Steine im Schuh |
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AMEN Das neue Credo von Kim Ki-duk |
»A good film is like a stone in your shoe.« – das ist wieder so einer jener Sätze von Lars von Trier, die man sich merken kann. Zitiert hat ihn Liz Miller, ein britische PR-Agentin, die den Job schon so lange macht, dass sie nichts mehr erschüttern kann. Schon gar keine schlechten Filme. In San Sebastián managte sie das Interview das mir Jean-Claude Carrière, der berühmte Drehbuchautor, gegeben hat – ausgerechnet an seinem 80. Geburtstag. Warum er da auf ein Festival fährt, kann er gut erklären: »Ich habe eigentlich zwei Geburtstage. Meine Eltern sind überzeugt, dass ich am 19.9. geboren bin. Aber der Standesbeamte war betrunken, und hat sich verschrieben. Darum steht in allen offiziellen Papieren, ich sei am 17. geboren. Darum habe ich schon vor zwei Tagen gefeiert.« Dann fügt er noch hinzu: »Und wenn ich dann irgendwann mal tot bin, habe ich noch zwei Tage gut.« Und lacht.
Carriere begann mit Bunuel, später arbeitete er unter anderem für Godard, Truffaut, Haneke und viele mehr. Unterbrochen von Geburtstagsanrufen erzählte er davon, dass er den Tod nicht fürchte – »Ich habe meinen Lebensweg zwischen Krebserkrankungen und Schlaganfällen beschritten. Wenn man von beidem verschont bleibt, wird man alt. Aber viele meiner Freunde sind tot. Das ist das Häßlichste am Alter.«
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Ein schöner, alter, schon reichlich abgenutzter Lederkoffer am Strand, angeschwemmt, dahinter Wellen und schönes Wetter – das ist der diesjährige Trailer zum Filmfestival von San Sebastián. Das gleiche Motiv ziert auch das Plakat. Aber was soll es uns sagen? Kino als Strandgut? Ein Festival als Wunderkoffer, schön, aber eben alt und reichlich abgenutzt, voller Schätze, von denen man aber nicht alle brauchen kann? In einer guten Woche werden wir vielleicht mehr verstehen.
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Dem Kino geht es gut, aber nicht allen Filmemachern. Das merkt jeder, der Amen sieht, das neue Werk von Kim Ki-Duk. Vor zehn Jahren war er der Wundermann des koreanischen Autorenkinos, und auch wer seine Filme schon damals ein bisschen prätentiös fand, konnte ihnen doch handwerkliche Meisterschaft und Einfallsreichtum nie absprechen. Nach einer künstlerischen Krise schien Kim nun zurückzukommen – Arirang lief in Cannes und war eine Film gewordene Selbsttherapie. Wer aber Kim jetzt bei der Pressekonferenz zu seinem neuen Film beim Festival im baskischen San Sebastián erlebte, muss sich ernsthafte Sorgen um den Geisteszustand des Regisseurs machen: Fahrige Gesten, unzusammenhängende Sätze, die viel Sinnloses und bestenfalls Banalitäten enthielten, passten zu einem Film, der kaum an das Niveau einer guten Hochschularbeit heranreicht. Es geht darin um eine Art zeitgenössische Mariengeschichte, die die bekannte Frauenverachtung des Regisseur mit katholischem Kitsch vermischt – eine junge Frau wird im Zug von Paris nach Venedig von einem Mann mit Gasmaske betäubt und vergewaltigt. Sie wird schwanger und durch geschickte Manipulation und moralischen Druck bringt sie der Täter schließlich dazu, nicht abzutreiben, sondern das Kind auszutragen. Glücklicherweise war der dilettantisch inszenierte AMEN die Ausnahme im Wettbewerb.
Aber was ist mit dem Regisseur los? Wird Kim Ki-duk verrückt? Das fragten sich nicht wenige, die ihn hier erlebten. Wer hier persönlich mit Kim zu tun hatte, begegnete einem Mann, der zuviel trinkt, sich unflätig benimmt, verwahrlost wirkt und auf seine Umwelt nur noch eingeschränkt reagiert. Ein hochrangiger Vertreter des Festivals ließ sich zu der Bemerkung hinreißen: »Könnte sein, dass das jetzt sein letzter Film war.«
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Das ging ja gut los! Beim Einsteigen ins Flugzeug in Madrid lächelte einem aufmunternd Clive Owen zu – offenbar hat er mich für eine Zehntelsekunde mit jemandem verwechselt. Oder ich habe ihn so angeguckt, wie einen alten Bekannten – man kennt ja das Phänomen: Wenn man jemandem, den man schon oft auf der Leinwand gesehen hat, über den Weg läuft, fühlt man unwillkürlich das Verlangen, ihn vertraut zu grüßen. Leider kann ich dann den Flug trotzdem nicht neben Owen in der Business Class verbringen, der morgen Abend den Eröffnungsfilm präsentieren wird, sondern sitze weiter hinten. Dafür entschädigt mich angemessen eine ziemlich hübsche, ziemlich langbeinige Sitznachbarin, die zu ihrem Aussehen auch ein gesundes, in-sich ruhendes Selbstbewusstsein zur Schau trägt, das einen sofort ahnen lässt: Die geht bestimmt auch zum Filmfestival in San Sebastian. Aber wer ist es? Rosario Dawson nicht, zumal die bestimmt nicht Economy fliegt aber eine vage Ähnlichkeit besteht. Jedenfalls sieht sie aus, wie eines dieser Girls aus einem Tarantino-Film: Sie trägt ein dunkelblaues Hemd, dazu olivfarbene Hotpants und mittelbraune Lederstiefel, ihre Nägel sind hellgrün lackiert, sie hat eine Sonnenbrille mit sehr großen Gläsern, Eine weiße kunstleder-lackige Retro-Seventys-Tasche, ihr Teint ist mittelbraun, und sie spricht Spanisch. Kaum sitzt sie, wird der iPod angeschaltet. Die Iberia-Maschine nach San Sebastian hat dann fast eine Stunde Verspätung, steht dumm auf dem Rollfeld herum, und deswegen kommen wir dann doch noch ins Gespräch. Es ist die Mexikanerin Stephanie Sigman, die offenbar auch gern im Flieger den Notsitz bucht, und hier den Film Miss Bala vorstellt, in dem sie die Hauptrolle spielt – wie gesagt: Das geht ja gut los!
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Eröffnet wurde das Festival mit Intruders von Juan Carlos Fresnadillo – vor ein paar Jahren drehte er das Postapokalypse-Sequel 28 Weeks Later. Sein neuer Film nun ist einer jener Horrorfilme, die die angenehme Eigenschaft haben, für alle Mysterien, Geister, und Schrecken am Ende eine rationale Erklärung zu geben, die sich also im Rückblick fast als Psychothriller entpuppen. Dies ist zugleich ein zwar spanischer Film, aber eben einer, der mit Clive Owen, Carice Van Houten und Daniel Brühl sich doch aus der zweiten Reihe der europäischen A-Stars bedient und mit einem US-Verleih eine Art europäische Großproduktion darstellt. Die Story spielt lange Zeit gleichmäßig in Spanien und England, erst gegen Ende verlagert sie sich ganz dorthin.
Grob gesagt geht es damit los, dass ein Kind eine Horror-Story erfindet und aufschreibt. Der Junge liest sie seiner alleinerziehenden Mutter vor, und bald scheint er sich vom Erfundenen nicht mehr lösen zu können: Er wird von Alpträumen gequält. Einmal wacht er nachts auf, geht bei Regen auf ein Bau-Gerüst – und dann kommt ein gesichtsloses Monster, und schleicht sich durchs offene Fenster in die Wohnung. Als der Junge ihm folgt, sieht er das Monster im Schlafzimmer der Mutter, in einer unklaren Situation: Wird sie vergewaltigt? Geschlagen? Offenbar sucht das Monster nach ihm. Und als es ihn dann bemerkt und erwischt, tötet es den Jungen fast. Doch die Mutter kann ihn retten – und er wacht auf. Alles nur ein Traum. Oder?
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Katzen wissen hier jedenfalls mehr als einmal früh bescheid. Die Geschichte entwickelt sich weiter mit katholischen Untertönen: Die Mutter weiß keinen Rat mehr, als einen Priester zu besuchen, der wird von Daniel Brühl gespielt und für einen deutschen Beobachter ist das dann schon ein bisschen trashy. Eine Weile glaubt man es werde auf einen Exorzismus hinauslaufen, doch ein älterer Priester ist lebensklug: »They are both nuts, mother and son.« Parallel zu alldem lernen wir in England eine Familie kennen, deren Tochter offenbar vom selben Monster, von »Hollowface« gepeinigt wird. Immer geht es hin und her zwischen zwei Ebenen. Während man es in Spanien mit dem religiösen Ansatz versucht, soll es in England die Wissenschaft richten. Erst am Ende versteht man: Der Vater dieser Familie – Clive Owen – ist der kleine Junge der Spanien-Story, das Monster ist eine unverarbeitete Erinnerung, nun kehrt das Verdrängte zurück. Intruders ist kein Schocker, auch kein Splatter, eher subtil, und etwas zu brav und zu bürgerlich, um einen noch allzu lange zu beschäftigen.
Der Film handelt in seinem Kern davon, wie Eltern Furcht auf Kinder übertragen. »Overprotection ends up in terror.« sagt der Regisseur auf der Pressekonferenz und bezeichnet mit Berufung auf Jodorowsky die »Familie als Kern der emotionalen Struktur … Furcht kommt immer aus der Familie.« Man könnte es auch anders sagen: »Liebe Eltern, erzählt Euren Kindern keine falschen Geschichten und keine unvollständigen. Das führt zu nichts Gutem«
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Und dann überlegt man, warum so viele Filme aus Spanien von Horror handeln. Faschismus hatten wir Deutschen auch. Aber was sich bei uns in Pädagogik und Bilderverbot ausdrückt, wird in Spanien zum »Cine terror«. Dazu passt ein Gespräch mit Sara Brito, einer guten Freundin und Kollegin: Redakteurin bei der Madrider »El Publico«, am Abend vorher. Wir reden über die politische Situation in Spanien, gegen die in Deutschland wirklich fast alles zum Besten steht, und über die spanischen Wutbürger: »Sie wissen nicht, was sie wollen«, sagt Sara, »und sie verhalten sich widersprüchlich.« Unmöglich ihr mit Argumenten zu widersprechen, wenn sie sagt: Vielleicht ist Gewalt manchmal richtig – eben dann wenn das System so derart gewalttätig ist, wie derzeit. Man kann dann nicht immer sagen: Danke, das wir demonstrieren dürfen. Danke, dass wir für wenig Geld noch arbeiten dürfen. Wir sind uns einig, dass das Bewusstsein unserer Generation in einem traurigen Zustand ist: Ohne Hoffnung, ohne Anspruchsdenken, schwach, ideenlos, ohne Widerstandsgeist. Auf meine Frage, ob sie glaubt, dass wir zu unseren Lebzeiten noch eine Revolution erleben, sagt Sara: »Ja. Es muss so kommen. So wie es jetzt ist, kann es gar nicht immer bleiben. Immerhin langt es noch zu einem guten Essen am Hafen in einem Fischrestaurant: Gegrillter Thunfisch, gebratene Sardinen, Tintenfisch in seiner Tinte, dazu gemischter Salat und eine Flasche Weißwein – dieses Essen wird in seiner Ruhe die Ausnahme bleiben, weil man in San Sebastian vor allem Pinchos isst, von Bar zu Bar ziehend kleine Speisen auf kleinen Tellern, von derb bis fein.«
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Im Radio im Bus am Morgen auf dem Weg zum Film gibt es Festival nonstop. Jurypräsidentin Francis McDormand erzählt von den schwierigen Aufgaben in einer Jury. Dann ist von »fanaticos al cine« die Rede, die seit 26 Jahren immer hierher kommen, von Kino-Aficionados.
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Was signalisiert eigentlich ein solcher Eröffnungsfilm? Will der neue Direktor José Luis Rebordinos, der nach zehn Jahren Mikel Olaciregui ersetzt hat, damit signalisieren, es werde nun mehr Genre geben? Will er insgeheim sagen, auch er sei ein »Intruder« in der spanischen Festivalszene? »Suspension of disbelief« heißt es glaube ich, wenn man etwas im Kino glaubt, das man eigentlich nicht im Ernst glauben kann und besser auch nicht glauben sollte, aber es für die Dauer des Films doch glauben will. Das hat beim Film gut funktioniert. Mal sehen, ob es sich auf das Festival übertragen lässt.
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Die Eröffnungsparty fand in dem alten San Telmo-Kloster statt, das zum Teil in die Felsen hineingehauen ist, und während der letzten Jahre frisch renoviert wurde. Ein ungewöhnlicher Ort und eine feierliche Atmosphäre, die nur dadurch getrübt wurde, dass die scheinbar auserlesen Eingeladenen dann noch einmal in zwei Gruppen unterteilt wurden – und dank baskischer Sturheit war zur VIP-Lounge kein Durchkommen. Immerhin traf man Freunde und Bekannte. Dazu gehört die schon wegen ihres Vornamens sympathische, immer gut gelaunte, immer energische Pandora da Cunha Telles, Lissaboner Produzentin mit dänisch-kanadisch-portugisischen Vorfahren. Hier hat sie gleich zwei Filme: Bonsái vom seit seinem Debüt Ilusiones ópticas hoch gehandelten Chilenen Cristian Jimenez und Tralas Luces von Sandra Sanchez, ein Dokumentarfilm über Zigeuner, die zwischen Portugal, Spanien und Frankreich als fahrende Händler leben. Mit der Bemerkung »of course, I am a good producer« öffnete sie schon beim, ersten Gin-Tonic ihre Pandorabüchse und drückte mir gleich vier Filme auf DVD in die Hand, die sie produziert hat.
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Die Jacques-Demy-Retro begann mit vier Kurzfilmen: Le sabotier du val de Loire (1956) erzählt von einem Holzschuhmacher. Schwarzweiß, mit aller Ruhe der Welt und einem Erzähler aus dem Off: Ein Tagesablauf. Beim Aufstehen fällt auf, wie dick die Kissen und das Bettzeug sind. Ein Baum wird gefällt. Man sieht Holz hacken, schnitzen, schneiden, schaben, kratzen, er hat zig Hack- und Schnitzwerkzeuge. Musik beschwört die Heiligkeit des Lebens – »lui, ce cela lui fait heureux.« – scheinbar ein Plädoyer für die Einfachheit. Kitsch, aber toll. Harte Arbeit prägt auch den Alltag der Frau, die einmal pro Woche zum Waschen an die Loire geht. Demy beobachtet mit einem gewissen Naturalismus, zeigt Armut, Einfachheit, Rituale und eine verlorene und vergangene Welt – wer trägt heute schon Holzschuhe? Zwischendurch geht es auch um den Sohn, der das Land nicht mag, den Nachbar der im Sterben liegt – »C'est dans l’ordre. Mais bien sur c'est dans l’ordre. Mais quand meme..«
50 Jahre ist das jetzt her. Wie gesagt: Eine total verlorene und vergangene Welt – was ja unter anderem den Gedanken nahe legt, dass auch von unserer Welt, und unseren Wichtigkeiten und Bedeutungen in 50 Jahren nicht mehr viel übrig sein wird.
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Le bel indifferent von 1957 zeigt in 29 Minuten in Farbe eine Theatersituation: Ein aufgedrehtes Melo in Rot, eine Frau und ein Mann, sie redet, er schweigt. Alles sehr nervig, sehr öde. Auch »Ars« von 1959 ist eine einzige Zumutung, das affirmative Portrait eines Heiligen: »Il est un force tranquille, come la force que vient de Dieu.«
Man will hier Jacques Demy schon fast aufgeben, da kommt zum Abschluss La Luxure, sein Beitrag zu einem Kompilationsfilm über Die sieben Todsünden (1962). Das ist dann großartig: Zwei junge Männer, einer ist Trintignant, reden vor einem Buchladen, kaufen einen Bildband von Hieronimus Bosch – im Schaufenster stehen auch Bücher von Roger Vadim und über Stan Laurel – und gehen in ein Cafe. Dort schlagen sie das Bild »La Luxure«
auf, und Trintignant erzählt vom Katechismus-Unterricht. Rückblick: Kleine Jungs auf der Straße, sie rauchen, paffen, reden über das, wovon der Pfarrer spricht: Todsünden, über Hölle (»C'est pas drole.«, die dann aber in drolligen Bildern dargestellt wird: Nackte im Feuer), während im Hintergrund Marktstände aufgebaut werden. Einer geht nach Hause, Mittagessen bei einer Bürgerfamilie in großer Wohnung. Die Eltern streiten, nachdem er das Gespräch auf La
luxure bringt.
Ende des Rückblicks. Während beide über Frauen reden, blättern sie auf den »Garten der Lüste«. Und die Kamera zeigt ihre Gedanken, indem sie Bildausschnitte auf Bar-Besucher überblendet, die dann nackt dastehen. Eine lustige Form, Tabus zu brechen und am Schluß der waghalsigen 14 Minuten die Quintessenz: »The Surrealists said it all.«
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Als Videokünstler ist Nicholas Provost schon länger berühmt und mehrfach preisgekrönt. Mit The Invader hat er nun seinen ersten Spielfilm gedreht. Für einen Erstlingsfilm ist er allemal beachtlich. Die Bilder sind ebenso besonders, wie die Auswahl der Musik der Musik. Zugleich sind aber auch die Manierismen unübersehbar, und der grundsätzliche Ästhetizismus erscheint leer. Wie auch der Schönheitsbegriff des Films. Schon in der ersten Szene, die an einem französischen Nacktbadestrand spielt, an dem eine Gruppe erschöpfter afrikanischer Boat-People, gleichfalls nackt, ankommt, zeigt Provost ausschließlich reine, saubere, »schöne« Körper. Und das die Frau, die da auf einen Ankömmling zugeht, wie eine Aphrodite auf Paris, Provosts Freundin ist, ein Model, das jetzt an seine Filmkarriere glaubt, macht die Sache nicht besser.
Viel zu lange verwendet der Regisseur zu den Credits den Kaleidoskop-Trick, das Bild in der Mitte zu splitten, zur Begründung führt er an, das sei des Neuankömmlings, des Flüchtlings Amadous Blick in die Vulva jener Frau – naja...
Insgesamt ist alles ein bisschen sehr ausgedacht, und nur eine kurze Weile ok. Eine Art »Brüssel Decadence« mit Sex am meterhohen Hochhaus-Fenster. Die Sets sind schön, Momente auch, aber insgesamt ist die Geschichte des Naiven Schwarzen, der unverdrossen an sein Glück glaubt, bis er zunehmend wahnsinnig wird, ein ziemlicher Quatsch. Der mir auch ein bisschen rassistisch vorkommt. Wie Leni Riefenstahl in ihren Nuba-Bildern zeigt der Film reine Schwarzenkörper – Reichsparteitag in Afrika.
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Fußball ist der größte Rivale des Kinos bei diesem Festival, selbst heute, wo es erstmals nicht geregnet hat. In fast allen Kneipen laufen abends Spiele – und es gibt immer welche – auf einem Fernseher, der umringt ist von Männern, Frauen, Kindern. Kinder dürfen hier auch bis nach Mitternacht aufbleiben – claro que si! – scheint ihnen nicht zu schaden, sie bekommen aber ja auch kein Bioessen, sondern anständige Chuletas und sind deshalb wahrscheinlich weniger empfindlich als die deutsche Bionadejugend.
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0-0 steht es gerade im Heimspiel zwischen Real Sociedad San Sebastian und Aufsteiger FC Granada. Es ist ziemlich still im »artess« cafe. Ich bin extra reingegangen, um beim Schreiben auch noch das Spiel mitzuverfolgen. Seit ich überhaupt nach San Sebastian komme, seit 2002 ist das »artess« so eine Art Stammcafe für mich geworden – und leicht lassen sich auch andere davon überzeugen, wie dieses Jahr Firat aus Istanbul oder die andere Pamela (Pianezza) aus Paris, und die Argentinier sowieso. Man sitzt selbst bei schlechtem Wetter draußen, bei gutem bis zum Abend in der Sonne, nichts ist Schickimicki oder für die Landjugend wie die Cafes und Bars in der Altstadt. Inzwischen werde ich hier schon jedes Jahr wieder von den Bedienungen begrüßt, die mit mir älter werden, genau wie diese allerdings zeitloseren Kinoangestellten, die ebenfalls immer die selben bleiben, für die das hier die größten zehn Tage des Jahres sind. Heute gab es vom Cafe das dritte Bier unaufgefordert »invita la casa«. 63. Minute, gerade hat Estrade das 1-0 für San Sebastian geschossen. Jubel...
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Nach etwas durchwachsenem Auftakt des Wettbewerbs war es der Brite Terence Davies, der hier die einhellig positivste Reaktion erntete. Vor drei Jahren widmete ihm das Festival eine Retrospektive. Elf Jahre musste er auf seinen nächsten Spielfilm nach The House of Mirth von 2000 warten – natürlich aus finanziellen Gründen. Zwischendurch drehte er immerhin den großartigem Essayfilm Of Time and the City über seine Heimatstadt
Liverpool. The Deep Blue Sea erzählt von einer Amour Fou; Rachel Weisz spielt eine Frau aus der Oberklasse, die ihren nachsichtigen Juristengatten Anfang der 50er mit einem Weltkriegsflieger betrügt, der sie nicht mal liebt. Sie weiß das, und muss zugrundegehen, aber weil sie alles selbst gewählt hat, ist es auch gut wie es ist.
Mehrheitsfähig bei der Jury dürfte dieser Film, bei dem
der deutsche Kameramann Florian Hoffmeister die Bilder gestaltete, allerdings kaum sein.
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Im Gespräch ist Davies großartig: Immer wieder betont er aus der Working Class zu stammen, macht aus seiner Verachtung für die Gegenwart und das Geld kein Hehl. Wir reden über die Unschuld der 50er Jahre, über Sex vor Aids, über das Nachkriegsengland, das viel länger als die Deutschen der Diktatur der Lebensmittelkarten und der Zuteilungswirtschaft ausgesetzt war – so viel zur »special relationship« mit Amerika, sagt Davies ätzend.
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Großartig war das Wiedersehen mit Kathryn Bigelows Strange Days in der Retrospektive zum amerikanischen Neo-Noir. Der Film stammt aus dem Jahr 1995, wo er noch ein Science-Fiction war, spielt er doch an den letzten zwei Tagen des Jahres 1995. Ich hatte ihn damals, noch kein Filmkritiker, gleich zweimal kurz hintereinander begeistert gesehen, seitdem nicht mehr. Damals zusammen mit allen anderen Werken der Regisseurin in einer Retrospektive im Münchner Filmmuseum. Und wunderbar gefunden – für mich in der Erinnerung einer der repräsentativen Filme der 90er Jahre. Das gilt weiterhin, obwohl gewisse Alterserscheinungen unübersehbar sind und überraschenderweise mehr ins Gewicht fallen als in King of New York vom weißgott nicht über alle Zweifel erhabenen Abel Ferrara.
Prinzipiell ist Strange Days aber filmisch sehr anspruchsvoll. Es geht vor allem um den POV, den Point of view und das mit einer Konsequenz, die heutige Filme gar nicht kennen. Schon die erste Szene ist ein einziger Exzess einer subjektiven Kamera. Ralph Fiennes als »the teflon-man« und Dealer ganzheitlicher Erfahrungen hat hier seinen besten Auftritt. Auch manche Verweise fallen mir erst jetzt richtig auf: In der Disco-Szene laufen beispielsweise »Film Noirs« auf den Monitoren. Und wenn Juliette Lewis dann singt »I can hardly wait«, ist es, als sei die Zeit stehengeblieben
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Die Empfindung des »Veralteten«, schreibt Adorno – und auf Strange Days trifft das ganz bestimmt zu –, erkläre sich nicht aus zeitlicher Distanz, sondern aus dem Urteilsspruch der Geschichte. Als veraltet empfinde man etwas dann, wenn man Scham darüber empfinde, seinerzeit eine Gelegenheit versäumt zu haben. Strange Days floppte damals. Vier Jahre später wurde Matrix ein Welterfolg, der, obschon immer noch ein toller Film, doch nur ein billiger Abklatsch der Ideen von Bigelow und ihrem Mann James Cameron war.
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Am Abend beim Abendessen mit den Argentiniern im »Alrondondo«, einem der schönsten Restaurants hier. Es gibt Boef-Chuleta, und die Argentinier bestellen gleich zwei – zwei Kilo für zehn Menschen. Na servus! Dann ein Erlebnis: Plötzlich kommt Michael Fassbender zur Tür rein. Gefühlt zwei Köpfe kleiner, als im Kino, braun gebrannt. Er soll hier Shame vorstellen und begrüßt Ginger Corbet und die anderen britischen Presseagentinnen mit Küsschen, selbst die Praktikantin. Strahlt und wirkt sympathisch. Ein Mann, dem das Glück gerade zulächelt. Später hören wir, dass der von Barcelona mit dem Mororrad hierherfuhr – what a man! Und alle argentinischen Shame-Skeptikerinnen von »Abre puertas...« drehten die Köpfe, waren hingerissen und wurden plötzlich zu Raucherinnen, um vor der Tür ein paar Sätze mit Fassbender zu wechseln.
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Es ist heiß in San Sebastián. Temperaturen von fast 30 Grad locken die Menschenmassen noch einmal an den Strand, der mit seiner muschelförmigen Bucht, der »Concha« aussieht, wie eine Mini-Ausgabe der Copacabana. Es ist die herrliche größere von zwei Buchten, die die einmalige Schönheit der Stadt San Sebastian ausmachen. Die Altstadt liegt genau zwischen ihnen, an und um einen riesigen Felsen. »Concha« heißt soviel wie Muschel und danach ist auch jener Preis benannt, die »Concha d’Oro«, die an diesem Wochenende verliehen wird. hier fährt man, wie in Locarno und Venedig, mit dem Fahrrad am besten. Für 50 Euro gibt es eines für die ganze Woche, und man dann die Concha entlangfahren.
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»La Baie des Anges« könnte die Concha eigentlich auch heißen. Das ist aber der Name der Bucht von Nizza und eines ganz wunderbaren Films von Jacques Demy, in vieler Hinsicht einer Ausnahme in seinem Werk. Ein Schwarzweißfilm; zum Auftakt blickt man in das Gesicht von Jeanne Moreau, in einem kleinen Kreis, der wie im Stummfilm, größer werdend die ganze Leinwand öffnet. Als sie auf ist, fährt die Kamera los, rückwärts, schnell (offensichtlich mit einem Auto), die ganze Strandpromenade ab. Am morgen. Der Wind treibt die Wellen gegen das Ufer. Alles eine einzige Einstellung, dazu eine sehr bekannte Musik von Michel Legrand. Schnitt: Blick auf einen Kalender. Gut sichtbar ist es der 6.8. Mittwoch. Warum ausgerechnet der Jahrestag von Hiroshima? Der Film enthält viele Spuren eines vergangenen Lebens: Ein tolles altes Hotelzimmer, mit riesengroßem Bad, ein Citroën DS. Viele kleine Beobachtungen auch: Früher wurde Lohn in bar ausgezahlt, und wöchentlich. Man begegnet nun einem jungen Mann, Bankangestellter, anständig, aber nicht langweilig, sondern interessiert am Außerdurchschnittlichen. Er will kein Spießer sein. »Ich suche irgendetwas.« Der junge Mann ist Bankangestellter, und er gewinnt am Anfang. Jetzt ist er im Drang zu spielen, gefangen. Bald begegnet er einer wasserstoffblonden Jeanne Moreau. Ihre Haare und ihre mal weißen, mal schwarzweißgepunkteten Kleider sehen im schwarzweiß noch besser und noch unwirklicher aus. Bemerkenswert auch, wie fertig und alt die Moreau in dem Film aussieht. Man kann sie leicht für 50 halten. Die beiden tun sich zusammen, mal gewinnen sie, meist verlieren sie. Einmal als sie 4,2 Mio – alte – Francs gewinnen, haben sie einen riesigen Batzen Scheine in der Hand. Die Bank gewinnt immer. Aber sie glauben daran: »When you think, everything’s lost, your luck returns.«
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Moreaus Figur und das Leben, dass diese beiden Menschen führen, ist verführerisch, und muss das erst recht damals gewesen sein: »Je suis libre.« sagt sie und meint das auch. Sie will ein ein Leben ohne Arbeit, in schönen Hotelzimmern. »grand vie … la luxe«. Der Film weiß ganz genau: Geld macht doch glücklich, aber kein Geld macht nicht unbedingt unglücklich. Das Pleitesein wird hier noch ganz anders zelebriert. Es ist normal, ist lustig, kein »Problem«, schon gar keine Schande.
Moreaus Figur sagt einmal: »Wenn ich mich für Geld interessieren würde, würde ich’s nicht verschwenden.« Und spricht vom »mystere des chiffres«, von »le hazard … C'est Dieu qui reigne sur les chiffres.« Das Casino ist auch eine Kirche. Pierre Cardin stattete Jeanne Moreau aus, Costa-Gavras war Regieassistent.
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Was sich alles in diesen 20 Jahren zwischen 1962 und 1982 geändert hat! Schon 1972 sah jeder Film ganz anders aus, als einer zehn Jahre zuvor. Und dann nochmal. Ein Film von 1982 sieht dagegen fast genau so aus, wie einer von heute. Schuld hat neben Kulturhistorischem die digitale Technik, die die Filme alterlos und kalt werden lässt. Dass mit den digitalen Techniken die sichtbaren Eigenschaften des Materials verschwinden, hat noch eine weitere Folge: Die geschichtliche Zeit, das sichtbare Vergehen der Zeit, wird damit auch an ein Ende gebracht. Man tritt ein in ein geschichtsloses, weil zeitloses Immerjetzt – ins Posthistoire. Das Ende der Geschichte findet doch statt.
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Man müsste mal eine Liste von Casino-Filmen aufstellen. Da würde dann auch Hard Eight vorkommen, das Regiedebüt von Paul Thomas Anderson, der hier in der Noir-Reihe läuft. Da passt er nur halb hin, eher ist er eigentlich Prä-Tarantino. Und insgesamt auch einfach etwas fahrig erzählt, und ganz undramatisch, ohne Bogen, sondern mit einem epischen »und dann, und dann, und dann«, das ihn fast wie eine Kompilation mehrerer Kurzfilme wirken lässt. Tatsächlich könnten die vier Teile des Films auch jeweils als 25-Minüter laufen. Warum der Film aber lohnt, sind zwei Schauspieler: Philip Baker Hall und Gwyneth Paltrow, als sie noch gut war.
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Kein Casino-Film, aber ein Werk über Glück und Zufall ist der neueste Johnnie To: Life Without Principle hatte in Venedig im Wettbewerb Premiere, hier läuft er unter den »Festival-Perlen«. Großartig zeigt To die Gebaren der Banken, Hochfinanz und Kriminalität vermengen sich untrennbar. Und dann kommt der Bösencrash und die Griechenland-Krise dazu – man ist sich nach diesem glänzenden Film sicher, dass To selbst einiges Geld an der Börse verloren hat, und sich mit seinen Mitteln rächt. Davon ganz abgesehen gelingt ihm ein schöner Film mit viel Insidereinblicken ins Leben in Hongkong: Wie Leute leben, arbeiten, wovon sie träumen, und nicht zuletzt, was am Immobilienmarkt so los ist. Hoffentlich kommt er bald ins deutsche Kino – oder zumindest auf ein schönes deutsches Festival.