29.11.2018

Wirklichkeitshunger

Cocote
Cineastischer Höhepunkt der Lafita: Cocote
(Foto: Nelson Carlo de los Santos Arias / Lafita München)

Lafita: Die Lateinamerikanischen Filmtage in München zeigen Dokumentarisches und Fiktionen aus der Karibik

Von Wolfgang Lasinger

Die latein­ame­ri­ka­ni­schen Filmtage präsen­tieren sich mit neuem Kürzel (Lafita) und neuem Team (Sergej Gordon, Sven Pötting), aber immer noch mit so viel Enga­ge­ment und Begeis­te­rung für das latein­ame­ri­ka­ni­sche Kino wie eh und je.

Für ihre Auswahl an latein­ame­ri­ka­ni­schen Filmen aus den letzten Jahren berufen sich Gordon und Pötting program­ma­tisch auf die von Glauber Rocha im Jahr 1965 postu­lierte »Ästhetik des Hungers«. Die in diesem Jahr gezeigten Filme entwi­ckeln tatsäch­lich einen vehe­menten Wirk­lich­keits­hunger, bei dem klar wird, wie sehr drängende soziale und poli­ti­sche Fragen auch heute noch aktuell sind. Den Schwer­punkt verlegen sie dabei dieses Jahr in den kari­bi­schen Raum.

Mit dem Eröff­nungs­film aus Kuba erfolgt zunächst ein Blick in die jüngere Vergan­gen­heit und ihre poli­ti­schen Irrungen. Santa y Andrés (2016) (Do 19:00 / So 21:30) von Carlos Lechuga erzählt von einem konkreten Fall poli­ti­scher Verfol­gung aus dem Jahr 1983. Der schwule Schrift­steller Andrés lebt verbannt in einem abge­le­genen Dorf und wird vom Castro-Regime unter verschärften Haus­ar­rest gestellt. Die noch an die Ideale der Revo­lu­tion glaubende junge Bauers­frau Santa wird abkom­man­diert, um das Schreib­verbot und die Ausgangs­sperre des in Ungnade gefal­lenen Intel­lek­tu­ellen vor Ort leib­haftig zu über­wa­chen. Anhand dieser prägnanten Konstel­la­tion zeigt Lechuga auf exem­pla­ri­sche Weise auf, wie Zensur und Schreib­verbot von engstir­nigen Partei­knechten in der abge­le­genen Provinz bis zur Demü­ti­gung exeku­tiert wird. Das ist enga­giertes kriti­sches Kino, das mit Anleihen beim Melodram arbeitet und ideo­lo­gi­sche Konflikte mit Herzens­an­ge­le­gen­heiten konfron­tiert: lini­en­treue Partei­gän­gerin verliebt sich aussichtslos in schwulen Dissi­denten. Lechuga versteht es, bei allem gebotenen Respekt für die Ernst­haf­tig­keit der Thematik das komisch-groteske Potential der Konstel­la­tion nicht aus den Augen zu verlieren.

Die Aufmerk­sam­keit für soziale Belange und konkrete Wirk­lich­keiten ist vor allem an einer doku­men­ta­ri­schen Ästhetik der Filme im Programm erkennbar. Das betrifft nicht nur die Doku­men­tar­filme im eigent­li­chen Sinne wie Casa Blanca (Fr 19:00) der aus Polen stam­menden Regis­seurin Alek­sandra Maciuszek und Cantos (Sa 19:30) des Schwei­zers Charlie Peters­mann oder den chile­nisch-haitia­ni­schen Doku­men­tar­film Petit Frère (Do 21:30 / So 17:30). Auch der kuba­ni­sche Spielfilm Venecia von Kiki Álvarez (Sa 17:30 / So 22:00) zeigt sich von einem doku­men­ta­ri­schen Drive inspi­riert. In dem ersten kuba­ni­schen Film, der durch Crowd­fun­ding finan­ziert wurde, folgt man drei Freun­dinnen, die in einem Schön­heits­salon arbeiten, dabei, wie sie ihren Monats­lohn in einer exzes­siven Ausgeh­nacht in Havanna durch­bringen und sich von einer impro­vi­siert wirkenden Dynamik treiben lassen. Ihre uner­füllten Sehn­süchte gelten indes dem fernen Venedig.

Mit zwei bemer­kens­werten Spiel­filmen dicht an der Realität werden zudem zwei Länder aus Mittel­ame­rika präsen­tiert, die kine­ma­to­gra­phisch ganz selten vertreten sind, nämlich Puerto Rico und die Domi­ni­ka­ni­sche Republik.

Im Mittel­punkt des Films El silencio del viento von Álvaro Aponte-Centeno (Fr 21:00, der Regisseur ist zu Gast) steht Rafael, der innerhalb eines Schleu­ser­netz­werks auf Puerto Rico Flücht­linge und Migranten vorü­ber­ge­hend in einem Versteck unter­bringt und versorgt, bis sie auf ihrer Route in die Staaten weiter­ver­mit­telt werden.

In einer geduldig beob­ach­tenden Erzähl­weise werden die alltäg­li­chen Tätig­keiten um dieses illegale Geschäft geschil­dert, die immer wieder an die klan­des­tinen Opera­tionen aus Thrillern erinnern und so ein zwischen den Genres schil­lerndes Zwielicht erzeugen. Rafaels private Probleme, unter anderem mit seiner heran­wach­senden Tochter, erreichen einen Kulmi­na­ti­ons­punkt, als seine mit ihm zusam­men­ar­bei­tende Schwester Carmen einem grausamen Verbre­chen zum Opfer fällt.

Aponte-Centeno riskiert in seinem ersten Langfilm sehr viel, wenn er am Ende in einer kame­ra­tech­nisch radikalen und gewagten Szene auf dem von Rafael gesteu­erten Flücht­lings­boot die Spannung schier uner­träg­lich macht. Ob es ihm dabei gelingt, eine Balance zwischen dem exis­ten­ti­ellen Drama der Flücht­linge und den beklem­menden Nöten Rafaels zu wahren, wird den Zuschauer nach dem Film sicher­lich noch länger beschäf­tigen.

Cocote (So 19:30 / Mo 19:30 Closing Night im Instituto Cervantes) von Nelson Carlo de los Santos Arias spielt in der Domi­ni­ka­ni­schen Republik und folgt dem Prot­ago­nisten Alberto aus der Haupt­stadt Santo Domingo in sein Heimat­dorf, wo die Beer­di­gung und die Rächung seines ermor­deten Vaters anstehen.

Nicht mehr so sperrig wie de los Santos Arias' expe­ri­men­teller Filmessay Santa Teresa y otras historias (2015), lässt sein zweiter erzäh­lender Langfilm Cocote zwar immer noch eine sehr eigen­wil­lige Hand­schrift erkennen, stellt die stilis­ti­schen Mittel jedoch wirkungs­voll in den Dienst der fiebrigen und trei­benden Handlung. Immer wieder werden in den haupt­säch­lich auf 35mm gedrehten Film Schwarz-Weiß-Passagen oder Fragmente von Video­ma­te­rial eingefügt, in denen insbe­son­dere die reli­giösen Rituale für heftige Erup­tionen sorgen. Alberto, der eigent­lich dem fried­li­chen Beruf eines Gärtners nachgeht und sich von den reli­giösen Riten seiner Vorfahren ab- und evan­ge­li­kalen Bewe­gungen zugewandt hat, sieht sich mit einer Atmo­sphäre der Ekstase konfron­tiert, die zu extremen Affekten und Gewalt­aus­brüchen führt. Das Wort »cocote« des Titels, so der Regisseur in einem Interview, sei die domi­ni­ka­ni­sche Variante des spani­schen Wortes »cogote«, damit bezeichne man bei einem Tier den Nacken, auf den gleich der todbrin­gende Hieb nieder­sausen würde. De los Santos Arias' wilder Mix aus Ethno­gra­phie und Rache­drama kann getrost als ziemlich einzig­ar­tiger Film bezeichnet werden und dürfte den cine­as­ti­schen Höhepunkt der dies­jäh­rigen latein­ame­ri­ka­ni­schen Filmtage darstellen.