Fetisch, Liebe, Tod |
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François Truffauts Jules et Jim: Unbändiges Freiheitssymbol einer neuen Generation |
Von Dunja Bialas
Den Urheber mit seinem Werk in eins zu setzen, ist eine heikle Angelegenheit. Schnell ist man bei psychologisch-biographisch motivierter Hermeneutik, zieht Rück- und im schlimmeren Fall Kurzschlüsse vom Werk auf den Autor, der doch nur ein Imaginäres zur Darstellung brachte.
Kein Problem für Serge Toubiana, den Leiter der Cinémathèque Française in Paris. Der ehemalige Chefkritiker der Cahiers du Cinéma und Truffaut-Biograph hielt zum Auftakt der Retrospektive im
Münchner Filmmuseum einen Vortrag, in dem er den Menschen in seinem Werk wiederfand – und es auf wenige Grundthemen runterbrach.
Zwischen Schüchternheit und Obsession bewege sich demnach Truffaut. Als einer der populärsten Regisseure der Nouvelle Vague kam ihm dabei die Rolle des Außenseiters zu – wenn man die Perspektive des Intellektuellen-Kaders der Cahiers du Cinéma einnimmt. Die Regiekollegen Truffauts sowie die Filmkritiker orientierten sich in den 1970er Jahren zunehmend politisch-maoistisch, erinnert sich Toubiana. Das wichtige politische Dreigestirn wurde damals gebildet von Serge Daney, Jean Narboni und Jean-Louis Comolli, die die maoistische Ausrichtung der Cahiers vorantrieben. Truffaut, der noch unter dem Begründer André Bazin Filmkritiker der ersten Stunde bei den Cahiers du Cinéma gewesen war, hatte kein Verständnis für die politische Ausrichtung, erzählt Toubiana, der selbst 1973, zusammen mit Serge Daney, Chefredakteur bei den Cahiers wurde.
Toubiana war einer der wenigen in dem politisierten Heft, der sich für die Filme von Truffaut einsetzte: »Ich musste meine Kollegen erst davon überzeugen, dass Truffaut ein wichtiger Filmemacher war.« Es kam zu einem ganztägigen Interview, zu dem Truffaut einlud. Die Wogen waren danach zwar auf persönlicher Ebene geglättet, nicht jedoch auf ästhetisch-inhaltlicher. »Truffaut hatte wenig gute Worte für Godard übrig«, resümiert Toubiana seine Erinnerung an das Gespräch. Jean-Luc Godard wiederum soll die Filme Truffauts als »cinéma de petit bourgeois« apostrophiert und damit in jenen Negativhorizont des Kinos der kleinbürgerlichen Werte eingereiht haben, gegen das sich die Nouvelle Vague stellte.
Die Polarität zwischen den Erzählungen Truffauts und den Dekonstruktionen Godards beschreibt Toubiana so: »Truffaut mag seine Figuren und Erzählungen. Godard tut dies nicht, er zerstört die Geschichten.« Truffaut wurde bald auch international populär und spielte u.a. bei Steven Spielbergs Unheimliche Begegnung der dritten Art mit – als er selbst. Seine Person sei zur Gänze im Kino aufgegangen, so Toubiana, und er verweist auf das berühmte Truffaut-Zitat: »Kino ist wichtiger als das Leben.« Das Archiv, das die Witwe Madelaine Morgenstern verwaltet, erschien ihm bei seinem Besuch als Mausoleum, in dem von Grundschulheften über jede noch so kleine Notiz der ganze Truffaut aufzufinden sei – eine Art Museum der Unschuld, das das Werden und Leben eines Filmmachers konserviert. Über das Archiv hat Toubiana einen Dokumentarfilm gemacht, François Truffaut – Portraits volés, das in der Filmmuseums-Retrospektive allerdings nicht enthalten ist.
Truffaut war kein Politregisseur, das ist sicher, und viele seiner Filme ähneln sich. Er machte auch Filme, die das Mann-Frau-Verhältnis unter noch bürgerlichen Gesichtspunkten ins Zentrum stellen: Der Mann durfte schwach sein, die Frau stark, Emanzipationsbewegung und freie Liebe wurden gerade erst erforscht. »Die Mutter«, weiß Toubiana, »ist die erste Frau, die man kennt. Wenn man über eine beliebige Frau spricht, spricht man immer auch über sie.« Das Frauenbild, das man in sich trägt, sei daher immer auf diese Urfrau zurückzuführen. L’homme qui aimait les femmes (1977) führt dies in exemplarischer Reinform vor. In serieller Weise versucht hier Frauenheld Bertrand, Substitute für die Frau, die sich ihm immer entzogen hat – seine Mutter – zu finden. Erkennbar ist hier auch, wie Truffaut seine Figuren in einen vergleichsweise bürgerlichen Wertekosmos einlässt, in welchem die Fetischisierung des weiblichen Körpers in einer braven Enthüllungsfantasie kulminiert: Ein Frauenkörper wird in einer langwierigen Prozedur aus einem Kleid mit über hundert Knöpfen geborgen. – Señor Buñuel, wie hätten Sie das gemacht?
Truffaut war ein Autodidakt und sehr schlecht in der Schule, wie Toubiana in Erinnerung ruft. Die Erzählung über seine erdrückende vater- und auch mutterlose Kindheit (Truffaut wuchs zunächst bei seinen Großeltern auf) wurde zu seinem filmischen Debüt. Les quatre cents coups (Sie küßten und sie schlugen ihn) (1959) schlug in Cannes, wo er den Regiepreis erhielt, wie ein Blitz ein und markiert den Beginn der Nouvelle Vague. Er schuf darin die Figur Antoine Doinel als sein Alter Ego und machte den erst 14jährigen Jean-Pierre Léaud bekannt, der der Schauspieler der Nouvelle Vague wurde und gleichermaßen bei François Truffaut, Jacques Rivette und Jean-Luc Godard, aber auch bei hierzulande unbekannteren Autoren wie Guy Gilles spielte. Antoine Doinel ist zwanzig Jahre lang Protagonist in Truffauts (fiktionalisierter) Autobiographie, die er als großen Antoine-Doinel-Zyklus mit vier Langfilmen und einem Kurzfilm schuf. In der chronologisch angeordneten Filmmuseums-Retrospektive verteilt sich der Zyklus entsprechend. (Am 12.01. ist nochmals Les quatre cents coups zu sehen, gefolgt von Antoine et Colette (kurz, 1962) und Baisers volés (Geraubte Küsse) (1968) am 27. und 29.01., Domicile conjugal (Tisch und Bett) (1970) am 5. und 10.02. und schliesslich L’amour en fuite (Liebe auf der Flucht) (1979) am 21.02.)
Truffaut, erinnert Toubiana, verehrte Jean Renoir, Alfred Hitchcock, Ernst Lubitsch, Roberto Rossellini, Sacha Guitry und Orson Welles. Mit seiner Arbeit als Cineast wollte er immer auch den großen Namen huldigen. Acht Jahre war er bei den Cahiers du Cinéma als Filmkritiker tätig, André Bazin, der sie 1951 begründete, lernte er im Alter von fünfzehn Jahren kennen – Bazin verstarb dann ein Jahr vor Truffauts Durchbruch als Regisseur. Die Filmmuseums-Retrospektive ehrt Truffaut auch als Kritiker durch die Integration einer Vielzahl an Filmen anderer Regisseure, mit denen er sich schreibend auseinandersetzte. Darunter sind neben den bereits Genannten Filme von Fritz Lang, Jean Vigo, Ingmar Bergman oder Jacques Becker zu sehen.
Truffaut, der Autodidakt, prägte die unabhängige, nur dem Akt der Kreation verpflichtete politique des auteurs, die er bereits in den historischen Regiegrößen erkannte, obgleich diese meist noch in die Studiosysteme eingebunden waren. 1957 gründete er die nach Jean Renoirs Le carrosse d’or benannte Produktionsfirma Les films du Carrosse, unter der seine Filme entstanden – ein Garant für die kreative Freiheit. Das Manifest des Autorenfilms, mit dem sich bis heute die Erwartungen an das französische Filmschaffen verbinden, wurde sein bahnbrechendes Essay »Une certaine tendance du cinéma français« (»Eine gewisse Tendenz im französischen Film«), das er im Januar 1954 in den Cahiers du Cinéma veröffentlichte.
Fetisch, Liebe, Tod – dies sind nach Toubiana drei Grundthemen, die sich in Truffauts rund zwanzig Langfilmen wiederfinden lassen. »Jeder Film bezieht sich darauf«, betonte Serge Toubiana in seinem Vortrag. Auch der biographische Truffaut sei in jedem seiner Filme zu finden. In La chambre verte (Das grüne Zimmer) (1978) inszeniert Truffaut einen »seltsamen Fetischismus« (Toubiana) und übernimmt selbst die Hauptrolle, in Les deux anglaises et le continent (Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent) (1971) spricht er persönlich den Kommentar aus dem Off – was Dominik Graf 2014 zu seinem freien Remake Die geliebten Schwestern verleitet haben mag, wo er ebenfalls mit leicht zerstreuter Essayistenstimme den Kommentator aus dem Off gibt.
Die nach bestimmten Regeln ablaufende ritualisierte Liebe kann in dieser Dreiecksgeschichte, mehr noch in dem berühmten Jules et Jim (1962) entdeckt werden, beides Filme nach Romanen von Henri-Pierre Roché. Auch der Fetisch birgt Rituale, die sich als kinematographisches Ritual wiederkehrender Einstellungen durch das Werk von Truffaut ziehen. Besonders die Frauenbeine haben es ihm angetan. L’homme qui aimait les femmes gründet regelrecht auf dieser Obsession des männlichen Blickes auf die Frau, und in Vivement dimanche! (Auf Liebe und Tod) (1983), ein Jahr vor seinem frühen Tod entstanden, gibt Truffaut noch einmal unverholen dem Fetischismus nach, und lässt die Beine von Fanny Ardant, seiner Geliebten, vor einem Guckfenster hin- und hergehen.
Der Tod, der immer in Truffauts Filmen vorkommt, ist das Wesen der romantischen Liebe selbst, so Toubiana: »Wenn man jemanden auf romantische Weise liebt, muss man bis zum Limit gehen und sogar darüber hinaus«, erklärt er. Dabei ist die romantische Liebe bei Truffaut immer auch auf den Film und das Kino bezogen. Denn, so Toubiana: »Truffaut musste ein anderes Kino finden, und eine andere Art zu lieben.«
Seine Liebe und sein Leben, das war das Kino selbst.
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»Die Schule des Lebens – François Truffaut«. Retrospektive im Filmmuseum München. Bis 28.02.2016. Filmmuseum München, St.-Jakobs-Platz 1, 80333 München. Kartenreservierung: 089 / 233 96 450.