27.09.2012

Fantomas und die Goldene Muschel

Arbitrage
Während draußen Sommer ist, herrscht in den Herzen Eiszeit

Das schönste unter den großen europäischen Filmfestivals: San Sebastián wird 60

Von Rüdiger Suchsland

Dustin Hoffman, John Travolta, Tommy Lee Jones, Oliver Stone... – es ist eine durchaus beein­dru­ckende Reihe von Ehren­gästen, mit denen das Inter­na­tio­nale Film­fes­tival von San Sebastian diesmal auftrumpfen kann. Man lässt sich nicht lumpen, erst recht nicht in diesem Jahr, denn 2012 feiern die Film­fest­spiele ihr 60. Jubiläum. Bereits zur Eröffnung am vergan­genen Frei­tag­abend kamen Susan Sarandon und Richard Gere. Das liegt natürlich auch daran, dass deren neuer Film Arbitrage das Festival und den Wett­be­werb um die »Goldene Muschel« eröffnete. Bei dem Regie­debüt von Nicholas Jarecki handelt es sich um einen Suspense-Thriller aus der Finanz­welt, der viel besser, härter, abgrün­diger, und offener ist, als der schwache Trailer erwarten lässt, der überdies zuviel verrät. Noch mehr liegt es womöglich aber auch an der besonders gast­freund­li­chen Atmo­sphäre und der tollen Küche in der Haupt­stadt des Basken­lands, wo Sarandon und Gere in den letzten Jahren schon jeweils einmal den »Donostia Award« erhalten haben, ein volu­minöses Silber­dings, das die Berühmt­heiten der Filmwelt zur Belohnung für ihr pers önliches Erscheinen in die Hand gedrückt bekommen.

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Allen­falls eine gewisse Ameri­kalas­tig­keit muss man im Jahr des 60. Jubiläum des Festivals kriti­sieren: Neben den älteren ameri­ka­ni­schen Herren und dem Eröff­nungs­film gibt es auch eine Retro­spek­tive US-ameri­ka­ni­scher Komödien zwischen 1978 und 2012, die den neuesten Stand des Genres wider­spie­gelt und neben Melan­cholie über den Verfall der Kunst von Lubitsch, Sturges, Hawks und Wilder auch die Frage aufwirft, wie es eigent­lich zur zuneh­menden Anal­fi­xiert­heit der US-Komödie kommen konnte? Viel­leicht können wir das nächste Woche hier beant­worten. Aber in San Sebastián gibt es glück­li­cher­weise ja immer gleich drei Retro­spek­tiven, und neben einer zweiten über den latein­ame­ri­ka­ni­schen Kinoboom der letzten 20 Jahre gibt es hier vor allem eine komplette Schau von Georges Franju, dem fran­zö­si­schen Outsider, der auf seine Art ein B-Filmer, aber doch auch ein Erbe der großen fran­zö­si­sche Kultur ist. Er hat klas­si­sche Doku­men­tar­filme ebenso gedreht, wie sehr persön­liche Fantomas-Varia­tionen.

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Nur auf den ersten Blick hat es den Anschein, als ob man 2012 ausschließ­lich Amerika zu Gast hätte. Davon, dass Ameri­kaner in Venedig 2012 vergleichs­weise schwach vertreten waren, profi­tiert jetzt San Sebastian, wo unter anderem auch die neuen Filme von Barry Levinson, Oliver Stone und Ben Affleck ihre Euro­pa­pre­mieren erleben. Auf der Gäste­liste der ersten Tage standen neben vielen spani­schen Film­größen auch der Franzose Olivier Assayas, dessen neuer Film Après mai (Die wilde Zeit) gerade in Venedig den Dreh­buch­preis gewann, und nun zur Spani­en­pre­miere in einer Nebensek­tion gezeigt wird, seine Landfrau Mia Hansen-Love, deren Un amour de jeunesse gerade in Deutsch­land anlief, ist Mitglied in der inter­na­tio­nalen Jury.
Im Wett­be­werb konkur­rieren auch im Übrigen große Namen: Die neuesten Filme unter anderen der Öster­rei­cherin Barbara Albert, des Griechen Costa-Gavras, der Franzosen François Ozon und Laurent Cantet, des Schweden Lasse Hallström, des Argen­ti­niers Carlos Sorín und der Chinesin Emily Tang. Das Gast­ge­ber­land reprä­sen­tiert Fernando Trueba.
Auch zwei deutsche Filme laufen: Im zweiten »Kutxa«-Wett­be­werb für Nach­wuchs­re­gis­seure hat Draußen ist Sommer Premiere. Es ist der zweite Film der Berli­nerin Frie­de­rike Jehn, deren Debüt Weiter­tanzen mehrere Preise gewann. Jehn erzählt von Wanda, einem jungen Mädchen, dessen Familie nach dem Umzug in die Schweiz gerade zu zerbre­chen droht, während es selbst doch erstmal überhaupt erwachsen werden will. Während draußen Sommer ist, und Wanda gerade an eine neue Schule gekommen ist, herrscht in den Herzen Eiszeit, bevor alte Wunden aufbre­chen. Draußen ist Sommer ist ein Drama mit komö­di­an­ti­schen Elementen, insze­niert in sehr souver­äner, unge­wöhn­li­cher Bild­sprache, das auch durch seine beson­deren Schau­spiel­leis­tungen getragen wird: Nicolette Krebitz spielt die Mutter, Maria Dragus, die als Pfar­rers­tochter in Michael Hanekes Das weiße Band bekannt wurde, ist ebenfalls vertreten. Zudem läuft in einer Neben­reihe noch King of Comics von Ralf Bönts.

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Ich komme zwar im elften Jahr hierher, aber ich glaube, ich habe noch nie eine San-Sebastián-Eröff­nungs­ver­an­stal­tung live gesehen. Diesmal schon. Erster Eindruck: Trash as Trash kann, dann kommt aber doch schnell der sehr gute spanische Design-Geschmack zum Tragen. Drei belang­lose Fern­seh­ge­sichter mode­rieren.
Das Eröff­nungs­pu­blikum wirkt im Prinzip, wie das beim Münchner Filmfest, aller­dings sehen die Frauen besser aus, und die Männer brutaler. Aber angenehm: Trailer, die wirklich Lust machen, hier alle Filme zu sehen, egal in welcher Reihe.
Und in kleinen histo­ri­schen Einspiel­film­chen ein Rückblick auf 60 Jahre Festi­val­ge­schichte: San Sebastián, direkt an der Biskaya-Küste gelegen, war schon im 19. Jahr­hun­dert das Sommer­do­mizil des spani­schen Königs­hauses, bis heute ist die Küsten­stadt ein nobler, nicht billiger Ferienort, zugleich mit seinen rauhen Nord­at­lan­tik­wellen und sicherem Wind ein Surfer­pa­ra­dies. Seit nunmehr 60 Jahren gibt es hier auch ein Film­fes­tival, das nicht nur das Wich­tigste für Spanien und den latein­ame­ri­ka­ni­schen Film ist, sondern zusammen mit denen von Cannes, Venedig, Berlin und Locarno zu den fünf künst­le­risch bedeu­tendsten der Welt zählt.
Gegründet als »Woche des katho­li­schen Kinos« vom Tourismus-Minis­te­rium, entwi­ckelte sich das Festival erst unter Mühen und mit allerlei Rück­schlägen zu einem der kultu­rellen Groß­ereig­nisse ganz Spaniens. Man erfahrt, dass Hitch­cocks Vertigo hier Welt­pre­miere hatte, aber keinen Preis gewann, und es einst es eine Auszeich­nung für den »Besten Farbfilm«, einen »festival dress award« und Preise für »masculine sympathy« und »feminine conge­nia­lity« gab.
Noch immer spielt die regionale Rivalität eine große Rolle, noch immer spielen Sepe­ra­tisten hier und Natio­na­listen dort ihr Pingpong-Spiel gegen­sei­tiger Provo­ka­tion, doch die große Mehrheit der Bevöl­ke­rung und Kultur­schaf­fenden freut sich über das Jubiläum, und ist stolz darauf, dass zehn Tage lang die Filmwelt nach Spanien blickt. Für viele berufs­mäßige Besucher dieser Kino­um­schlag­plätze ist San Sebastián ohne Frage das schönste unter den großen europäi­schen Film­fes­ti­vals