DOK.25 – eine Festivalkritik |
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DOK.personalpronomen: »Dich« ist kein Wort, sondern eine grammatikalische Form |
Von Claus Schotten
Vom 5. bis 12. Mai fand wieder das Internationale Dokumentarfilmfestival München statt – zum 25. Mal. Von kleinen Anfängen im Maxim-Kino und der längst geschlossenen Lupe2 hat es sich zu einem der größten Festivals für Dokumentarfilm in Deutschland gemausert. In den letzten Jahren ging die Bedeutung jedoch zurück. Dies liegt zum einen an der chronischen Unterfinanzierung des Festivals, zum anderen paradoxerweise am zunehmenden Erfolg von Dokumentarfilmen an der Kinokasse. Zur Gründungszeit des Festivals waren Dokumentarfilme im normalen Kinoprogramm die absolute Ausnahme. Wer einen Dokumentarfilm auf der großen Kinoleinwand sehen wollte, musste auf das Dok-Fest warten. Das hat sich geändert. Die Konkurrenz für das Dok.Fest wird härter. Mittlerweile haben sich zumindest in Metropolen wie München Dokumentarfilme einen festen Platz im Kinoprogramm erobert. Woche für Woche laufen 5-10 Stück über unsere Leinwände. Bis auf wenige Ausnahmen sind dies zwar Nischenprogramme wie Sonntagsmatineen oder die 18-Uhr-Schiene in kleinen Programmkinos, aber wer einen Dokumentarfilm im Kino sehen will, kann dies nun auch außerhalb von Festivals tun.
Von der anderen Seite verschärfen das große Münchner Filmfest Ende Juni und Festivals in anderen Städten die Konkurrenz um die interessanten Filme, weil auch sie verstärkt Dokumentarfilme in ihr Programm aufnehmen.
Nachdem Hermann Barth, der langjährige Festivalleiter im vergangenen Jahr das Handtuch geworfen hat, trat dieses Jahr mit dem Dokumentarfilmer Daniel Sponsel von der HFF als künstlerischem Leiter und dem Münchner Kinomacher (Monopol, Neues Arena) und Schauspieler Christian Pfeil als Geschäftsführer eine neue Doppelspitze an. Sie haben der Jubiläumsausgabe des Festivals deutlich ihren Stempel aufgedrückt. Von den Plakaten über die Programmstruktur bis zu den Kinos ist kaum etwas beim Alten geblieben. Selbst die Schreibweise des (Kurz-)Namens wurde geändert. Statt »DOK.FEST« großgeschrieben heißt es nun »DOK.fest« kursiviert, in einer Mischung aus groß und klein. Überhaupt wartete das neue Festival-»Branding« mit vielen gewöhnungsbedürftigen »DOK.dingsbums« auf.
Als erste Neuerung stach das Plakatdesign buchstäblich ins Auge. Gerade hatte man sich daran gewöhnt, die Plakate der »Ära Hermann Barth« mit den Dok-Fest zu assoziieren, muss man sich auch schon wieder umgewöhnen. Das neue Design, wie auch die Vorgängerserie aus dem Hause Gerwin Schmidt, ist längst nicht mehr so schön: eine satte, grell-orange Fläche, schräg darüber ein kurzes Wort in schwarzer Schrift. Die einzige Verbindung zum alten Design: Auch beim neuen Konzept stellt das einzelne Plakatmotiv keine gedankliche Verbindung zum Dokumentarfilm her. Ein Sinn ergibt sich erst aus der Zusammenstellung der verschiedenen Einzelplakate. In der richtigen Reihenfolge ergeben sie das Motto »Ich sehe Dich«.
Das im Dok-Fest-Newsletter gefeierte »leuchtende« Orange als neue Festivalfarbe zieht sich auch durch die Neugestaltung von Programmflyer und Katalog. Über den neuen Programmflyer kann ich immerhin zwei positive Dinge berichten. Er spart Papier, weil er dünner ist, und er erlaubte mir im Foyer des Filmmuseums folgende Fetzen aus dem Dialog zweier Damen aufzuschnappen:
»Also ich mag ja Orange. — Eigentlich. —
Aber das ist... nun ja ... grmm … hm ... das ist
— sehr Orange!«
Ansonsten sind die Filmbeschreibungen im Flyer deutlich knapper und nichtssagender, das Layout unruhiger und schwerer lesbar geworden. Zudem ist er unübersichtlicher als sein Vorgänger. Obwohl es deutlich weniger Seiten gibt, musste ich erheblich mehr blättern um für meine persönliche Programmplanung die – spärlichen – Filminfos und die Anfangszeiten zusammen zu bekommen. Ob nun ein Film oder ein Video gezeigt wird, erfährt man aus dem Flyer überhaupt nicht mehr. Die Lust auf einen Festivalbesuch steigert das nicht.
Beim Katalog ist die Lage ähnlich. Zwar blieb hier der Informationsumfang weitgehend erhalten – einige Filmografien fielen den Sparmaßnahmen zum Opfer – aber die Lesbarkeit hat erheblich gelitten. Besonders die Credits in einem unstrukturierten Block aus abwechselnd schwarzem und weißen Text auf orangem Hintergrund sind eine Zumutung für die Augen. Den alten Katalog konnte ich auch noch vor und nach der Vorstellung im spärlich beleuchteten Kinosaal nutzen. Das geht beim neuen Layout nicht mehr. Will man so für das nächste Jahr Rodenstock als Sponsor gewinnen?
Leider ziehen sich die visuellen Zumutungen auch durch die neugestaltete Webseite. Schwarzer und helloranger Text vor dunkelorangem Hintergrund oder hellgrauer Text auf weißem Grund. Und weil dies die Lektüre offenbar noch nicht schwer genug macht, wurde eine Schreibmaschinenschrift mit fester Laufweite gewählt. Die soll wohl besonders »authentisch« oder »dokumentarisch« wirken. In der Praxis ist sie nur lesefeindlich. Wohl dem, der bei seinem Browser serverseitige Stylesheets und Javascript ausschalten kann. Danach wurde die Seite bis auf ein paar Probleme in der Navigation fast benutzbar. Wenn man dann im Archiv liest, dass Christian Pfeil bei seiner Vorstellung letzten Sommer den Wunsch äußerte, über einen neugestalteten Webauftritt ein breiteres Publikum ansprechen wollte, wirkt dies fast wie Hohn.
Aber genug gemeckert. Wer sich trotz dieser Widrigkeiten ins Kino gewagt hatte, wurde von einem neuen Festivaltrailer begrüßt, einer echten Verbesserung. Ließen die Trailer der Vorjahre den Betrachter ob ihrer experimentellen Found-Footage-Ästhetik ziemlich ratlos zurück, traf man dieses Jahr drei Mädels in Kinositzen, die sehr altklug über Qualität und Anspruch von Dokumentarfilmen philosophierten. Eine gelungene, humorvolle Einstimmung. Die Trailer sind zwar ein bisschen lang geraten, aber bevor die Witze sich ob ihrer ständigen Wiederholung abstumpften, war das Festival auch schon wieder vorbei.
Große Umwälzungen hat es auch bei der Programmstruktur gegeben. Hier ist das neue Team offenbar nach dem Motto »Aus eins mach zwei« vorgegangen. Der Wettbewerb wurde in eine »internationale« und eine »deutschsprachige« Sektion DOK.deutsch geteilt. Ebenso erging es den »Horizonten«, wo die afrikanischen Filme mit DOK.guest eine eigene Reihe bekamen, oder dem ehemaligen internationalen Programm, jetzt DOK.forum. Was die Anzahl der Reihen und Sektionen angeht, kann das Dok-Fest fast schon mit der mit deutlich mehr Filmen aufwartenden Berlinale mithalten.
Dies hat auch Auswirkungen auf die Vergabe der Preise. Die Jurys für die beiden Wettbewerbe hatten nur noch die Auswahl aus jeweils acht Filmen. Ein bisschen mager. Der neu gestiftete, 5.000€ schwere BLM-Filmpreis für den deutschsprachigen Wettbewerb (vormals als 2.500€-BLM-Nebenpreis im internationalen Wettbewerb vergeben) nimmt sich als deutliche Aufwertung für den deutschsprachigen Dokumentarfilm durch das Dok-Fest aus. Allerdings sind diese Filme im Gegenzug von der Vergabe des Hauptpreises ausgeschlossen, des wie bisher mit 10.000€ dotierten, von der Telepool gestifteten Dokumentarfilmpreises. Der war für die acht Filme der Sektion DOK.international reserviert. Noch bedauerlicher war, dass die afrikanischen Filme nicht mehr um den Horizonte-Preis konkurrieren durften, sondern von Beginn an jeglicher Chance auf einen Preis beraubt waren.
Wenn nur acht Filme um ein Preisgeld von 10.000€ konkurrieren wird die Teilnahme am internationalen Wettbewerb für die Filmproduzenten durch die guten Gewinnaussichten natürlich sehr attraktiv. Umso seltsamer nimmt es sich da aus, wenn mit Les arrivants ein Film, der bereits auf dem Dok-Fest Leipzig mit dem dortigen, ebenfalls von der Telepool gestifteten und gleichfalls mit 10.000€ ausgestatteten Hauptpreis bedacht wurde, auch in München den 10.000€-Telepool-Preis durch die Jury zugesprochen bekommt. Da mag man der Jury eine Fehlentscheidung vorhalten. Nach gängigen Usancen bekommen Filme, die bereits einen großen Preis gewonnen haben, höchstens noch Nebenpreise oder lobende Erwähnungen. Aber was hatte die Jury für Alternativen? Dreien der Filme, die ich im Wettbewerb gesehen habe, hätte ich als Jurymitglied niemals einen Preis zuerkannt. Und der – aus meiner Sicht – preiswürdige Alamar hatte mit dem Tiger-Award vom Filmfestival in Rotterdam schon einen international noch viel renomierteren Preis in der Tasche. Es ist also ein deutlicher Fehler der Festivalleitung. Les arrivants, jetzt der doppelte Telepool-Gewinner, hätte nicht im internationalen Wettbewerb laufen dürfen. DOK.forum wäre der richtige Platz für den Film gewesen.
Als Hermann Barth die Festivalleitung abgab, geschah dies offiziell wegen »unterschiedlicher Auffassungen über die zukünftige Ausrichtung des Festivals«. Hinter den Kulissen wurde gemunkelt, dass Barth die knappen Ressourcen darauf konzentrieren wollte, möglichst interessante und vielseitige Filme aus aller Welt nach München zu holen, während im Trägerverein Münchner Dokumentarfilmer den Ton angeben, die vor allem an einem Schaufenster für ihre eigenen Produktionen interessiert sind und Barth die Einstellung der Sektion »Neue Filme aus Bayern« übel nahmen. Um so genauer schaut man natürlich auf die Filmauswahl des diesjährigen Festivals. Der Anteil der Filme mit deutscher Beteiligung ist in der Tat stark gestiegen. Das liegt aber zur Hälfte an der diesjährigen Retro, die Volker Koepp gewidmet ist. Eine Sektion »Neue Filme aus Bayern« gibt es offiziell nicht, aber sie hat mit »DOK.spezial Münchner Premieren« einen Nachfolger gefunden. Das mag man – je nach eigenem Interessenschwerpunkt – begrüßen oder bedauern. Dass im Abspann des Eröffnungsfilms, der im internationalen Wettbewerb läuft, der Name eines der beiden Festivalleiter steht, stimmt aber schon bedenklich.
Beim Zusammenstellen meines persönlichen Festivalprogramms machte ich dann weitere unangenehme Entdeckungen. Unter der Woche entfielen die Nachmittagsvorstellungen im Filmmuseum. Das Programm fing meist erst zwischen 17 und 18 Uhr an und sonntags war schon um 21 Uhr Schluss. Für gelegentliche Festivalbesucher aus München, die nach der Arbeit mal einen Dokumentarfilm schauen wollen, ist das egal. Akkreditierte, auswärtige Besucher und Besitzer von Dauerkarten, die sich einen Überblick über das aktuelle Angebot an Dokumentarfilmen verschaffen wollen, ärgern sich aber, denn sie können so deutlich weniger Filme sehen.
Auch abends konnte man nicht so ungehemmt wie erhofft der Filmlust frönen. Dafür sorgte die unglückliche, gedrängte Terminierung und der Verzicht auf feste Zeitschienen. Wenn man aus dem Kino kam, hatte man den Anfang des interessanten Films im anderen Kino meist um ein paar Minuten verpasst. Wer also eifrig Filme sehen oder seine eigene Auswahl treffen wollte, hatte es schwer. Aber auch wer DOK.guest, den Afrika-Schwerpunkt des Festivals, komplett sehen wollte, hatte keine Chance. Die Vorführungen der Filme überschnitten sich. Als Resultat dieser Terminierung habe ich wohl noch nie in einer ganzen Festivalwoche so wenige Filme gesehen.
Eine andere Möglichkeit mit den Unbillen der Terminüberschneidungen umzugehen, ist natürlich, sein Programm nur nach Kino und Uhrzeit zusammenzustellen und sich dann überraschen zu lassen, welcher Film gerade kommt. So völlig unbelastet von jeglicher Erwartungshaltung kann man dabei angenehme Entdeckungen machen, wie bei dem wunderbaren Daniel Schmid – Le chat qui pense, den ich mir wohl nie angeschaut hätte, wenn er nicht so günstig zwischen zwei anderen Vorstellungen gelegen hätte. Andererseits war die Qualität der diesjährigen Filmauswahl eher mittelmäßig, so dass man bei diesem Verfahren unweigerlich Nieten zog, etwa den nervigen The Living Room of the Nation.
Auf der sicheren Seite war man da bei der schönen aber knappen Volker-Koepp-Retro, die gut mit dem 25. Jubiläum des Festival korrespondierte. Vom aktuellen Berlin – Stettin, bei dem Koepp auf die ersten 65 Jahre seines Lebens und seine Filme zurückblickt, spannte sich der Bogen in 5 Filmen, die jeweils für eine halbe Dekade standen, zurück bis Leben in Wittstock, Koepps erstem abendfüllenden Film, der auch schon 1985 auf dem ersten Dok-Fest gezeigt wurde. Nur der Hinweis des Moderators zum Abschluss der Diskussion nach Berlin – Stettin, dass »in den nächsten Tagen die wichtigsten Filme von Volker Koepp« auf dem Festival gezeigt würden, war ein faux pas erster Güte. Hatte er nicht gerade Berlin – Stettin gesehen? Dann hätte er merken müssen, dass Volker Koepp viel mehr »wichtigste« Filme gemacht hat, die man gerne auf dem Festival (wieder)gesehen hätte, die bei der Kürze der Retro aber leider fehlten. Diesen Mangel machte Koepp mit seinen Filmen aber teilweise selbst wett, denn immer wieder blickte er auf frühere Filme zurück, besuchte die Protagonisten noch einmal und baute ein paar Filmausschnitte von damals ein. So bekam man auch einen Eindruck von vielen Filmen, die in der Retro fehlten.
Den magischsten Moment des Festivals konnte man deshalb auch zweimal in unterschiedlichen Filmen erleben, obwohl der Film, aus dem er ursprünglich stammt, überhaupt nicht auf dem Festival lief: Stupsi aus Mädchen in Wittstock von 1974 erklärt, wie sie sich einen Spielfilm vorstellt. Welch Kontrast zu den Mädels von heute, die im Festivaltrailer über Dokumentarfilme reden.