Dogville Kills Bill
V. Vor dem Kino (der Zukunft) |
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Ausblick in Kill Bill | ||
(Foto: Buena Vista) |
Zwei Ansichten Amerikas, zwei rächende Frauen im Zentrum, zwei eigenwillige Regieleistungen, in sich grundverschieden
Von Frank Müllers
Bevor wir den Blick nach vorn werfen, sehen wir noch zurück, woher wir gekommen sind: Begonnen haben wir mit dem Gefühl eines Mangels, einer Unlust am Kino, und einer Saturiertheit die unsere eigene war, und zugleich eines des Kinos. Gestoßen waren wir auf zwei Filme, die wir Leuchttürme genannt haben, da beide aus der nivellierten Einheitslandschaft des Hollywood- und Kunstkinos herausragten. Beide Filme sollten nicht als einzelne Filme angesehen werden, sondern über deren Gelungenheiten oder Misslungenheit wollten wir Aufschluss über das Medium und sein Erfahrungspotential bekommen, um hieraus Einsichten über das Kino der Zukunft zu gewinnen. Wie man ja auch dem Sinn der Sprache nicht näher kommt, wenn man sich das Zeichensystem als solches ansieht (weil es „als solches“ nur in den Köpfen einiger Sprachwissenschaftler existiert), sondern nur in dem einzelnen Satz, dem gesprochenen Wort selbst den Sinn der Sprache erfährt, so erfüllt sich ja auch der Sinn des Mediums Film nur in dessen konkreter Versprachlichung, nämlich dem einzelnen Film.
Unser Maßstab war der Kunst-Maßstab: die Möglichkeit zu einer Erfahrung. Wenn Kunst uns die Möglichkeit gibt, unser Leben auch unterhalb unseres Bildes als moderne Menschen in seinem unterirdischen Dasein wieder fühlen, erspüren, also erfahren zu können, sind wir in dem Moment wohl nicht die moralisch besseren Menschen, aber die vollständigeren Menschen. Um an Slovskijs vorangestelltes Motto anzuknüpfen: Um uns als Menschen neu empfinden zu können, bedürfen wir der Kunst.
Jedes Kino, von dem man sagt, dass es „großes Kino“ ist, ist es gelungen, zwischen den Bildern auf der Leinwand und unseren tiefsten und geheimsten Gefühlen eine unsichtbare Verbindung zu schaffen. Gemessen an diesem Wirkungs-Maßstab ist der scheinbar kleine dänische Film Dogville große Kunst.
Das genügt uns aber noch nicht, nicht als Begründung. Wir wollten ja wissen, welcher von beiden Filmen die Zukunft des Mediums weisen könnte, und dazu müssen wir uns beide Filme im schon besagten Kontext der Filmkunst anschauen. Zwar haben wir beide Filme denselben Maßstab unterworfen, aber zugleich haben wir gesehen, dass Tarantino, obwohl er größte Wirkungsabsichten verfolgt, eine irgendwie geartete Erfahrung sogar vermeiden möchte. Könnte es nicht sein, dass hier das Kino einfach auf zwei verschiedenen Bedürfnissen gründet, nach denen sich auch die Anhängerschaft teilt: zwischen jenen, denen Kino ein Sehnsuchtsort ist, eine Utopie, die dem Leben völlig enthoben ist, und denen, die der Film vor allem ein Medium zum Verstehen und zur Erfahrung unseres alltäglichen Lebens, auch mit dessen geheimen Anteilen, ist?
Versuchen wir diese Frage nach der Richtigkeit einer bestimmten ästhetischen Vorgehensweise etwas allgemeingültiger im Kontext des Films zu stellen und mit der Zukunftsfrage zu verknüpfen. Lässt sich die ästhetische Vorgehensweise von Dogville tatsächlich verallgemeinern, als richtungsweisend für das gesamte Medium begreifen, wodurch sich der von Lars von Trier ins Manifest hineingeschriebene Anspruch, eine Avantgarde zu sein, auch erst erfüllen würde?
Die Antwort fällt in aller Entschiedenheit mit »Ja!« aus. Die erste Verallgemeinerung, die sich aus dem Dogville zu seinem Medium zu ziehen ist, ist der dringend notwendige Verzicht auf den Illusionismus. Allein die Tatsache, dass der Film Dogville, der auf Einsichten beruht, die vor siebzig, achtzig Jahren formuliert worden sind, allgemein als einzigartig empfunden worden ist, wirft ein bezeichnendes Licht auf den gegenwärtigen Zustand des Kinos. Der vermeintlich technische Reichtum des Hollywood-Kinos, einen Illusionismus erzeugen zu können, hat auf der anderen Seite zu einer Verarmung seiner ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten geführt.
Die zweite Verallgemeinerung, die sich aus dem Film Dogville ziehen lässt, ist die Bedeutung der Geschichte im Film. Wir sind ja während unseres Durchgangs immer wieder auf zwei verschiedene Traditionen gestoßen, die beide Filme wie unsichtbare Schatten hinter sich herziehen. Tarantinos künstlerische Kurve, dessen schnelles Ansteigen, und dann das Fallen ins Uninteressante, zeigte sich auch schon bei seinen Vorgängern. Auch bei Godard (und Greenaway, den man gewissermaßen als den älteren, intellektuelleren Bruder von Tarantino bezeichnen könnte) hat der Hinauswurf der Story und die Reduzierung auf Bilder zwar für zunächst interessante Ergebnissen gesorgt, aber dann nur noch zu ewigen Wiederholungen desselben. Die Geschichte (als das zunächst Außerfilmische) drin zu behalten hat indes bei Kubrick, den wir als einen der Vorgänger von Lars von Trier herausgestellt haben, zu langlebigeren Filmen und zu Beibehaltung seiner Fähigkeit geführt, über einen langen Zeitraum immer wieder zu neuen überraschenden filmischen Resultaten zu kommen.
Daran schließt sich aber zugleich als dritte Verallgemeinerung die weitere Feststellung an, dass die Neuerung des Films nicht über die Neuerung der Story, sondern nur über das „Wie“ der filmischen Seite möglich ist. Die Veränderung der narrativen Strukturen kann für einen Film zwar zu einer Herausforderung werden (z.B. der 1-Akt-Film zu Mean Streets von Scorsese, oder der 2-Akt-Film Full Metal Jacket von Kubrick), aber sie ist noch nicht die Neuerung selbst, sondern nur die Bedingung des filmisch Neuen. Die Neuerung liegt allein auf der filmischen Seite, d.h. bei der Montage, bei den Bilder, den Großaufnahmen, die Kamerabewegungen, die Länge und Kürze der jeweiligen Einstellungen.
Zurecht hat man die Dogma-Bewegung als ein „Zurück zur Natur“ bewertet, und derjenige dem dieser Spruch irrtümlich zugewiesen wird, hat zwar diesen Satz niemals so gesagt, aber tatsächlich sinngemäß ausgedrückt: Es gibt in jedem Weg einen Punkt, in dem jeder weitere Schritt in diese Richtung ein Rückschritt wäre. Daher ist der Weg, den Dogville weist, nicht vergangenheitsbeschwörend, sondern zukunftweisend. Zwar hat man den Dogma-Filmern ihren Verzicht auf das Illusionskino als „künstlich“ vorgeworfen, aber das ist genauso unsinnig, wie dies jemanden vorzuwerfen, der statt mit dem Auto durch die Landschaft zu rasen lieber zu Fuß durch sie hindurchgeht. Der vermeintliche Purismus ist ja nur ein Purismus gegenüber den illusionistischen Mittel, aber er führt gegenüber der Wirkung zu einem Reichtum, von dem sich noch viele Filme nähren werden: ein Reichtum an Großaufnahmen, ein Reichtum an Schauspielkunst, ein Reichtum an Bildererleben, ein Reichtum an Erfahrungen. Der „puristische“ Film ist Kino pur, er ist mehr Kino, als der Hollywood-Film bieten kann, da er uns die Welt durch seine filmischen Augen betrachten und erleben lässt. Durch das Fortlassen der technischen Soßen bekommen wir den Geschmacksreichtum der ganzen Kartoffel wieder zu spüren. Und wir sehen es als ein hoffnungsvolles Zeichen, dass auch andere Filme, mit ganz anderen Mittel, sich zum Filmischen wieder besinnen (wozu als jüngstes Beispiel Die Rückkehr von Andrej Swjaginzew gehört). Desto mehr Kino, desto mehr Kunst, haben wir eingangs gesagt. Dogville beweist die Richtigkeit dieses Satzes!
Dogville und die Dogma-Filme Lars von Triers – ist tatsächlich, trotz oder wegen der vermeintlichen Rückkehr, etwas Neues. Dass etwas Neues entstanden ist, zeigt die Kunst immer dadurch, dass sie ihren Geist auf einen Zeitgenossen niederfahren lässt, der mit einem Aufschrei der Empörung dafür sorgt, dass seine Mitwelt Kenntnis davon erhält. Diesmal hat es Seeßlen getroffen, der in seinem Brandartikel in der „Zeit“ 1999 Lars von Trier und den Dogma-Filmer Verachtung vorwarf. Zwar verwendete Seeßlen das in solchen Fällen heute üblich gewordene moralische Argument, den Menschen wäre ihre Würde genommen, in diesem Fall durch die Handkamera (zu Emma Bovary Zeiten hieß es, die öffentliche Moral sei verletzt, aber gemeint war dasselbe). Aber der wahre Skandal liegt nie wirklich in dem, was zu sehen ist, sondern in dem Anschlag auf unsere gewohnte Wahrnehmung, durch die Neuheit der Optik.
Da in der Geschichte der Künste sich zyklisch vieles wiederholt, und sich so oder so schon abgespielt hat, nur in verschiedenen Ausformungen, könnte man den Dogma-Skandal in einem noch größeren Kontext als den Film-Kontext, nämlich dem Kunst-Kontext betrachten, und die Dogma-Filmer mit dem Auftreten der Impressionisten im 19. Jahrhundert vergleichen, denn wie die Impressionisten orientieren sich die Dogma-Filmer auf die Authentizität der Wahrnehmung. Als Manet, ebenfalls mit Verzicht auf die damals vorherrschende illusionistische Ästhetik, einen Spargel anders als gewohnt malte (nämlich so, dass man das Gemalte in dem Gemälde wieder sah), ergoss sich sofort eine Flut von Beschimpfungen und Bedrohungen über ihn, und man könnte sich fragen, welche hochheiligen Gefühle wohl mit dem Malen dieses Gemüses verletzt worden sind. Der Verzicht auf das Malerische, den man Manet vorwarf, ist genauso unsinnig, wie der Vorwurf Seeßlens, der Lars von Trier den Verzicht auf das Filmische vorwarf. Aber es zeigt, wie wichtig uns der vertraute Boden unserer Wahrnehmung ist, und der Aufschrei beweist, dass er rissig geworden ist, weil etwas Neues entstanden ist.
Mag Tarantino noch soviel Zuschauer haben, mag er auch auf den Jury-Thron von Cannes dieses Jahr erhoben worden sein, das Kino der Zukunft wird er nicht mehr beeinflussen. Tarantino ist der letzte Kometenschweif und wir wissen nicht, ob des Hollywood-Kinos, oder des storylosen Avantgardekinos. Sein kreatives Feuer scheint erloschen. Das zeigt sich am deutlichsten in seiner Verfeinerungssucht, dem Ausfeilen einer Kampfszene ohne weitere Bedeutung, die fetischisierte Ausstattungssucht (das letzte gelbe Kostüm von Bruce Lee!!!), dem Stolz, echtes falsches Kunstblut aus Japan verwendet zu haben. Solche unendliche, kapriziöse Ausstattungssucht ist ein typisches Symptom, an dem noch jede ästhetische Richtung ihren Zustand kurz vor der Agonie anzeigt, und offenbart, dass ihr jede Schöpfungskraft abhanden gekommen ist (was sich auch durch die Ankündigung Tarantinos beim Start von Kill Bill: Vol. 2 in 15 Jahren mit dem kleinen Mädchen der toten Kämpferin eine Fortsetzung drehen zu wollen, zeigt).
Sind Lars von Trier und die Dogma-Filmer die neuen Impressionisten des Kinos, so ähnelt Tarantino dem Malerfürst Hans Markart, der die Gegenrichtung zu den damaligen Impressionisten symbolisierte, und der zur gleichen Zeit, als die Impressionisten ihre skandalauslösende Ausstellung in Paris hatten, in Wien seine Mitmenschen damit verzückte, das Gegenwartsleben in die künstlerischen, fiktiven Formen der Vergangenheit zu gießen und damit zu heroisieren (nicht zuletzt sich selbst), ganze Festumzüge zu organisieren und Wohnungen mit all den Versatzstücken einer vergangenen Epoche auszustaffieren. Wie Tarantino hat Hans Markart einer ganzen Dekade seinen Stempel aufgedrückt. Die Epoche, in der er herrschte, war die Epoche des Historismus, die man in vielerlei Hinsicht die Postmoderne des 19. Jahrhunderts nennen könnte. Hans Markart ist heute vergessen, während die Bilder von Monet, Manet, Degas und Renoir heute noch in aller Frische, als wären sie gestern gemalt, direkt in unsere dunklen einsamen Ich-Gefängnisse strahlen.
Kehren wir diesem Illusionskino den Rücken Wir können natürlich weiter schlechte Filme gucken. Aber die Zukunft des Kinos hängt nicht zuletzt auch von uns, den Zuschauern, ab. Vielleicht sollten wir , am Ende dieser Erkundung, noch einen weiteren Schritt weitergehen, als es bei dem Resümee zu belassen, es den Dogma-Filmern nachtun, und uns Zuschauerregeln geben, damit der Sinn und der Geschmack an wirklicher Kunst uns erhalten bleiben kann, und damit wir die Ansprüche, die wir an das Kino stellen, auch an uns erfüllen können.
Acht Regeln, die jederzeit diskutiert, und auch ergänzt werden können:
Wünschen wir uns weiterhin gute Unterhaltung im Kino, aber wünschen wir uns Filme, die uns und das Leben ernst nehmen, die keine Erinnerungsfolie des gestrigen Lebens, sondern ein gültiger Ausdruck des Lebens sind, das wir heute alle führen.