst erzählen lassen. Damit haben wir mit dem Film Kill Bill das fast einzigartig dastehende Experiment, das darin besteht, einen Film allein aus Kinobildern zu komponieren und die Bedeutung allein aus den Bildern zu schöpfen.
»Allein aus Bildern« heißt: dass alle anderen möglichen Bedeutungsträger den Bildern gänzlich untergeordnet werden. Weder gibt es realistische Charaktere, und zumindest, was den ersten Teil betrifft, gibt es noch nicht mal den Ansatz eines Dramas. Es gibt lediglich eine Ausgangssituation: eine junge Frau, die Mitglied einer Verbrecherbande ist, wird von ihren Mitkämpfern auf Befehl des geheimnisvollen Chefs Bill (den wir im ersten Teil nicht zu sehen kriegen) halbtot geschlagen, wacht nach fünf Jahren aus dem Koma wieder auf, stellt fest, dass sie dabei auch ihr Baby verloren hat, und beginnt nun, nach einer Liste zu den verräterischen Bandenmitglieder zu reisen, um sich an jedem einzelnen zu rächen. Dies ist im Prinzip alles, was „Geschichte“ an dem Film ist, aber es ist, wie wir im Vergleich mit Dogville sehen werden, auch alles, was der Inhalt dieses Films ist. Dass im zweiten Teil es doch zur Andeutung eines Inhalts kommt, nämlich den Konflikt zwischen »Der Braut« und »Bill«, ihrem Lehrer, Erzieher und Mentor und Mörder, ändert an dem Verfahren nichts, weil das ästhetische Verfahren selbst auf diesen Konflikt nicht beruht. Die erzählerischen Zutaten im zweiten Teil (Beziehungen zwischen den Figuren, sofern man von Beziehung bei Comic-Figuren sprechen kann; Dialoge, wenn auch fürchterlich klischierte) lassen das Verfahren nur ein bisschen weniger streng erscheinen, was auch die allgemeine Erleichterung erklärt, mit der man diese erzählerischen Zutaten zur Kenntnis genommen hat. Die Bilder, die Einstellungen bleiben dieser Story aber vollkommen enthoben, weil sie von außen, aus dem cineastischen Fundus von Tarantino herein kommt, und nicht – wie in einem „gewöhnlichen“ Film – aus der Situation, oder den Charakteren.
Sowenig es eine wirkliche Story gibt, so wenig gibt es auch wirkliche Charaktere: Die Hauptfigur, genannt »Die Braut«, ist eine ganz und gar abstrakte Figur, was sich nicht nur durch die Abwesenheit jeglichen inneren Konflikts, sondern durch das Fehlen jeglicher Emotion zeigt. Offenbar wird diese emotionale Leere vor allem in den Großaufnahmen: Wenn Thurman z.B. Wut darzustellen hat (um das in Kill Bill vorherrschende Gefühl zu nennen), dann senkt sie das Kinn, und justiert die Pupillen an die oberen Augenrändern, und nichts weiter – es ist nur Wut, ohne den natürlichen Beiklang eines anderen Gefühls. Es ist eine Kindermimik, wie ja auch Kinder die dunklen Schatten, die Widerständen und Ambivalenzen der Gefühlswelt empfinden, diese sich aber noch nicht gegenüberstellen und zur Bewusstheit bringen können. Es sind daher noch nicht mal Gefühle von Kindern, die Tarantino zeigt: es ist eine idealisierte Kinderwelt, in der jegliche Spuren von Schauer, Angst und Schrecken heraussublimiert sind. Die Kamera findet keinen Inhalt, die Großaufnahme nicht die ihr adäquate Gefühlsdarstellung. Nicht, dass Thurman schlecht spielt, nur, es gibt für sie nichts zu spielen, und wenn wir Thurman nicht schon in anderen Filmen gesehen hätten, wüssten wir gar nicht, ob es sich bei ihr überhaupt um eine wirkliche Schauspielerin handelt. Wenn sich mal eine echte Emotion androht, etwa in der Szene, wenn »Die Braut« nach fünfjährigem Koma entdecken muss, dass sie ihr Baby verloren hat – eine wie Tarantino im Interview sagt, eigentlich »herzergreifende Szene« – lässt ihr der Regisseur gerade mal wenige Augenblicke Zeit, sich dieses Schreckens zu verinnerlichen, und zwingt dadurch seine Hauptdarstellerin, den Schrecken und das Entsetzen in völlig unglaubhafte klischeehaften Darstellungsweisen (Augen aufreißen) verflüchtigen zu lassen.
Was wir hier mit leisem Bedauern feststellen, ist aber von Tarantino gänzlich beabsichtigt. Tarantino hat sich mit Pulp Fiction zu Godard bekannt, und tatsächlich steht die Furiosität, mit der Tarantino alles, was nach Story, Dramaturgie aussieht, hinter sich lässt, in denkbar größtem Gegensatz zum plotfixierten Hollywood-Kino. Rein nach Bildern erzählen heißt hier: was als nächstes folgt, wird nicht von der Dramaturgie, einem inneren Geschehen, oder gar von einem Charakter bestimmt, sondern allein nach der bildlichen, emotionalen Steigerung der Kampfbilder, der Orgie der Farbdramaturgie und der Blutfontänen bis hin zu den gehäuften Leichen einer Kampfszene.
Die Bilder ohne ihren Inhalt, die Handlungen ohne ihre implizite Moral haben zu wollen, sichert allein das Kino als einen utopischen Ort, in dem es keine Folgen, keine Konsequenzen, keine Bedeutungen gibt, sondern nur Bilder, die sich mit anderen Bildern verbinden. Vermutlich haben wir mit Kill Bill den größten „Nouvelle Vague“ Film aller Zeiten vor uns. Die Idee des »reinen«, des »absoluten« Kinos ist noch in keinem Film in einer solchen Klarheit vor uns hingetreten, wie in diesem Film. Die Besonderheit dieses Kinos besteht nicht darin, dass es sich auf andere Filme bezieht (das macht, mit unterschiedlichem Grad, jedes Kunstwerk offen oder versteckt), sondern die Ausschließlichkeit, mit der es sich auf andere Bilder bezieht, und mit der die Bilder sich vor jeder weiteren Hinzutat, sei es einer Emotion, sei es einer Geschichte, geradezu abdichten. Rein aus Bildern meint auch »reine Bilder«, und »reine Bilder« sind Bilder, die in unserer Vergangenheit liegen, und nicht durch eine aktuelle Emotionalität, man könnte fast sagen, verschmutzt, verunstaltet, verunschönt werden sollen. Eine individuelle Emotion würde die Schönheit der Bilder beeinträchtigen, und den Blick auf sie verstellen. Die Verklärung des Films auf der Höhe eines Gottes (wie dies Tarantino in Interviews immer wieder macht) und der Kinovorstellung als einer Messe leitet sich direkt von der Vorstellung des reinen Kinos ab. Man soll zwar Gott preisen, aber man soll ihm zugleich auch nicht nahe kommen. Man soll die vergangenen Kino-Bilder ehren, aber man soll sich kein eigenes Bildnis von ihnen machen.
Das eigentümliche (innere) Bildnisverbot in den Bildern zeigt sich am deutlichsten in den Gewaltdarstellungen, die Tarantino einzig an seinen Vor-Bildern des Kung-Fu-Films und Spaghetti-Westerns interessiert und übernommen hat (andere poetische Momente dieses Genres finden in dem Tarantino-Kosmos keinen Widerhall). Um den Zuschauer auf Distanz zu halten und um einen moralfreien Raum zu erhalten, bedarf es immer auch der Aufrechterhaltung des Wissens, dass es sich »nur« um einen Film handelt. In Pulp Fiction konnte eine sich androhende, realistische Gewaltszene durch einen lustigen Einfall unterbrochen werden, der damit dem Zuschauer zu Bewusstsein bringt, dass in Wirklichkeit nicht Blut, sondern bloß Ketchup fließt. In Kill Bill aber, in dem der »Ketchup« rufende Ministrant entfernt worden ist, muss sich das warnende Bewusstsein, das es sich „nur“ um Kino handelt, durch die totale Übertriebenheit der Gewaltdarstellung gleichermaßen durch meterhohe Blutfontänen, herumrollende Plastikköpfen gleich mitinszenieren. Die Übertriebenheit, mit der Kunstblut fließt, erweckt überhaupt nicht mehr den Eindruck, als könnte es sich um wirkliches Blut handeln. In dieser Gewaltferne seines Gewaltfilms zeigt sich seine Konzeption eines reinen Kinos am deutlichsten. Die Gewalt könnte abstrakter nicht auftreten, das Blut nicht übertrieben genug aus den Schläuchen spritzen, so dass es nicht nur ein Kalauer ist, wenn wir sagen, noch niemals ein blutleereren, gewaltloseren »Gewaltfilm« gesehen zu haben als diesen.
Just an dieser Stelle würde nun Tarantino sagen, ja, das ist genau das, was ich beabsichtige. Und eben genau an dieser Stelle müssen wir uns ernstlich auf die eben schon erwähnte Frage einlassen, auf welcher Seite das Missverständnis liegt, wenn wir auch auf Tarantinos Kino den Maßstab der ästhetischen Erfahrung anlegen – auf unserer, die wir Tarantino nach falschen Maßstäben messen, oder auf Seiten Tarantinos, wobei das Missverständnis nicht zwischen Tarantino und uns (den Zuschauern), sondern zwischen ihm und dem Medium des Films liegt. Es ist schon ein seltsamer Widerspruch, dass Tarantino auf der einen Seite ein Höchstmaß an Spannung und Emotionalität verspricht, auf der anderen Seite aber jeder Eindruck, dass es in seinem Film tatsächlich um etwas gehen sollte (um ein Leben, um die Ehre o.ä.) sofort wieder verneint wird. Welche emotionale Wirkung soll sich beim Zuschauer einstellen, sieht man von der Freude des Wiedererkennens von früheren Filmen ab?
Es ist schon befremdlich, dass Tarantino die Konsequenz seines eigenen Verfahrens offensichtlich nicht durchschaut. In besagtem „Spiegel“-Interview erzählt Tarantino auf die Frage, wie viele Tote es in seinem Film gebe, er wisse es nicht, irgendwann hätte er aufgehört zu zählen. Die Antwort dieser Frage lautet natürlich: Keine einzigen, denn was noch nicht mal eine Eigenleben beansprucht hat, kann auch nicht sterben.
Noch seltsamer erscheint, dass Tarantino auch nicht aufzugehen scheint, wie sehr er sich mit der splatterhaften „Unrealistik“ von seinen Vorbildern (Sergio Leone, den Bruce-Lee-Filmen) denen er doch nacheifern möchte, entfernt, und man könnte fast den Eindruck haben, dass Tarantinos Beziehung zu den Meistern des Spaghetti- und Kung Fu-Films wie fast in jeder Fan-Beziehung auf eine unredliche Usurpierung, zumindest auf jenes schon erwähnte Missverständnis hinausläuft (und es sind ja einzig nur die Vor-Bilder, die ja die Bilderwelten Tarantinos legitimieren, weil es einen anderen Bezugspunkt nicht gibt). Man kann diesen Sachverhalt leicht erkennen, wenn man außerhalb der Bilderwände von Kill Bill sich der Wirkung der Vorbilder Tarantinos ins Gedächtnis zurückruft: den trashigen und doch manchmal kunstvollen Kung-Fu-Filmen.
Alle Kunst findet in einem vom Leben abgetrennten Bereich statt, aber das ist nicht, wie Tarantino offensichtlich meint, schon das Ziel, sondern dient bloß dem Zweck. Der Zweck besteht darin, in dem abgegrenzten Raum der Kunst eine Erfahrung zu ermöglichen, die das normale, alltägliche Leben nicht hergibt. Auch das Genre-Kino mit seinen besonderen Regeln und Konventionen ist geschaffen, uns mit einem besonderen Ausmaß von Brutalität zu konfrontieren. Daher waren die Übertriebenheiten der von Tarantino verehrten Vorbilder auch niemals so übertrieben, dass die Brutalität (etwa die Abtrennung eines Arms) nicht mehr glaubhaft erschienen wäre. Die „Gewalt“ war immer realistisch genug, um die Empathie des Zuschauers am Leben zu erhalten, und sie war schön und abstrakt genug, dass wir uns trotz der Brutalität ihr nicht entziehen konnten. Zwischen der Schönheit des Bildes und der Angst und Ekel auslösenden Handlung entstand im Bild eine Ambivalenz und erst durch diese Ambivalenz war auch Faszination möglich. Jeder, der sich als Jugendlicher in einen Bruce-Lee-Film getraut hat, wird sich dieser Ambivalenz erinnern, auch wenn er es damals nicht Ambivalenz genannt, sondern nur als dumpfe Mischung der Freude und Angst vor der ersten brutalen Kopf- und Glied-ab-Szene wahrgenommen hat, mit der bangenden Frage im Hintergrund, ob er die Brutalität der nächsten Szene überstehen würde. Tarantino aber will von der Ästhetik nur das Ästhetische, er will nur die Schönheit der Gewalt, ohne aber das Empfinden der Gewalt dazu.
Ästhetisch lässt sich sein Verfahren, Schönheit und Authentizität herbeirufen zu wollen, vielleicht am ehesten mit dem in der Architektur als Signum der Postmoderne bekannten Verfahrens der „kritischen Rekonstruktion“ vergleichen. Wie dort unternimmt Tarantino den Versuch, einerseits die aus der Vergangenheit bekannten Bilder aus unserem kollektiven Gedächtnis bis hin zur sklavischen Nachahmung auszustellen. Andererseits stellt er die Kampfszenen in schöneren, aufgefrischten Bildern dar, indem er sie in einer Perfektion durchkomponiert, die für seine Vorbilder niemals möglich gewesen wäre (für manche Kampfszene hat er nach eigener Auskunft 22 Drehbuchseiten gebraucht). Was vielleicht noch in Verzückung versetzen kann, wenn wir in einem technisch besser ausgeleuchteten Film die kämpfenden Schauspieler am Drahtseil hängen sehen, und dann verzückt aufstöhnen »Oh, die gute, alte Drahtseiltechnik«, führt andererseits aber zu dem Gefühl, nicht unbedingt einer Fälschung zu begegnen, aber doch nur eine bloße Fassade zu erblicken, in denen wir zwar Originalteile wiedererkennen können (eine Einstellung, eine Kamerawinkel, ein Requisit, der originaler Kung-Fu-Schauspieler), die aber dennoch die emotionale Erinnerung an die vergangenen Filme nicht wiedererwecken können (vielleicht muss man sich dieses ästhetische Verfahren so vorstellen, als würde Steven Spielberg einen Porno-Klassiker wie Deep Throat mit seinen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln nachdrehen, wozu er dann noch Originalschauspieler in Nebenrollen steckt). Da Tarantino dem nichts weiter zufügt, sondern sich innerhalb dieses Verfahrens sklavisch zu seinen Vorbildern verhalten muss (denn eine andere Referenz hat er nicht), führt dieses Verfahren zu Fassadenbildern und auch Fassadenhandlungen. So lässt Tarantino im ersten Teil die Szene, in der die Heldin vom Schwertmeister das Schwert erhält, in quälender Länge ausspielen, wobei den Fan wohl nur noch die Tatsache in Verzückung zu setzen hat, dass der Schwertmeister vom Kung-Fu-Schauspieler Sona Chiba gespielt wird.
Im zweiten Teil von Kill Bill wird das Prinzip dieses Verfahrens noch deutlicher: Anstelle der übertriebenen Gewaltszenen, die uns ja das Bewusstsein am Leben erhalten, dass wir »nur« einen Film sehen, erhalten wir Zitat-Bildern von noch mehr Filmen als im ersten Teil, was dazu führt, dass der Film wie ein Potpourrie verschiedener ästhetischer Versatzstücke erscheint, die sich aber nicht aus dem Film ergeben, und dadurch auch kein Ganzes bilden können. Ob eine John-Ford Einstellung oder ein Sergio-Leone-Szenennachbau kommt, entscheidet sich nicht nach der Konfliktlage der Figuren, sondern aus der Absicht des Regisseurs, uns an diese Filme zu erinnern und seiner Freude, Filmeinstellungen der Filmgeschichte nachzubauen. Die Figuren selbst sind gänzlich Gefangene dieser Ästhetik, in diesen technisch perfekten Szenennachbauten eingesperrt wie in einem Bernsteinglas.
Tarantino, soviel kann man sagen, ist in technischer Hinsicht ein glänzender Rekonstrukteur. So pinselt er beispielsweise Unterweisungsszenen beim Lehrmeister Pei Mai (auch ein aus anderen Filmen herbeigeklonter Filmbösewicht) »naturgetreu« in den verwaschenen Farben der Kung Fu-Filme der 70er Jahre nach, und kopiert die gesamte Ästhetik der Filme mitsamt der Kamerabewegungen (das plötzliche Zoomen der Kamera auf die Gesichter, wenn gerade etwas Bedeutendes gezeigt werden soll). Uma Thurman (die wir als heutige Schauspielerin wissen) wirkt darin selbst wie in einem 70er Jahre Film hereinkopiert. Im Unterschied zum Verfahren der „kritischen Rekonstruktion“ unterlässt es Tarantino allerdings, hinter den Fassaden eine Welt zu errichten, die den modernen Bedürfnissen entspricht, er belässt es dabei, sie vielmehr ihres eigenen emotionalen Inhalts zu „entkernen“ (was möglicherweise aber schon dem modernen Konsumenten-Bedürfnis entgegenkommt). Es gibt keine Möglichkeit, hinter die Fassaden in das Innere der Bilder zu dringen, und vielleicht wäre es richtiger, von den Bildern nicht als Fassaden, sondern vielmehr von Attrappen von Fassaden zu sprechen.
So sehr Tarentino, im Unterschied zum Hollywood-Kino, von Bilder fasziniert ist, so sehr kann sich diese Faszination nicht mehr vermitteln, weil ihr emotionales Gegenstück, der Ekel, die Angst und der Hass aus den Bildern heraussublimiert ist. Somit sehen wir zwar Tarantino wie einem Kind zu, das fasziniert in der Nachstellung des von ihm Gesehenen vertieft ist, aber ohne die Faszination noch nachempfinden zu können. In einer sehr klugen und ausführlichen Besprechung zu Kill Bill hat Andreas Kilb Tarantino ein Fetisch-Verhältnis zu seinen Bildern attestiert, und das scheint auch die richtige Diagnose zu sein: Die Bedeutung (der emotionale Gehalt, der intellektuelle Gehalt) liegt niemals in dem Medium selbst, in der Literatur nicht in den Worten, und im Kino nicht in den Bildern, die Bedeutung liegt sozusagen vor dem Medium, und wird erst sichtbar durch das Medium. Tarantino glaubt aber irrtümlich, mit den Bildern auch den Inhalt zu haben. Ohne aber eine gefühlte Bedeutung in den Bildern gibt es aber auch nichts mehr, was gesteigert werden könnte, außer die äußere Virtuosität, die aber ohne die Grundlage eines gefühlten Inhalts sinnleer bleibt. Weniger abstrakt gesprochen: wenn nach ungefähr einer halben Stunde der erste Kopf vom Rumpf fliegt, und sich noch nicht einmal das leiseste Erschrecken einstellen will, ist der Film im Grunde schon an seinem Ende.
Man kann das eigentliche Problem dieses Verfahrens noch ein wenig allgemeingültiger und abstrakter angehen. Georg Seeßlen, der im Unterschied zu mir bei Kill Bill »die Wonnen verlorener Kindheit« gespürt hat, hat in seiner Kritik zu dem Film geschrieben: Kill Bill verhält sich zu seinem Material (gemeint sind die Filme von John Woo, Sergio Leone u.s.w., d.V.) wie ein gewöhnlicher Film zur Wirklichkeit. Das ist eine zutreffende Beschreibung des Verfahrens von Tarantino, die aber statt sich schon als Antwort zu bequemen, doch zu weiteren Denk-Schritten auffordern müsste. So müsste man sich doch mal ganz naiv und unvorbelastet fragen, wie das gehen soll, wenn ein Medium zum selben Medium sich als sein Material verhält, und wie daraus überhaupt eine emotionale oder kognitive Wirkung entstehen soll. Es ist ja gerade die Verschiedenheit des Mediums vom Leben, die ja die Voraussetzung dafür darstellt, dass das Leben auch tatsächlich zum Material und das Medium zum Medium werden kann.
Um das Beispiel von Sklovskij aufzugreifen: Wenn ein Strahl (Material) sich durch ein Prisma (Medium) bricht, entsteht Bedeutung, nämlich eine emotionale und kognitive Wirkung. Das Ergebnis im glücklichen Fall ist: Wir sehen die Welt mit anderen Augen. Das Licht ist das Material, durch das es durch das Prisma gebrochen wird. Je verschiedener nun das Medium vom Leben ist, desto größer auch der Brechungsgrad. Jedes Medium hat sein besonderes spezifisches Brechungsverhältnis zu seinem Material, dem Leben, je nach dem, wie „abgehoben“ es ist (das Brechungsverhältnis vom Leben zur Musik zum Beispiel ist größer als das Brechungsverhältnis zu einem Roman). Das Brechungsverhältnis von einem Medium zum anderem, etwa vom Kino zur Literatur, ist zwar auch noch vorhanden, aber nicht mehr ganz so groß, was man an den vielen literarisch verbrämten Filme erkennen kann. Das Brechungsverhältnis aber von demselben Medium zum selben Medium ist ausgesprochen gering und kann bestenfalls durch die gegenseitige Spiegelung in den als gegensätzlich empfundenen Genres (ein Melodram durch eine Komödie, vom Gangsterfilm durch einen film noir – Melville) erzeugt werden. Aber ein Brechungsgrad von Medium desgleichen Genres zum Medium desgleichen Genres liegt knapp über den Gefrierpunkt . Hier wird deutlich, warum Pulp Fiction noch halbwegs funktionieren konnte, und warum Kill Bill nicht mehr. In Pulp Fiction hatte Tarantino sich als aufgeklärter Zuschauer in die zitierten Kinophantasien implantiert, wodurch ein geringer Brechungsgrad vorhanden war, und zumindest Witz und Ironie erzeugt werden konnte. In dem »totalen« Kino gibt es nichts mehr, was die Wahrnehmung verschieben oder verändern könnte, was auch die Öde an Sinn- und Bedeutungsleere von Kill Bill erklärt.
Den Versuch, durch die inzestuöse Vermischung an sich schon verschwisterter Genres (des Spaghetti-Western mit dem Kung-Fu-Film) ohne weitere Hinzutat eine emotionale Reaktion (sozusagen als Wertzuwächse) zu gewinnen, lässt sich durchaus mit dem Größenwahn anderer alchimistischer Versuche der Menschheitsgeschichte in eine Reihe stellen. Auf der anderen Seite drängte sich ja schon im Vergleich mit Tarantinos Vorbildern der Verdacht auf, dass entgegen allen Bekundungen Tarantinos eine irgendwie geartete Bedeutung überhaupt nicht gewollt ist. Im Gegenteil: Um die Kinowelt als reine Kinowelt zu erhalten, ist die Bedeutungsferne das eigentlich angestrebte Ziel, weil mit einer Bedeutung (eine emotionale Wirkung) doch wieder das Leben an dem Kino herantreten lassen könnte. Das zeigt sich an der einzig „menschlichen“ Szene, als die Hauptfiguren am Ende von Kill Bill sich gegenübersitzen, und ernsthaft überlegen, ob sie aus ihrem rein künstlichen Genre-Dasein nicht doch heraustreten könnten und menschliche Gefühle zeigen. Es ist die einzige Szene, in der sich Tarantino an das wirkliche Leben herantastet. Aber natürlich wird auch diese Szene wieder ironisch vermittels von gezeigten Fernsehbildern gebrochen, und natürlich können und wollen die Figuren nicht aus ihrem künstlichen Leben hinaus. Dieses Kino kann und will sich nur durch Abdichtung erhalten. Es ist nichts anderes als eine hochsublimierte Kino-Idylle, hinter dem der alte postmoderne Traum aufscheint, das Leben leben zu können, ohne das Leben zu riskieren. Die Utopie dieses Kino ist die Vorstellung eines Lebens, in dem alles nichts bedeutet, und daher alles keine Bedeutung hat. Deswegen auch die Begeisterung für das »total Übertriebene«, die freudige Hingabe am Unechten, und die Begeisterung des Kritikers der Berliner Zeitung für falsche „Tränchen“ statt für wirkliche Tränen.
Das Leben aber leben zu können, ohne das Leben zu riskieren, ist nicht nur eine ziemlich infantile Vorstellung vom Leben, sondern auch von der Kunst. Uns an einen Ort zu führen, wo alles erlaubt ist, weil alles nichts mehr bedeutet, darin liegt wohl das eigentliche Versprechen von Tarantinos Kino. Ein Kino-Planet-Schlaraffenland. Weil wir uns doch immer in irgendeiner Weise zu etwas und jemanden verhalten, im Leben wie in der Kunst, lässt sich im Leben und in der Kunst die Ästhetik von der Moral nicht trennen. Und weil sich die innere Bedeutung durch keinen Kunstgriff aus den Bildern herausjagen lässt, scheitert Kill Bill eben nicht „nur“ ästhetisch, sondern kann er dieses Versprechen nicht einlösen. Um aber die Illusion zu erhalten, dass es einen solchen moralfreie Ästhetik geben könnte, darf die Moral eben nicht sichtbar werden. Und um nicht sichtbar zu werden, darf gegen sie nicht verstoßen werden. Deshalb darf der Film die unsichtbaren Grenzen unserer Alltagsmoral niemals überschreiten. Wenn man einmal diese innere Logik erkannt hat, hört man auch auf, sich darüber zu wundern, dass es diesem so coolen Film nicht mal mehr gestattet ist, zumindest doch sein Rachethema wirklich als solches auch ausspielen zu dürfen.
Weil die Vermeidung von echter Rache für einen „Rachefilm“ schon etwas eher Ungewöhnliches ist, und weil wir ja Kill Bill und Dogville daran messen wollten, wie weit es beiden Filmen gelingt, uns über die Thematik der Rache eine ästhetische Erfahrung zuteil werden zu lassen, möchten wir die betreffende Szene schildern, in der Tarantino sein Rachethema verrät. Gemeint ist nicht der Akt des Tötens selbst, sondern das Fehlen der Überwindung des Rachetabus. Es handelt sich nicht um die erste Kampfszene, aber um die erste und auch einzige Racheszene des Films. Nachdem »die Braut« aus dem Koma erwacht ist, und entdeckt hat, dass sie ihr Kind verloren hat, fährt sie zu ihrer ersten Ex-Kollegin, um sich an ihr zu rächen. Als diese an die Tür kommt, entbrennt sofort ein Schwertkampf. Nun baut Tarantino einen moralischen Widerstand in Gestalt der herannahenden fünfjährigen Tochter »der Bösen« an. Dieser Widerstand ist notwendig, denn um das Tabu der Rache zu brechen, müssen die inneren Skrupel überwunden werden, denn ohne den Widerstand würde die Rächende sich ihrer Rachsucht und ihrer Rücksichtslosigkeit nicht bewusst werden. Die Braut reagiert auf diesen Widerstand, indem sie der Bitte der Bösen nachkommt, den Kampf zu unterbrechen, wobei die Braut den Zuschauer daran erinnert, dass deren Mutter Mitschuld am Tod ihres eigenen, ungeborenen Babys hat, was den Mitleidseffekt für die Mutter-Böse schon mal etwas abdämpft. Das Kind wird nach oben geschickt, die beiden Frauen gehen in die Küche, und beginnen zu plaudern, was in den Zwischenjahren passiert ist. Natürlich würden wir erwarten, dass der moralische Widerstand überwunden wird, und »die Braut« den Kampf wieder aufgreifen wird. Stattdessen dreht sich die Böse mitten in dem Geplauder um und schießt durch eine Pistole, die sie in einer Cornflakespackung verborgen hat, auf die »Braut«, der natürlich nichts anderes übrig bleibt, als sich zu wehren und die Böse tötet.
Was ist passiert? Tarantino baut einen moralischen Widerstand in Gestalt des Kindes ein, wodurch das Tabu der Rache sichtbar wird. Die Braut ist in einem inneren Konflikt. Die Frage ist, ob ihr Rachebedürfnis so groß ist, dass sie diesen Widerstand überwindet. Anstatt »der Braut« das amoralische Recht auf Rache, und damit auf den ersten Schlag zu lassen, lässt Tarantino die »Böse« den feigen Mordanschlag begehen, wodurch die Braut aus ihrem inneren Konflikt plötzlich entlassen wird, und der vermeintliche Racheakt zu einem besonders öden Fall moralisch korrekter Notwehr verkommt. Man sieht dann zwar das Mädchen an der Tür, das auf ihre tote Mutter ziemlich ausdruckslos guckt, zu der die Braut spricht, sie würde verstehen, wenn diese sich mal an ihr rächen würde. Aber das Gerede der Braut zu dem Mädchen ist nur noch bloße Behauptung, in unseren Augen ist sie mehrmals freigesprochen, weil mehrmals entschuldigt: die Mutter des Mädchens war sowieso böse, sie hat zusammen mit den anderen das Kind der Braut auf den Gewissen, die Braut hat die Kampfhandlung freiwillig eingestellt, die Mutter hat einen feigen Anschlag verübt, und die Braut war sozusagen gezwungen, die Mutter zu töten.
Wenn es überhaupt eines Beweises bedurft hätte, dass ein moralfreier Raum nicht existiert, und dass eine reine Ästhetik nicht zu bekommen ist, dann wäre er hiermit geliefert. Hat der Film durch sein im Vorspann vorangestelltes Motto »Die Rache wird kalt serviert« uns doch in der Erwartung gewogen, dass die Alltagsmoral davon gejagt würde, um uns damit in einem bedeutungsfreien Raum zu bewegen, sehen wir nun diese gute alte Moral wie einen alten und gebückten Hausierer wieder durch die Hintertür hereinschleichen, der uns seine alten, aufgewärmten Entschuldigungsgründe an den Mann zu bringen versucht. Hier offenbart sich ein Kino, das sich von eigens gezüchteten Illusionen nährt, und mit falschen Versprechungen lockt: Erst ein Schild mit der Aufschrift »Rasen betreten verboten« (das Rachetabu in Gestalt des herannahenden Kindes) aufzustellen, das Schild dann klammheimlich zu entfernen (die Böse ist Schuld am Tod des Kindes der Braut), und dann uns die Rasenfläche noch nicht mal betreten, also den Racheakt uns noch nicht mal vollziehen, und stattdessen zu einem Fall von Tötung aus Notwehr verkommen zu lassen, zeugt von einem Kino, das selbst zu der unschuldigsten Erfahrung nicht mehr in der Lage ist. Zwar gibt es, wie wir jetzt sehen konnten, am Ende von Kill Bill so etwas wie einen halben Racheakt – die Braut muss mit »Bill« den früheren Liebhaber und Vater ihres Kindes umbringen, was immer schon ein zumindest gedachter moralischer Widerstand ist (was dem Kind aber scheinbar, das später glücklich vor dem Fernseher sitzt, nichts ausmacht) – aber dieser Racheakt ist dermaßen wieder entschuldigt durch den vorherigen Diskurs, und schließlich durch den dahinscheidenden Bill selbst, dass auch hier jedes Erlebnis einer grenzüberschreitenden Geschehens von vornherein ausgeschlossen ist. Angesichts der von Tarantino im seinen Interviews verbreiteten markigen Worten von Schwanz und Eiern, mit denen er seine Produktivität metaphorisiert (»Denn was passiert, wenn Regisseure nicht mehr auf ihren Penis hören? Sie machen Schlappschwanzfilme. Das soll mir nicht passieren« Spiegel-Interview), könnte man in die Versuchung kommen, die Sachlichkeit unserer Überlegungen zu verlassen, und den Film KILL BILL als das zu bezeichnen, was er letztlich auch ist, nämlich als einen Rachefilm für den narzisstischen cinephilen Bordellgänger des Kinos. Der wahre Fan aber wird seiner Erinnerungen und Antriebe genauso beraubt, wie wir, die in den 70er Jahren wie Tarantino in die Bruce-Lee-Filme und Spaghetti-Western gegangen sind.
Schon jetzt ist es keine Frage, welches der beiden Filme der bessere Rachefilm ist. Bezüglich aber unseres übergeordneten Interesses müsste man das Scheitern von Kill Bill noch mal in dem Zusammenhang betrachten, den wir anfangs aufgestellt haben. Hierfür wollen wir noch einmal die theoretische Feststellung aufgreifen, dass Tarantinos Kino sich zum Kino als sein Material verhält, wie der gewöhnliche Film zum Leben. Wenn man den Akzent dieser Feststellung nicht auf den Gegensatz, sondern das Gemeinsame legt – »wie zu«, und dabei unterstellt, dass mit dem gewöhnlichen Film das „Hollywood-Kino“ gemeint war, dann findet diese Feststellung seine weitere Bewahrheitung darin, dass Tarantinos Kino sich in der Tat in einer wichtigen Hinsicht genau wie das gewöhnliche Hollywood-Kino verhält. Beide Arten von Kino verhalten sich nämlich zu dem Film als Medium gleich zerstörerisch, der Unterschied ist lediglich, dass die Zerstörung von zwei entgegengesetzten Enden ausgeht: Gibt uns das Hollywood-Kino von der Inhaltseite die Illusion, unsere Alltagswelt abzubilden, indem es auf den Inhalt setzt, und die Form unterdrückt, so soll uns Tarantino von der Formseite her die Illusion geben, unser Innen-Kino abzubilden, indem er den Inhalt unterdrückt. Beides führt, wie wir gesehen haben, zu einer Verabsolutierung von Bildern, die nichts weiter mehr enthalten, als das, was in ihnen zu sehen ist.
Von einem künstlerischen, bzw. kunstdiagnostischen Standpunkt aus betrachtet gebiert das Verfahren Tarantino eine Kunst, die wie an sich selbst pathologisch geworden ist. Hat uns Tarantino in Pulp Fiction unser Innen-Kino von außen betrachten lassen, so sperrt er uns mit Kill Bill in unserem Innen-Kino hinein. Er führt uns zwar aus unserer Alltags-Welt heraus, bzw. er löscht sie aus, indem er dem Blick aus unserem Alltagsfenster eine Leinwand vorschiebt, wo wir Bilder sehen, die wir als genauso »wirklich« und absolut begreifen sollen, wie die Bilder des Alltagslebens. Ob wir aber, wie im Hollywood-Kino, in unserem Alltagsgefängnis eingesperrt, oder aber, wie bei Tarantino, in unserem Innen-Kino mit all den Fassadenbildern eingemauert sind, macht auf die Dauer auch keinen Unterschied mehr. Im Gegenteil: Was eigentlich Ort der Freiheit sein soll, nämlich das Kino, wird zu einem Ort, in dem wir mit unseren Kinobildern, zwangskollektiviert werden. Auf die Dauer ist das so beglückend, wie Dauerfernsehen im Ich-Gefängnis.
das nächste Kapitel: IV. Dogville