29.09.2011

Steine im Schuh

Kim Ki-Duk: Amen
AMEN
Das neue Credo von Kim Ki-duk

»When you think, everything’s lost, your luck returns.« – Glück, Krise, und das Ende der Geschichte – Eindrücke und Begegnungen vor der Revolution beim Filmfestival von San Sebastián

Von Rüdiger Suchsland

»A good film is like a stone in your shoe.« – das ist wieder so einer jener Sätze von Lars von Trier, die man sich merken kann. Zitiert hat ihn Liz Miller, ein britische PR-Agentin, die den Job schon so lange macht, dass sie nichts mehr erschüt­tern kann. Schon gar keine schlechten Filme. In San Sebastián managte sie das Interview das mir Jean-Claude Carrière, der berühmte Dreh­buch­autor, gegeben hat – ausge­rechnet an seinem 80. Geburtstag. Warum er da auf ein Festival fährt, kann er gut erklären: »Ich habe eigent­lich zwei Geburts­tage. Meine Eltern sind überzeugt, dass ich am 19.9. geboren bin. Aber der Stan­des­be­amte war betrunken, und hat sich verschrieben. Darum steht in allen offi­zi­ellen Papieren, ich sei am 17. geboren. Darum habe ich schon vor zwei Tagen gefeiert.« Dann fügt er noch hinzu: »Und wenn ich dann irgend­wann mal tot bin, habe ich noch zwei Tage gut.« Und lacht.

Carriere begann mit Bunuel, später arbeitete er unter anderem für Godard, Truffaut, Haneke und viele mehr. Unter­bro­chen von Geburts­tags­an­rufen erzählte er davon, dass er den Tod nicht fürchte – »Ich habe meinen Lebensweg zwischen Krebs­er­kran­kungen und Schlag­an­fällen beschritten. Wenn man von beidem verschont bleibt, wird man alt. Aber viele meiner Freunde sind tot. Das ist das Häßlichste am Alter.«

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Ein schöner, alter, schon reichlich abge­nutzter Leder­koffer am Strand, ange­schwemmt, dahinter Wellen und schönes Wetter – das ist der dies­jäh­rige Trailer zum Film­fes­tival von San Sebastián. Das gleiche Motiv ziert auch das Plakat. Aber was soll es uns sagen? Kino als Strandgut? Ein Festival als Wunder­koffer, schön, aber eben alt und reichlich abgenutzt, voller Schätze, von denen man aber nicht alle brauchen kann? In einer guten Woche werden wir viel­leicht mehr verstehen.

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Dem Kino geht es gut, aber nicht allen Filme­ma­chern. Das merkt jeder, der Amen sieht, das neue Werk von Kim Ki-Duk. Vor zehn Jahren war er der Wunder­mann des korea­ni­schen Autoren­kinos, und auch wer seine Filme schon damals ein bisschen präten­tiös fand, konnte ihnen doch hand­werk­liche Meis­ter­schaft und Einfalls­reichtum nie abspre­chen. Nach einer künst­le­ri­schen Krise schien Kim nun zurück­zu­kommen – Arirang lief in Cannes und war eine Film gewordene Selbst­the­rapie. Wer aber Kim jetzt bei der Pres­se­kon­fe­renz zu seinem neuen Film beim Festival im baski­schen San Sebastián erlebte, muss sich ernst­hafte Sorgen um den Geis­tes­zu­stand des Regis­seurs machen: Fahrige Gesten, unzu­sam­men­hän­gende Sätze, die viel Sinnloses und besten­falls Bana­li­täten enthielten, passten zu einem Film, der kaum an das Niveau einer guten Hoch­schul­ar­beit heran­reicht. Es geht darin um eine Art zeit­genös­si­sche Mari­en­ge­schichte, die die bekannte Frau­en­ver­ach­tung des Regisseur mit katho­li­schem Kitsch vermischt – eine junge Frau wird im Zug von Paris nach Venedig von einem Mann mit Gasmaske betäubt und verge­wal­tigt. Sie wird schwanger und durch geschickte Mani­pu­la­tion und mora­li­schen Druck bringt sie der Täter schließ­lich dazu, nicht abzu­treiben, sondern das Kind auszu­tragen. Glück­li­cher­weise war der dilet­tan­tisch insze­nierte AMEN die Ausnahme im Wett­be­werb.

Aber was ist mit dem Regisseur los? Wird Kim Ki-duk verrückt? Das fragten sich nicht wenige, die ihn hier erlebten. Wer hier persön­lich mit Kim zu tun hatte, begegnete einem Mann, der zuviel trinkt, sich unflätig benimmt, verwahr­lost wirkt und auf seine Umwelt nur noch einge­schränkt reagiert. Ein hoch­ran­giger Vertreter des Festivals ließ sich zu der Bemerkung hinreißen: »Könnte sein, dass das jetzt sein letzter Film war.«

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Das ging ja gut los! Beim Einsteigen ins Flugzeug in Madrid lächelte einem aufmun­ternd Clive Owen zu – offenbar hat er mich für eine Zehn­tel­se­kunde mit jemandem verwech­selt. Oder ich habe ihn so angeguckt, wie einen alten Bekannten – man kennt ja das Phänomen: Wenn man jemandem, den man schon oft auf der Leinwand gesehen hat, über den Weg läuft, fühlt man unwill­kür­lich das Verlangen, ihn vertraut zu grüßen. Leider kann ich dann den Flug trotzdem nicht neben Owen in der Business Class verbringen, der morgen Abend den Eröff­nungs­film präsen­tieren wird, sondern sitze weiter hinten. Dafür entschä­digt mich ange­messen eine ziemlich hübsche, ziemlich lang­bei­nige Sitz­nach­barin, die zu ihrem Aussehen auch ein gesundes, in-sich ruhendes Selbst­be­wusst­sein zur Schau trägt, das einen sofort ahnen lässt: Die geht bestimmt auch zum Film­fes­tival in San Sebastian. Aber wer ist es? Rosario Dawson nicht, zumal die bestimmt nicht Economy fliegt aber eine vage Ähnlich­keit besteht. Jeden­falls sieht sie aus, wie eines dieser Girls aus einem Tarantino-Film: Sie trägt ein dunkel­blaues Hemd, dazu oliv­far­bene Hotpants und mittel­braune Leder­stiefel, ihre Nägel sind hellgrün lackiert, sie hat eine Sonnen­brille mit sehr großen Gläsern, Eine weiße kunst­leder-lackige Retro-Seventys-Tasche, ihr Teint ist mittel­braun, und sie spricht Spanisch. Kaum sitzt sie, wird der iPod ange­schaltet. Die Iberia-Maschine nach San Sebastian hat dann fast eine Stunde Verspä­tung, steht dumm auf dem Rollfeld herum, und deswegen kommen wir dann doch noch ins Gespräch. Es ist die Mexi­ka­nerin Stephanie Sigman, die offenbar auch gern im Flieger den Notsitz bucht, und hier den Film Miss Bala vorstellt, in dem sie die Haupt­rolle spielt – wie gesagt: Das geht ja gut los!

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Eröffnet wurde das Festival mit Intruders von Juan Carlos Fres­na­dillo – vor ein paar Jahren drehte er das Post­apo­ka­lypse-Sequel 28 Weeks Later. Sein neuer Film nun ist einer jener Horror­filme, die die angenehme Eigen­schaft haben, für alle Mysterien, Geister, und Schrecken am Ende eine rationale Erklärung zu geben, die sich also im Rückblick fast als Psycho­thriller entpuppen. Dies ist zugleich ein zwar spani­scher Film, aber eben einer, der mit Clive Owen, Carice Van Houten und Daniel Brühl sich doch aus der zweiten Reihe der europäi­schen A-Stars bedient und mit einem US-Verleih eine Art europäi­sche Groß­pro­duk­tion darstellt. Die Story spielt lange Zeit gleich­mäßig in Spanien und England, erst gegen Ende verlagert sie sich ganz dorthin.

Grob gesagt geht es damit los, dass ein Kind eine Horror-Story erfindet und aufschreibt. Der Junge liest sie seiner allein­er­zie­henden Mutter vor, und bald scheint er sich vom Erfun­denen nicht mehr lösen zu können: Er wird von Alpträumen gequält. Einmal wacht er nachts auf, geht bei Regen auf ein Bau-Gerüst – und dann kommt ein gesichts­loses Monster, und schleicht sich durchs offene Fenster in die Wohnung. Als der Junge ihm folgt, sieht er das Monster im Schlaf­zimmer der Mutter, in einer unklaren Situation: Wird sie verge­wal­tigt? Geschlagen? Offenbar sucht das Monster nach ihm. Und als es ihn dann bemerkt und erwischt, tötet es den Jungen fast. Doch die Mutter kann ihn retten – und er wacht auf. Alles nur ein Traum. Oder?

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Katzen wissen hier jeden­falls mehr als einmal früh bescheid. Die Geschichte entwi­ckelt sich weiter mit katho­li­schen Unter­tönen: Die Mutter weiß keinen Rat mehr, als einen Priester zu besuchen, der wird von Daniel Brühl gespielt und für einen deutschen Beob­achter ist das dann schon ein bisschen trashy. Eine Weile glaubt man es werde auf einen Exor­zismus hinaus­laufen, doch ein älterer Priester ist lebens­klug: »They are both nuts, mother and son.« Parallel zu alldem lernen wir in England eine Familie kennen, deren Tochter offenbar vom selben Monster, von »Hollow­face« gepeinigt wird. Immer geht es hin und her zwischen zwei Ebenen. Während man es in Spanien mit dem reli­giösen Ansatz versucht, soll es in England die Wissen­schaft richten. Erst am Ende versteht man: Der Vater dieser Familie – Clive Owen – ist der kleine Junge der Spanien-Story, das Monster ist eine unver­ar­bei­tete Erin­ne­rung, nun kehrt das Verdrängte zurück. Intruders ist kein Schocker, auch kein Splatter, eher subtil, und etwas zu brav und zu bürger­lich, um einen noch allzu lange zu beschäf­tigen.

Der Film handelt in seinem Kern davon, wie Eltern Furcht auf Kinder über­tragen. »Over­pro­tec­tion ends up in terror.« sagt der Regisseur auf der Pres­se­kon­fe­renz und bezeichnet mit Berufung auf Jodo­rowsky die »Familie als Kern der emotio­nalen Struktur … Furcht kommt immer aus der Familie.« Man könnte es auch anders sagen: »Liebe Eltern, erzählt Euren Kindern keine falschen Geschichten und keine unvoll­s­tän­digen. Das führt zu nichts Gutem«

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Und dann überlegt man, warum so viele Filme aus Spanien von Horror handeln. Faschismus hatten wir Deutschen auch. Aber was sich bei uns in Pädagogik und Bilder­verbot ausdrückt, wird in Spanien zum »Cine terror«. Dazu passt ein Gespräch mit Sara Brito, einer guten Freundin und Kollegin: Redak­teurin bei der Madrider »El Publico«, am Abend vorher. Wir reden über die poli­ti­sche Situation in Spanien, gegen die in Deutsch­land wirklich fast alles zum Besten steht, und über die spani­schen Wutbürger: »Sie wissen nicht, was sie wollen«, sagt Sara, »und sie verhalten sich wider­sprüch­lich.« Unmöglich ihr mit Argu­menten zu wider­spre­chen, wenn sie sagt: Viel­leicht ist Gewalt manchmal richtig – eben dann wenn das System so derart gewalt­tätig ist, wie derzeit. Man kann dann nicht immer sagen: Danke, das wir demons­trieren dürfen. Danke, dass wir für wenig Geld noch arbeiten dürfen. Wir sind uns einig, dass das Bewusst­sein unserer Gene­ra­tion in einem traurigen Zustand ist: Ohne Hoffnung, ohne Anspruchs­denken, schwach, ideenlos, ohne Wider­stands­geist. Auf meine Frage, ob sie glaubt, dass wir zu unseren Lebzeiten noch eine Revo­lu­tion erleben, sagt Sara: »Ja. Es muss so kommen. So wie es jetzt ist, kann es gar nicht immer bleiben. Immerhin langt es noch zu einem guten Essen am Hafen in einem Fisch­re­stau­rant: Gegrillter Thunfisch, gebratene Sardinen, Tinten­fisch in seiner Tinte, dazu gemischter Salat und eine Flasche Weißwein – dieses Essen wird in seiner Ruhe die Ausnahme bleiben, weil man in San Sebastian vor allem Pinchos isst, von Bar zu Bar ziehend kleine Speisen auf kleinen Tellern, von derb bis fein.«

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Im Radio im Bus am Morgen auf dem Weg zum Film gibt es Festival nonstop. Jury­prä­si­dentin Francis McDormand erzählt von den schwie­rigen Aufgaben in einer Jury. Dann ist von »fanaticos al cine« die Rede, die seit 26 Jahren immer hierher kommen, von Kino-Afici­o­nados.

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Was signa­li­siert eigent­lich ein solcher Eröff­nungs­film? Will der neue Direktor José Luis Rebor­dinos, der nach zehn Jahren Mikel Olaci­regui ersetzt hat, damit signa­li­sieren, es werde nun mehr Genre geben? Will er insgeheim sagen, auch er sei ein »Intruder« in der spani­schen Festi­valszene? »Suspen­sion of disbelief« heißt es glaube ich, wenn man etwas im Kino glaubt, das man eigent­lich nicht im Ernst glauben kann und besser auch nicht glauben sollte, aber es für die Dauer des Films doch glauben will. Das hat beim Film gut funk­tio­niert. Mal sehen, ob es sich auf das Festival über­tragen lässt.

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Die Eröff­nungs­party fand in dem alten San Telmo-Kloster statt, das zum Teil in die Felsen hinein­ge­hauen ist, und während der letzten Jahre frisch renoviert wurde. Ein unge­wöhn­li­cher Ort und eine feier­liche Atmo­sphäre, die nur dadurch getrübt wurde, dass die scheinbar auser­lesen Einge­la­denen dann noch einmal in zwei Gruppen unter­teilt wurden – und dank baski­scher Sturheit war zur VIP-Lounge kein Durch­kommen. Immerhin traf man Freunde und Bekannte. Dazu gehört die schon wegen ihres Vornamens sympa­thi­sche, immer gut gelaunte, immer ener­gi­sche Pandora da Cunha Telles, Liss­a­boner Produ­zentin mit dänisch-kanadisch-portu­gi­si­schen Vorfahren. Hier hat sie gleich zwei Filme: Bonsái vom seit seinem Debüt Ilusiones ópticas hoch gehan­delten Chilenen Cristian Jimenez und Tralas Luces von Sandra Sanchez, ein Doku­men­tar­film über Zigeuner, die zwischen Portugal, Spanien und Frank­reich als fahrende Händler leben. Mit der Bemerkung »of course, I am a good producer« öffnete sie schon beim, ersten Gin-Tonic ihre Pando­rabüchse und drückte mir gleich vier Filme auf DVD in die Hand, die sie produ­ziert hat.

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Die Jacques-Demy-Retro begann mit vier Kurz­filmen: Le sabotier du val de Loire (1956) erzählt von einem Holz­schuh­ma­cher. Schwarz­weiß, mit aller Ruhe der Welt und einem Erzähler aus dem Off: Ein Tages­ab­lauf. Beim Aufstehen fällt auf, wie dick die Kissen und das Bettzeug sind. Ein Baum wird gefällt. Man sieht Holz hacken, schnitzen, schneiden, schaben, kratzen, er hat zig Hack- und Schnitz­werk­zeuge. Musik beschwört die Heilig­keit des Lebens – »lui, ce cela lui fait heureux.« – scheinbar ein Plädoyer für die Einfach­heit. Kitsch, aber toll. Harte Arbeit prägt auch den Alltag der Frau, die einmal pro Woche zum Waschen an die Loire geht. Demy beob­achtet mit einem gewissen Natu­ra­lismus, zeigt Armut, Einfach­heit, Rituale und eine verlorene und vergan­gene Welt – wer trägt heute schon Holz­schuhe? Zwischen­durch geht es auch um den Sohn, der das Land nicht mag, den Nachbar der im Sterben liegt – »C'est dans l’ordre. Mais bien sur c'est dans l’ordre. Mais quand meme..«

50 Jahre ist das jetzt her. Wie gesagt: Eine total verlorene und vergan­gene Welt – was ja unter anderem den Gedanken nahe legt, dass auch von unserer Welt, und unseren Wich­tig­keiten und Bedeu­tungen in 50 Jahren nicht mehr viel übrig sein wird.

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Le bel indif­fe­rent von 1957 zeigt in 29 Minuten in Farbe eine Thea­ter­si­tua­tion: Ein aufge­drehtes Melo in Rot, eine Frau und ein Mann, sie redet, er schweigt. Alles sehr nervig, sehr öde. Auch »Ars« von 1959 ist eine einzige Zumutung, das affir­ma­tive Portrait eines Heiligen: »Il est un force tran­quille, come la force que vient de Dieu.«

Man will hier Jacques Demy schon fast aufgeben, da kommt zum Abschluss La Luxure, sein Beitrag zu einem Kompi­la­ti­ons­film über Die sieben Todsünden (1962). Das ist dann großartig: Zwei junge Männer, einer ist Trin­tignant, reden vor einem Buchladen, kaufen einen Bildband von Hiero­nimus Bosch – im Schau­fenster stehen auch Bücher von Roger Vadim und über Stan Laurel – und gehen in ein Cafe. Dort schlagen sie das Bild »La Luxure« auf, und Trin­tignant erzählt vom Kate­chismus-Unter­richt. Rückblick: Kleine Jungs auf der Straße, sie rauchen, paffen, reden über das, wovon der Pfarrer spricht: Todsünden, über Hölle (»C'est pas drole.«, die dann aber in drolligen Bildern darge­stellt wird: Nackte im Feuer), während im Hinter­grund Markt­stände aufgebaut werden. Einer geht nach Hause, Mittag­essen bei einer Bürger­fa­milie in großer Wohnung. Die Eltern streiten, nachdem er das Gespräch auf La luxure bringt.
Ende des Rück­blicks. Während beide über Frauen reden, blättern sie auf den »Garten der Lüste«. Und die Kamera zeigt ihre Gedanken, indem sie Bild­aus­schnitte auf Bar-Besucher über­blendet, die dann nackt dastehen. Eine lustige Form, Tabus zu brechen und am Schluß der waghal­sigen 14 Minuten die Quint­essenz: »The Surrea­lists said it all.«

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Als Video­künstler ist Nicholas Provost schon länger berühmt und mehrfach preis­ge­krönt. Mit The Invader hat er nun seinen ersten Spielfilm gedreht. Für einen Erst­lings­film ist er allemal beacht­lich. Die Bilder sind ebenso besonders, wie die Auswahl der Musik der Musik. Zugleich sind aber auch die Manie­rismen unüber­sehbar, und der grund­sätz­liche Ästhe­ti­zismus erscheint leer. Wie auch der Schön­heits­be­griff des Films. Schon in der ersten Szene, die an einem fran­zö­si­schen Nackt­ba­de­strand spielt, an dem eine Gruppe erschöpfter afri­ka­ni­scher Boat-People, gleich­falls nackt, ankommt, zeigt Provost ausschließ­lich reine, saubere, »schöne« Körper. Und das die Frau, die da auf einen Ankömm­ling zugeht, wie eine Aphrodite auf Paris, Provosts Freundin ist, ein Model, das jetzt an seine Film­kar­riere glaubt, macht die Sache nicht besser.

Viel zu lange verwendet der Regisseur zu den Credits den Kalei­do­skop-Trick, das Bild in der Mitte zu splitten, zur Begrün­dung führt er an, das sei des Neuan­kömm­lings, des Flücht­lings Amadous Blick in die Vulva jener Frau – naja...

Insgesamt ist alles ein bisschen sehr ausge­dacht, und nur eine kurze Weile ok. Eine Art »Brüssel Decadence« mit Sex am meter­hohen Hochhaus-Fenster. Die Sets sind schön, Momente auch, aber insgesamt ist die Geschichte des Naiven Schwarzen, der unver­drossen an sein Glück glaubt, bis er zunehmend wahn­sinnig wird, ein ziem­li­cher Quatsch. Der mir auch ein bisschen rassis­tisch vorkommt. Wie Leni Riefen­stahl in ihren Nuba-Bildern zeigt der Film reine Schwar­zen­körper – Reichs­par­teitag in Afrika.

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Fußball ist der größte Rivale des Kinos bei diesem Festival, selbst heute, wo es erstmals nicht geregnet hat. In fast allen Kneipen laufen abends Spiele – und es gibt immer welche – auf einem Fernseher, der umringt ist von Männern, Frauen, Kindern. Kinder dürfen hier auch bis nach Mitter­nacht aufbleiben – claro que si! – scheint ihnen nicht zu schaden, sie bekommen aber ja auch kein Bioessen, sondern anstän­dige Chuletas und sind deshalb wahr­schein­lich weniger empfind­lich als die deutsche Biona­de­ju­gend.

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0-0 steht es gerade im Heimspiel zwischen Real Sociedad San Sebastian und Aufsteiger FC Granada. Es ist ziemlich still im »artess« cafe. Ich bin extra rein­ge­gangen, um beim Schreiben auch noch das Spiel mitzu­ver­folgen. Seit ich überhaupt nach San Sebastian komme, seit 2002 ist das »artess« so eine Art Stammcafe für mich geworden – und leicht lassen sich auch andere davon über­zeugen, wie dieses Jahr Firat aus Istanbul oder die andere Pamela (Pianezza) aus Paris, und die Argen­ti­nier sowieso. Man sitzt selbst bei schlechtem Wetter draußen, bei gutem bis zum Abend in der Sonne, nichts ist Schi­cki­micki oder für die Land­ju­gend wie die Cafes und Bars in der Altstadt. Inzwi­schen werde ich hier schon jedes Jahr wieder von den Bedi­e­nungen begrüßt, die mit mir älter werden, genau wie diese aller­dings zeit­lo­seren Kino­an­ge­stellten, die ebenfalls immer die selben bleiben, für die das hier die größten zehn Tage des Jahres sind. Heute gab es vom Cafe das dritte Bier unauf­ge­for­dert »invita la casa«. 63. Minute, gerade hat Estrade das 1-0 für San Sebastian geschossen. Jubel...

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Nach etwas durch­wach­senem Auftakt des Wett­be­werbs war es der Brite Terence Davies, der hier die einhellig posi­tivste Reaktion erntete. Vor drei Jahren widmete ihm das Festival eine Retro­spek­tive. Elf Jahre musste er auf seinen nächsten Spielfilm nach The House of Mirth von 2000 warten – natürlich aus finan­zi­ellen Gründen. Zwischen­durch drehte er immerhin den groß­ar­tigem Essayfilm Of Time and the City über seine Heimat­stadt Liverpool. The Deep Blue Sea erzählt von einer Amour Fou; Rachel Weisz spielt eine Frau aus der Ober­klasse, die ihren nach­sich­tigen Juris­ten­gatten Anfang der 50er mit einem Welt­kriegs­flieger betrügt, der sie nicht mal liebt. Sie weiß das, und muss zugrun­de­gehen, aber weil sie alles selbst gewählt hat, ist es auch gut wie es ist.
Mehr­heits­fähig bei der Jury dürfte dieser Film, bei dem der deutsche Kame­ra­mann Florian Hoff­meister die Bilder gestal­tete, aller­dings kaum sein.

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Im Gespräch ist Davies großartig: Immer wieder betont er aus der Working Class zu stammen, macht aus seiner Verach­tung für die Gegenwart und das Geld kein Hehl. Wir reden über die Unschuld der 50er Jahre, über Sex vor Aids, über das Nach­kriegs­eng­land, das viel länger als die Deutschen der Diktatur der Lebens­mit­tel­karten und der Zutei­lungs­wirt­schaft ausge­setzt war – so viel zur »special rela­ti­on­ship« mit Amerika, sagt Davies ätzend.

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Großartig war das Wieder­sehen mit Kathryn Bigelows Strange Days in der Retro­spek­tive zum ameri­ka­ni­schen Neo-Noir. Der Film stammt aus dem Jahr 1995, wo er noch ein Science-Fiction war, spielt er doch an den letzten zwei Tagen des Jahres 1995. Ich hatte ihn damals, noch kein Film­kri­tiker, gleich zweimal kurz hinter­ein­ander begeis­tert gesehen, seitdem nicht mehr. Damals zusammen mit allen anderen Werken der Regis­seurin in einer Retro­spek­tive im Münchner Film­mu­seum. Und wunderbar gefunden – für mich in der Erin­ne­rung einer der reprä­sen­ta­tiven Filme der 90er Jahre. Das gilt weiterhin, obwohl gewisse Alters­er­schei­nungen unüber­sehbar sind und über­ra­schen­der­weise mehr ins Gewicht fallen als in King of New York vom weißgott nicht über alle Zweifel erhabenen Abel Ferrara.

Prin­zi­piell ist Strange Days aber filmisch sehr anspruchs­voll. Es geht vor allem um den POV, den Point of view und das mit einer Konse­quenz, die heutige Filme gar nicht kennen. Schon die erste Szene ist ein einziger Exzess einer subjek­tiven Kamera. Ralph Fiennes als »the teflon-man« und Dealer ganz­heit­li­cher Erfah­rungen hat hier seinen besten Auftritt. Auch manche Verweise fallen mir erst jetzt richtig auf: In der Disco-Szene laufen beispiels­weise »Film Noirs« auf den Monitoren. Und wenn Juliette Lewis dann singt »I can hardly wait«, ist es, als sei die Zeit stehen­ge­blieben

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Die Empfin­dung des »Veral­teten«, schreibt Adorno – und auf Strange Days trifft das ganz bestimmt zu –, erkläre sich nicht aus zeit­li­cher Distanz, sondern aus dem Urteils­spruch der Geschichte. Als veraltet empfinde man etwas dann, wenn man Scham darüber empfinde, seiner­zeit eine Gele­gen­heit versäumt zu haben. Strange Days floppte damals. Vier Jahre später wurde Matrix ein Welt­erfolg, der, obschon immer noch ein toller Film, doch nur ein billiger Abklatsch der Ideen von Bigelow und ihrem Mann James Cameron war.

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Am Abend beim Abend­essen mit den Argen­ti­niern im »Alron­dondo«, einem der schönsten Restau­rants hier. Es gibt Boef-Chuleta, und die Argen­ti­nier bestellen gleich zwei – zwei Kilo für zehn Menschen. Na servus! Dann ein Erlebnis: Plötzlich kommt Michael Fass­bender zur Tür rein. Gefühlt zwei Köpfe kleiner, als im Kino, braun gebrannt. Er soll hier Shame vorstellen und begrüßt Ginger Corbet und die anderen briti­schen Pres­se­agen­tinnen mit Küsschen, selbst die Prak­ti­kantin. Strahlt und wirkt sympa­thisch. Ein Mann, dem das Glück gerade zulächelt. Später hören wir, dass der von Barcelona mit dem Mororrad hier­her­fuhr – what a man! Und alle argen­ti­ni­schen Shame-Skep­ti­ke­rinnen von »Abre puertas...« drehten die Köpfe, waren hinge­rissen und wurden plötzlich zu Rauche­rinnen, um vor der Tür ein paar Sätze mit Fass­bender zu wechseln.

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Es ist heiß in San Sebastián. Tempe­ra­turen von fast 30 Grad locken die Menschen­massen noch einmal an den Strand, der mit seiner muschel­för­migen Bucht, der »Concha« aussieht, wie eine Mini-Ausgabe der Copa­ca­bana. Es ist die herrliche größere von zwei Buchten, die die einmalige Schönheit der Stadt San Sebastian ausmachen. Die Altstadt liegt genau zwischen ihnen, an und um einen riesigen Felsen. »Concha« heißt soviel wie Muschel und danach ist auch jener Preis benannt, die »Concha d’Oro«, die an diesem Wochen­ende verliehen wird. hier fährt man, wie in Locarno und Venedig, mit dem Fahrrad am besten. Für 50 Euro gibt es eines für die ganze Woche, und man dann die Concha entlang­fahren.

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»La Baie des Anges« könnte die Concha eigent­lich auch heißen. Das ist aber der Name der Bucht von Nizza und eines ganz wunder­baren Films von Jacques Demy, in vieler Hinsicht einer Ausnahme in seinem Werk. Ein Schwarz­weiß­film; zum Auftakt blickt man in das Gesicht von Jeanne Moreau, in einem kleinen Kreis, der wie im Stummfilm, größer werdend die ganze Leinwand öffnet. Als sie auf ist, fährt die Kamera los, rückwärts, schnell (offen­sicht­lich mit einem Auto), die ganze Strand­pro­me­nade ab. Am morgen. Der Wind treibt die Wellen gegen das Ufer. Alles eine einzige Einstel­lung, dazu eine sehr bekannte Musik von Michel Legrand. Schnitt: Blick auf einen Kalender. Gut sichtbar ist es der 6.8. Mittwoch. Warum ausge­rechnet der Jahrestag von Hiroshima? Der Film enthält viele Spuren eines vergan­genen Lebens: Ein tolles altes Hotel­zimmer, mit riesen­großem Bad, ein Citroën DS. Viele kleine Beob­ach­tungen auch: Früher wurde Lohn in bar ausge­zahlt, und wöchent­lich. Man begegnet nun einem jungen Mann, Bank­an­ge­stellter, anständig, aber nicht lang­weilig, sondern inter­es­siert am Außer­durch­schnitt­li­chen. Er will kein Spießer sein. »Ich suche irgend­etwas.« Der junge Mann ist Bank­an­ge­stellter, und er gewinnt am Anfang. Jetzt ist er im Drang zu spielen, gefangen. Bald begegnet er einer wasser­stoff­blonden Jeanne Moreau. Ihre Haare und ihre mal weißen, mal schwarz­weiß­ge­punk­teten Kleider sehen im schwarz­weiß noch besser und noch unwirk­li­cher aus. Bemer­kens­wert auch, wie fertig und alt die Moreau in dem Film aussieht. Man kann sie leicht für 50 halten. Die beiden tun sich zusammen, mal gewinnen sie, meist verlieren sie. Einmal als sie 4,2 Mio – alte – Francs gewinnen, haben sie einen riesigen Batzen Scheine in der Hand. Die Bank gewinnt immer. Aber sie glauben daran: »When you think, ever­y­thing’s lost, your luck returns.«

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Moreaus Figur und das Leben, dass diese beiden Menschen führen, ist verfüh­re­risch, und muss das erst recht damals gewesen sein: »Je suis libre.« sagt sie und meint das auch. Sie will ein ein Leben ohne Arbeit, in schönen Hotel­zim­mern. »grand vie … la luxe«. Der Film weiß ganz genau: Geld macht doch glücklich, aber kein Geld macht nicht unbedingt unglück­lich. Das Plei­te­sein wird hier noch ganz anders zele­briert. Es ist normal, ist lustig, kein »Problem«, schon gar keine Schande.

Moreaus Figur sagt einmal: »Wenn ich mich für Geld inter­es­sieren würde, würde ich’s nicht verschwenden.« Und spricht vom »mystere des chiffres«, von »le hazard … C'est Dieu qui reigne sur les chiffres.« Das Casino ist auch eine Kirche. Pierre Cardin stattete Jeanne Moreau aus, Costa-Gavras war Regie­as­sis­tent.

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Was sich alles in diesen 20 Jahren zwischen 1962 und 1982 geändert hat! Schon 1972 sah jeder Film ganz anders aus, als einer zehn Jahre zuvor. Und dann nochmal. Ein Film von 1982 sieht dagegen fast genau so aus, wie einer von heute. Schuld hat neben Kultur­his­to­ri­schem die digitale Technik, die die Filme alterlos und kalt werden lässt. Dass mit den digitalen Techniken die sicht­baren Eigen­schaften des Materials verschwinden, hat noch eine weitere Folge: Die geschicht­liche Zeit, das sichtbare Vergehen der Zeit, wird damit auch an ein Ende gebracht. Man tritt ein in ein geschichts­loses, weil zeitloses Immer­jetzt – ins Post­his­toire. Das Ende der Geschichte findet doch statt.

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Man müsste mal eine Liste von Casino-Filmen aufstellen. Da würde dann auch Hard Eight vorkommen, das Regie­debüt von Paul Thomas Anderson, der hier in der Noir-Reihe läuft. Da passt er nur halb hin, eher ist er eigent­lich Prä-Tarantino. Und insgesamt auch einfach etwas fahrig erzählt, und ganz undra­ma­tisch, ohne Bogen, sondern mit einem epischen »und dann, und dann, und dann«, das ihn fast wie eine Kompi­la­tion mehrerer Kurzfilme wirken lässt. Tatsäch­lich könnten die vier Teile des Films auch jeweils als 25-Minüter laufen. Warum der Film aber lohnt, sind zwei Schau­spieler: Philip Baker Hall und Gwyneth Paltrow, als sie noch gut war.

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Kein Casino-Film, aber ein Werk über Glück und Zufall ist der neueste Johnnie To: Life Without Principle hatte in Venedig im Wett­be­werb Premiere, hier läuft er unter den »Festival-Perlen«. Großartig zeigt To die Gebaren der Banken, Hoch­fi­nanz und Krimi­na­lität vermengen sich untrennbar. Und dann kommt der Bösen­crash und die Grie­chen­land-Krise dazu – man ist sich nach diesem glän­zenden Film sicher, dass To selbst einiges Geld an der Börse verloren hat, und sich mit seinen Mitteln rächt. Davon ganz abgesehen gelingt ihm ein schöner Film mit viel Insi­der­ein­bli­cken ins Leben in Hongkong: Wie Leute leben, arbeiten, wovon sie träumen, und nicht zuletzt, was am Immo­bi­li­en­markt so los ist. Hoffent­lich kommt er bald ins deutsche Kino – oder zumindest auf ein schönes deutsches Festival.