23.02.2012

Beim nächsten Film wird gar nichts anders

Michaele Krützen: »Dramaturgien des Films«
»Dramaturgien des Films. Das etwas andere Hollywood«
S. Fischer Verlag, 24,95 Euro

Michaela Krützen untersucht die Dramaturgien des »etwas anderen« Hollywoods

Von Rüdiger Suchsland

Das Bild ist tief­schwarz. In der 112 Minute von David Lynchs wunder­barem Mulhol­land Drive verschränken sich die Geschichten zweier Frauen, irgendwo in Hollywood. Die Schlüs­sel­szene für diesen Film, der funk­tio­niert wie ein Möbi­us­band, aber auch für dieses Buch, das zwar genau­so­wenig wie Lynch das letzte Geheimnis um den blauen Würfel im Film lösen wird, aber doch immerhin in höchst aufre­gender Weise Neues über diesen Film vermit­telt, und über die Industrie, der er entstammt. Dieses Buch zeigt, warum auch Lynchs radikales hypno­tisch-surreales Traum­spiel noch in Holly­woods klas­si­schen Kanon inte­griert ist – und das die Frage nicht ist, welche der beiden Seiten des Films besser oder realer ist, sondern wie beide zusam­men­gehören.

Film­wis­sen­schaften führen in Deutsch­land ein Schat­ten­da­sein. Unbe­greif­li­cher­weise gibt es kaum film­wis­sen­schaft­liche Lehr­s­tühle. Auch Michaela Krützen lehrt nicht an einer Univer­sität, sondern an der Münchner Hoch­schule HFF und zwar »Kommu­ni­ka­tions- und Medi­en­wis­sen­schaft«; seit 2002 ist sie überdies Vize­prä­si­dentin. In den letzten Jahren hat sich die 1964 geborene Krützen trotzdem zur markan­testen jüngeren Stimme in der deutschen Film­wis­sen­schaft entwi­ckelt. Ihr Interesse gilt in den letzten Jahren ganz dem gegen­wär­tigen US-Film, mit gutem Grund, denn Hollywood ist nach wie vor der Nabel des Weltkinos. Hier werden die Muster vorge­geben, hier werden die Einfälle der Bega­bungen aus aller Welt aufge­griffen und auf die Vers­tänd­nis­muster des globalen Markts herun­ter­ge­bro­chen – Holly­woods Drama­tur­gien, so Krützen in ihrem gleich­na­migen Buch, geben nicht nur den Ton im Gegen­warts­kino an, sie haben sich über die Jahre auch weniger gewandelt, als man glauben mag. Vers­tänd­lich­keit, klare Moti­va­tion und ein Verhalten der Figuren, das ziel­ori­en­tierter ist als oft im wahren Leben, domi­nieren. »Sogar die Aktlängen entspre­chen den seit Jahr­zehnten gültigen Propor­tionen.« Holly­woods »Trick« sei es, schrieb schon David Bordwell, »das Neue auf eine Weise mit vertrauten Stra­te­gien zu verbinden, die den Zuschauer weder verwirrt noch langweilt.«

Wie das im Einzelnen vor sich geht, ist die Frage­stel­lung des Buchs, das zugleich auch eine Fort­set­zung von Krützens Habi­li­ta­ti­ons­ar­beit über »Drama­turgie des Films« ist. Auf über 600 Seiten finden über 500 Filme Erwähnung, etwa 25 davon werden genauer, zum Teil sehr detail­liert auf 50 oder mehr Seiten, betrachtet. Der Unter­titel »Das etwas andere Hollywood« sollte nun keines­wegs zur Annahme verleiten, hier ginge es nur ums ameri­ka­ni­sche Inde­pen­dent­kino. Bei den näher vorge­stellten Filmen handelt es sich durchweg um Groß­pro­duk­tionen, Star-gespickte, viele Millionen schwere Arbeiten bekannter Namen. Aller­dings hier wiederum um vergleichs­weise riskante und formal inno­va­tive Arbeiten, um die Auto­ren­filmer im US-Main­stream – wie Altman, Fincher, Gilliam, Lynch, Soder­bergh, Tarantino.

Geglie­dert wird nach formalen Drama­turgie-Typen. Drei Haupt­schneisen schlägt Krützen dazu ins Gestrüpp der Phänomene: »Unzu­ver­läs­sige Erzäh­lungen«, die irgend­wann mit scho­ckie­renden Wendungen aufwarten, die, wie etwa Fight Club dem Zuschauer die Betrach­tungs­grund­lage vor den Augen wegziehen; dann die die Zeit­ver­schie­bungen in achro­no­lo­gisch erzählten Filmen wie Memento; und schließ­lich multi­po­lare Filme, die wie Altmans Short Cuts mehrere Hand­lungs­stränge parallel verschränken, bündeln und wieder ausein­an­der­ziehen. Genau genommen arbeitet die Betrach­tung also mit den klas­si­schen Kate­go­rien von Kants tran­szen­den­taler Ästhetik: Während einmal der Raum und einmal die Zeit zum eigent­li­chen Thema der Darstel­lung werden, ist es in den »Unzu­ver­läs­sigen Erzäh­lungen« die sinnliche Wahr­neh­mung selbst, die infrage gestellt – und nach ihrer Erschüt­te­rung oft genug wieder neu etabliert wird.

Was hier fehlt, ist aller­dings auch fest­zu­halten: Angehö­rige von Minder­heiten wie Spike Lee und Ang Lee ebenso, wie eine der spär­li­chen Regis­seu­rinnen Holly­woods. Und auch eine gewisse Kontextua­li­sie­rung wäre hilfreich gewesen – oder sollte der Boom der diskon­ti­nu­ier­li­chen Erzähl­formen und »Cyber­filme« um 1999 so gar nichts mit den neuen Medien zu tun haben?

Der Autorin schwebt eine »allge­mein­ver­s­tänd­liche Einfüh­rung in die Analyse aktueller Holly­wood­filme« vor. Diese Einschät­zung wird man teilen, mit der – bedeu­tenden – Einschrän­kung, dass die meisten von ihr unter­suchten Filme aus den 90er Jahren stammen, die neuesten kamen 2002 ins Kino. Es handelt sich also genau genommen um die Analyse der jüngsten Vergan­gen­heit Holly­woods, nicht seiner Gegenwart. So taugt Krützens Kompen­dium auch ganz gut zur Erin­ne­rung an all das, was Holly­woods Kino in den letzten Jahren verlo­ren­ging. Oder war Fincher je wieder so radikal und gut wie in Fight Club? Lynch war schon immer ein Einzel­gänger, aber er hat seit Mulhol­land Drive nichts Gleich­wer­tiges mehr gedreht. Und die komplexe Erzähl­struktur von Memento fand keine Nach­folger.

Zu recht bewundert und vertei­digt die Autorin in ihrem insgesamt hoch­in­ter­es­santen Werk die »enorme Adap­ti­ons­kraft« Holly­woods. Den letzt­end­lich konser­va­tiven Schluss, den Krützen zieht, wenn sie gegen alle, die auch in Hollywood längst »post­klas­si­sche« Erzähl­weisen entdecken, die ewige Wieder­kehr des klas­si­schen Story­tel­ling betont, muss man aller­dings nicht teilen. Viel­leicht ist die Ober­fläche doch entschei­dender, als man es wahrhaben möchte, sind die Variablen wichtiger als die Konstanten.

Michaela Krützen: »Drama­tur­gien des Films. Das etwas andere Hollywood«
S. Fischer Verlag, 24,95 Euro