Wirklichkeitshunger |
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Cineastischer Höhepunkt der Lafita: Cocote | ||
(Foto: Nelson Carlo de los Santos Arias / Lafita München) |
Die lateinamerikanischen Filmtage präsentieren sich mit neuem Kürzel (Lafita) und neuem Team (Sergej Gordon, Sven Pötting), aber immer noch mit so viel Engagement und Begeisterung für das lateinamerikanische Kino wie eh und je.
Für ihre Auswahl an lateinamerikanischen Filmen aus den letzten Jahren berufen sich Gordon und Pötting programmatisch auf die von Glauber Rocha im Jahr 1965 postulierte »Ästhetik des Hungers«. Die in diesem Jahr gezeigten Filme entwickeln tatsächlich einen vehementen Wirklichkeitshunger, bei dem klar wird, wie sehr drängende soziale und politische Fragen auch heute noch aktuell sind. Den Schwerpunkt verlegen sie dabei dieses Jahr in den karibischen Raum.
Mit dem Eröffnungsfilm aus Kuba erfolgt zunächst ein Blick in die jüngere Vergangenheit und ihre politischen Irrungen. Santa y Andrés (2016) (Do 19:00 / So 21:30) von Carlos Lechuga erzählt von einem konkreten Fall politischer Verfolgung aus dem Jahr 1983. Der schwule Schriftsteller Andrés lebt verbannt in einem abgelegenen Dorf und wird vom Castro-Regime unter verschärften Hausarrest gestellt. Die noch an die Ideale der Revolution glaubende junge Bauersfrau Santa wird abkommandiert, um das Schreibverbot und die Ausgangssperre des in Ungnade gefallenen Intellektuellen vor Ort leibhaftig zu überwachen. Anhand dieser prägnanten Konstellation zeigt Lechuga auf exemplarische Weise auf, wie Zensur und Schreibverbot von engstirnigen Parteiknechten in der abgelegenen Provinz bis zur Demütigung exekutiert wird. Das ist engagiertes kritisches Kino, das mit Anleihen beim Melodram arbeitet und ideologische Konflikte mit Herzensangelegenheiten konfrontiert: linientreue Parteigängerin verliebt sich aussichtslos in schwulen Dissidenten. Lechuga versteht es, bei allem gebotenen Respekt für die Ernsthaftigkeit der Thematik das komisch-groteske Potential der Konstellation nicht aus den Augen zu verlieren.
Die Aufmerksamkeit für soziale Belange und konkrete Wirklichkeiten ist vor allem an einer dokumentarischen Ästhetik der Filme im Programm erkennbar. Das betrifft nicht nur die Dokumentarfilme im eigentlichen Sinne wie Casa Blanca (Fr 19:00) der aus Polen stammenden Regisseurin Aleksandra Maciuszek und Cantos (Sa 19:30) des Schweizers Charlie Petersmann oder den chilenisch-haitianischen Dokumentarfilm Petit Frère (Do 21:30 / So 17:30). Auch der kubanische Spielfilm Venecia von Kiki Álvarez (Sa 17:30 / So 22:00) zeigt sich von einem dokumentarischen Drive inspiriert. In dem ersten kubanischen Film, der durch Crowdfunding finanziert wurde, folgt man drei Freundinnen, die in einem Schönheitssalon arbeiten, dabei, wie sie ihren Monatslohn in einer exzessiven Ausgehnacht in Havanna durchbringen und sich von einer improvisiert wirkenden Dynamik treiben lassen. Ihre unerfüllten Sehnsüchte gelten indes dem fernen Venedig.
Mit zwei bemerkenswerten Spielfilmen dicht an der Realität werden zudem zwei Länder aus Mittelamerika präsentiert, die kinematographisch ganz selten vertreten sind, nämlich Puerto Rico und die Dominikanische Republik.
Im Mittelpunkt des Films El silencio del viento von Álvaro Aponte-Centeno (Fr 21:00, der Regisseur ist zu Gast) steht Rafael, der innerhalb eines Schleusernetzwerks auf Puerto Rico Flüchtlinge und Migranten vorübergehend in einem Versteck unterbringt und versorgt, bis sie auf ihrer Route in die Staaten weitervermittelt werden.
In einer geduldig beobachtenden Erzählweise werden die alltäglichen Tätigkeiten um dieses illegale Geschäft geschildert, die immer wieder an die klandestinen Operationen aus Thrillern erinnern und so ein zwischen den Genres schillerndes Zwielicht erzeugen. Rafaels private Probleme, unter anderem mit seiner heranwachsenden Tochter, erreichen einen Kulminationspunkt, als seine mit ihm zusammenarbeitende Schwester Carmen einem grausamen Verbrechen zum Opfer fällt.
Aponte-Centeno riskiert in seinem ersten Langfilm sehr viel, wenn er am Ende in einer kameratechnisch radikalen und gewagten Szene auf dem von Rafael gesteuerten Flüchtlingsboot die Spannung schier unerträglich macht. Ob es ihm dabei gelingt, eine Balance zwischen dem existentiellen Drama der Flüchtlinge und den beklemmenden Nöten Rafaels zu wahren, wird den Zuschauer nach dem Film sicherlich noch länger beschäftigen.
Cocote (So 19:30 / Mo 19:30 Closing Night im Instituto Cervantes) von Nelson Carlo de los Santos Arias spielt in der Dominikanischen Republik und folgt dem Protagonisten Alberto aus der Hauptstadt Santo Domingo in sein Heimatdorf, wo die Beerdigung und die Rächung seines ermordeten Vaters anstehen.
Nicht mehr so sperrig wie de los Santos Arias' experimenteller Filmessay Santa Teresa y otras historias (2015), lässt sein zweiter erzählender Langfilm Cocote zwar immer noch eine sehr eigenwillige Handschrift erkennen, stellt die stilistischen Mittel jedoch wirkungsvoll in den Dienst der fiebrigen und treibenden Handlung. Immer wieder werden in den hauptsächlich auf 35mm gedrehten Film Schwarz-Weiß-Passagen oder Fragmente von Videomaterial eingefügt, in denen insbesondere die religiösen Rituale für heftige Eruptionen sorgen. Alberto, der eigentlich dem friedlichen Beruf eines Gärtners nachgeht und sich von den religiösen Riten seiner Vorfahren ab- und evangelikalen Bewegungen zugewandt hat, sieht sich mit einer Atmosphäre der Ekstase konfrontiert, die zu extremen Affekten und Gewaltausbrüchen führt. Das Wort »cocote« des Titels, so der Regisseur in einem Interview, sei die dominikanische Variante des spanischen Wortes »cogote«, damit bezeichne man bei einem Tier den Nacken, auf den gleich der todbringende Hieb niedersausen würde. De los Santos Arias' wilder Mix aus Ethnographie und Rachedrama kann getrost als ziemlich einzigartiger Film bezeichnet werden und dürfte den cineastischen Höhepunkt der diesjährigen lateinamerikanischen Filmtage darstellen.