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Hochzeiten und andere Katastrophen: Melancholia |
Auch wenn von vielen (Medien) behauptet wird, dass das Jahr 2011 außergewöhnlich ereignis-, katastrophen- und krisenreich war, wird es bei genauer Betrachtung (und sofern man das überhaupt irgendwie sinnvoll messen und vergleichen kann) wohl genauso turbulent gewesen sein, wie die vorhergehenden. Dass es uns (und den Medien) so vorkommt, als sei 2011 das schlimmste, hektischste und dramatischste Jahr seit langem bzw. überhaupt gewesen, hat wohl mehr mit der zunehmenden Berichterstattung und mit unserer Wahrnehmung zu tun. Die Wahrnehmung von Krisen (womit wohlgemerkt in erster Linie externe Krisen gemeint sind, also nicht solche, die uns unmittelbar persönlich betreffen) ist eine eigenartige und sehr wechselhafte Sache. Tritt eine Krise auf, nimmt sie uns vollkommen in Beschlag. Sie dominiert unser Denken, ängstigt uns, macht uns Sorgen, drängt uns dazu, sich immer mehr damit zu beschäftigten, also z.B. im Fernsehen die zehnte Sondersendung zu einer Katastrophe anzuschauen. Die Krise führt dazu, dass wir (positiv ausgedrückt) unser Denken fokussieren bzw. dass (negativ ausgedrückt) unser Denken verengt und eingeschränkt wird. Unbedingt wollen wir eine Lösung oder Linderung der Krise, wir bemühen uns, engagieren uns, wir spenden, wir diskutieren ohne Unterlass darüber. Das geht so eine gewisse Zeit, steigert sich stellenweise bis zur Manie, um dann schlagartig abzufallen. Plötzlich interessiert und berührt es uns nicht mehr, lässt es uns kalt, selbst wenn der Missstand weiterhin besteht oder sogar noch größer wird. Dieses sonderbare Verhalten lässt sich auch rational biologistisch erklären, schließlich ist es gut, angesichts einer Krise bzw. Bedrohung alle seine Kräfte zur Bewältigung der kritischen Situation zu bündeln, eine dauerhafte Konzentration dieser Art würde uns aber unweigerlich lebensunfähig machen.
Unter diesen Vorzeichen sind auch die periodisch auftretenden Kinokrisen zu betrachten und möglicherweise besser zu verstehen. Seit 50 Jahren steckt das Kino schon wegen des Fernsehens in der Krise. Vor 20 Jahren lösten die seelenlosen Multi- und Megaplexe eine Kinokrise aus. 10 Jahre kriselt es im Kino jetzt schon wegen der DVD und in den letzten Jahren sorgte diesbezüglich das Internet für Krisenstimmung. Verwundert reibt man sich da die Augen, dass überhaupt noch Kinos übrig waren, die 2011 von Gentrifizierung und innerstädtischer Nutzenoptimierung kaputt gemacht werden konnte. München hat zwei Traditionskinos verloren und prompt tauchen wir ein in fokussierende bzw. verengende Kinokrisenbeklemmung. Wenn dieses Gefühl wieder abgeklungen ist, sollte unser Denken offen genug sein, um zwei Dinge zu erkennen. Erstens: Mit dem Wort »Kino« kann sowohl eine einzelne Filmabspielstätte wie auch die Gesamtheit der Filmabspielstätten wie auch der gesamte Bereich der (mehr oder minder) kommerziellen Herstellung und Verbreitung von Filmen wie auch eine Kunstform wie auch ein Medium gemeint sein. Eine Kinokrise kann sich auf eine oder mehrere Bedeutungen dieses Wortes beziehen, ohne dass die restlichen Bedeutungen auch nur im Geringsten davon betroffen wären. Zweitens: Der Krise (die man immer als Stadium einer Entwicklung betrachten muss) ist es meist ziemlich egal, ob wir vor Sorge vergehen, oder ob wir uns nicht darum kümmern. Krisen bzw. Entwicklungen haben ihre ganz eigene, üblicherweise undurchschaubare und kaum zu steuernde Dynamik. Ebenso im Kino: Im Krisenjahr 2011 konnte man einmal mehr erkennen, dass ein Kino (also Filme) ohne Krisen eine echte Katastrophe wäre.
Was wäre das Kino etwa ohne Krisen zwischen Liebenden, zwischen Freunden, Fremden, Feinden und sonstigen Menschen? Dann gäbe es keine ergreifende Filme wie Another Year oder Blue Valentine oder Jane Eyre oder Der Name der Leute oder Tyrannosaur – Eine Liebesgeschichte oder Samson & Delilah. Sie alle erzählen auch von Hoffnung und Zuversicht, die untrennbar mit einer Krise verbunden sind (auch wenn dies angesichts von massivem Schmerz und überwältigender Tristesse nicht immer leicht zu erkennen ist).
Mindestens genauso wichtig sind für das Kino Identitätskrisen, wenn Menschen also nicht mehr wissen wer oder was sie sind (Bullhead), wer oder wie viele sie sind (Black Swan), wohin sie gehen sollen (Meek’s Cutoff), wieso bzw. wofür sie leben (Alles, was wir geben mussten), welchen Sinn ihr aktueller Lebenswandel hat (I’m Still Here) oder warum sie so und nicht anders sind (Atmen).
Daneben gibt es natürlich noch die Krisen und Katastrophen, denen wir täglich in den Nachrichten begegnen, allen voran die Finanzkrise (Der grosse Crash – Margin Call) und die Atomkrise (Unter Kontrolle), aber auch die Folgen einer Pandemie (Contagion, Perfect Sense) oder interkulturelle Spannungen und Terrorismus (Four Lions) oder soziale Probleme und die Verelendung ganzer Gesellschaftsschichten (Attack the Block) lieferten die Grundlagen für sehenswerte Filme.
Eine geradezu essentielle Zutat sind Krisen und Katastrophen für gelungene Komödien. Wo alles nur schön, harmonisch und problemlos ist, da kann kein Humor entstehen. Lustig wird es erst, wenn etwas daneben geht und aus dem Ruder läuft. Und aus dem Ruder kann – zum Glück – so einiges laufen, etwa eine Beziehung (Woher weisst du, dass es Liebe ist?), ein Verbrechen (Kill the Boss), die Verbrechensbekämpfung (The Guard), eine Reise (Paul – Ein Alien auf der Flucht) und die Pubertät ist sowieso ein einziges aus dem Ruder laufen (Submarine). In die Reihe passt auch Mein bester Feind, der weitgehend gelungen eine der größten menschlichen Katastrophen mit vielen kleinen persönlichen Krisen verstrickt.
Gänzlich ohne Krise kam Over Your Cities Grass Will Grow aus, der noch nicht einmal eine Schaffenskrise des portraitierten Anselm Kiefer zeigen konnte oder wollte. Trotzdem ein sehr gelungener Film. Ob es im Leben des Rolf Eden jemals eine Krise oder eine Katastrophe gab oder ob er wirklich ein unglaubliches Glückskind ist oder ob da vielfach doch greller Schein manch Schmerzhaftes überdeckt, bleibt eine Frage, die nach Betrachtung von The Big Eden erfreulicherweise unklarer ist als zuvor.
Die größte Katastrophe, den höchsten Trumpf hatte im vergangenen Jahr aber (einmal mehr) Lars von Trier in der Hand. Erst führt er in Melancholia virtuos Krisen der menschlichen Seele vor und dann lässt er kurzerhand die Welt untergehen. Damit ist Melancholia der perfekte Film für jede Kinokrisenstimmung, weil er auf berückende Weise belegt, dass im Kino die Welt schon oft untergegangen ist, in der Welt dagegen das Kino noch nie. Angesichts der vorstehenden Filme (und den zahlreichen anderen, die im Jahr 2011 zu sehen waren und hier – aus welchen Gründen auch immer – nicht genannt sind) kann man davon ausgehen, dass das Kino auch in absehbarer Zeit nicht untergehen wird und wenn, dann nur zusammen mit der restlichen Welt.