DOK.fest 2019: Höher, schneller, weiter |
||
Kinder und deren Sicht auf die Welt: Gods of Molenbeek |
Von Ingrid Weidner
Daniel Sponsel liebt Superlative. Und Zahlen. 159 Filme aus 51 Ländern, 475 Filmvorführungen, 24 Veranstaltungen, 271 Gäste aus aller Welt – damit will er beim diesjährigen Festival 50.000 Besucherinnen und Besucher gewinnen. Im vergangenen Jahr sei es im Mai zu heiß gewesen, klagt er, um einen neuen Rekord aufzustellen. Auch zur Pressekonferenz an einem sommerlich warmen Apriltag sieht es ganz so aus, als ob auch in diesem Jahr der Sommer schon im Mai beginnt.
Doch wichtiger als ein ängstlicher Blick auf das Thermometer ist einer in das diesjährige Programmheft. Das bereits angebrochene Anthropozän, in dem die von Menschen verursachten Veränderungen in Natur und Umwelt das Gesicht der Erde gravierend verändern, beschäftigt auch die Dokumentarfilmer. Klima und Wandel greifen eine ganze Reihe von Filmen auf, auch The Whale and the Raven von Mirjam Leuze, der das Festival eröffnet. Die Regisseurin fand ihr Thema fast zufällig. Als sie und ein paar Freunde im Juni 2002 auf einer unbewohnten Insel vor der Westküste Kanadas mithalfen, ein kleines Wohnhaus neben einer Walforschungsstation zu erbauen, veränderte ein Erlebnis ihr Leben. »Eines Abends, es war schon fast dunkel, saß ich auf einem Felsvorsprung und schaute aufs Meer. Außer dem rhythmischen Branden der Wellen ans Ufer war es still. Plötzlich hörte ich ein gewaltiges Atmen und nur zehn Meter von mir entfernt tauchte der Kopf eines Buckelwals aus dem Wasser. Ein so großes Tier aus der unmittelbaren Nähe zu erleben, war eine Erfahrung, die mich sehr demütig gemacht hat. Es mag kitschig klingen, aber diese erste Begegnung mit einem Buckelwal hat mein Leben verändert«, sagt Mirjam Leuze. 2016 reiste sie erneut nach Kanada, um die beiden Walforscher sowie das Engagement der indigenen Bewohner zu porträtieren, die sich gegen eine Zerstörung dieses Ökosystems engagieren. Riesige Tanker sollen Flüssiggas nach China transportieren und ihre Route führt direkt durch das Rückzugsgebiet der Wale.
DOK.international lädt zu einer Reise um die Welt ein und leuchtet auch die Ecken aus, in die sonst wenig Licht fällt. In Isis, Tomorrow. The Lost Soul of Mosul dreht sich alles um die Kinder, die in der umkämpften Stadt Mosul in den Kriegsruinen leben und nach Verwertbarem suchen. Wie sich die Grausamkeiten des Krieges in ihre Seelen gefressen haben, lassen ihre Blicke erahnen. Im Film von Francesca Mannocchi und Alessio Romenzi kommen sie auch zu Wort. Sie wollen Rache üben für das erfahrene Leid, das ihnen und ihren Familien angetan wurde. »Das Erbe des Krieges liegt auf den Schultern der Kinder«, sagt Francesca Mannocchi, und fügt hinzu: »Sie sind Opfer und müssen für die Sünden ihrer Väter bezahlen.« Ihren Film versteht sie als Appell, diese Kinder nicht zu vergessen, denn deren Traumata könnten das Fundament für den nächsten Krieg sein. In Gods of Molenbeek rückt Reetta Huhtanen ebenfalls Kinder und deren Sicht auf die Welt in den Mittelpunkt. In Molenbeek, einem Stadtteil von Brüssel, das durch die Terroranschläge in der belgischen Hauptstadt und Paris zu einer gewissen Berühmtheit gelangte, lässt Huhtanen in ihrem Debütfilm die beiden Freunde Amine und Aatos über Gott und ihr Leben sprechen. Sie beobachtet deren Spiel mit der Kamera. Aus deren Perspektive betrachtet, gewinnen auch die Zuschauer eine neue Sicht auf die großen Zusammenhänge des Lebens und unsere Gegenwart.
Als Verbündete des Teufels wird dagegen Lea Tsemel beschimpft, denn die israelische Menschenrechtsanwältin verteidigt palästinensische Straftäter vor Gericht. Die Regisseurin Rachel Leah Jones, aufgewachsen in Berkeley und Tel Aviv, porträtiert die mutige Anwältin in Advocate, die nichts auf die Beschimpfungen gibt und sich selbst als „die Anwältin, die immer verliert“, bezeichnet. Der Dokumentarfilm begleitet die Anwältin in zwei aktuellen Fällen und montiert Archivaufnahmen der streitbaren Frau in die Dokumentation, um etwas über Leben und Motivation von Lea Tsemel zu erfahren.
Ganz andere Probleme plagen die Angestellten des Teatro Municipal von Rio de Janeiro, das als Opern-Juwel des Landes gilt. Doch die Stadt ist bankrott und kann die Gehälter der Tänzer, Musiker, Bühnenarbeiter oder Platzanweiser nicht mehr bezahlen, alle müssen auf ihren Lohn verzichten. Regisseur Vincent Rimbaux, in Frankreich geboren und am Institut International de l’Image et du Son Paris ausgebildet, lebt und arbeitet seit 2003 in Brasilien. Er fängt in Ressaca, wörtlich übersetzt Katzenjammer, das Drama und die Magie des Theaters und dessen Künstler in eindrucksvollen Schwarz-weiß-Bildern ein.
DOK.gast ist in diesem Jahr Russland. Sechs Dokumentarfilme zeigen ein vielfältiges, fremdes und für viele im Westen immer noch unbekanntes Land. So geht es aber anscheinend auch einigen russischen Regisseuren, die sich deshalb selbst auf den Weg an die Ränder ihres eigenen Landes machten. Rodion Ismailov, 1966 in der ehemaligen sowjetischen Republik Aserbaichan geboren, nimmt die transsibirische Eisenbahn. Doch nicht ein komfortables Touristenticket, sondern er reist
mit seinem Team 16 Tage in der dritten Klasse. In Third-Class Travel trifft er Menschen, die über ihre Träume, Wünsche, Privates und die große Politik sprechen. Während draußen die Temperaturen auf minus 40 Grad sinken, wird drinnen geredet, gelacht, geweint und gefeiert.
Auch der erfolglose Schauspieler Alexei macht sich auf die Reise. Ein befreundeter Regisseur lädt ihn nach Jakutien ein,
eine abgelegene Republik im nordöstlichen Teil des asiatischen Teils Russlands, um dort einen Film zu drehen. Doch schnell merkt Alexei, dass dort alles etwas anders läuft als in Moskau. Seinen Regisseur muss Alexei suchen, indem er durch Wälder und Schneefelder streift und die mystische Kultur der Jakuten kennenlernt. Entstanden ist das Roadmovie Exciting Life, basierend auf wahren Begebenheiten. Die Regisseurin Anna Yanovkaya reist nach München zum
Publikumsgespräch. Spannend wäre auch die Frage, weshalb sie ihren Film als Dokumentarfilm einsortiert. Diana, Lida und Vika besuchen die School of Seduction. Dort bringen ihnen Männer altbackene Tricks bei, die ihnen helfen sollen, den gesellschaftlichen Aufstieg durch eine Heirat zu schaffen. Statt Bücher zu lesen, balancieren sie damit. Regisseurin Alina Rudnitskaya, 1976 in Murmansk, Russland, geboren, kommt den drei Protagonistinnen ziemlich nahe
und hinterfragt deren reaktionäres Selbstbild.
DOK.focus humaNature zeigt acht Dokumentarfilme, die sich mit der Beziehung von Mensch und Natur beschäftigt. Es geht weniger um Naturromantik, sondern um die menschengemachte Zerstörung unseres Planeten. In Anthropocene: The Human Epoch erzählen Jennifer Baichwal und Nicholas De Pencier bildgewaltig von der Schönheit der Erde und vom Raubbau an unserer Lebenswelt. Städte und Straßen überwuchern immer größere Flächen, riesige Schaufelradbagger graben ganze Landschaften in unbewohnbare Mondlandschaften um. Doch nicht nur in Brasilien oder Asien verschwinden Regenwälder unter Betondecken oder Palmölplantagen, auch hierzulande werden ganze Landstriche verwüstet. Karin de Miguel Wessendorf begann 2015 in den Dörfern um den Hambacher Forst zu filmen. Die Regisseurin arbeitet häufig mit dem WDR zusammen, doch diese Reportage über den Bergbau und die Auswirkungen auf die Menschen der Region interessierte anfangs niemand. Doch Karin de Miguel Wessendorf reiste mit ihrem Team immer wieder dorthin, traf Aktionisten und Dorfbewohner, denen die Zerstörung nicht gleichgültig war. Aus dem ursprünglichen Titel „Heimatfresser“ wurde Die Rote Linie – Widerstand im Hambacher Forst. Inzwischen schaffte es der Widerstand auch in die überregionalen Nachrichten. Doch der Energiekonzern RWE zeigt sich weiterhin uneinsichtig und pocht darauf, dort Braunkohle abzubauen.
DOK.retrospektive widmet sich in diesem Jahr dem Werk von Heddy Honigmann. Die in Peru geborene Regisseurin verließ das Land mit Anfang 20 und nach Stationen in Mexiko, Spanien und Israel ging sie nach Rom, um am renommierten Centro Sperimentale di Cinematografia Film zu studieren. 1978 zog sie nach Amsterdam und lebt seitdem in den Niederlanden. Ihre Werke sind vielfach preisgekrönt, sie wurde als zweite Filmemacherin vom wichtigsten europäischen Dokumentarfilmfestival IDFA in Amsterdam mit dem „Living Legend Award“ ausgezeichnet und das MoMA in New York widmete ihr eine Werkschau. »Heddy Honigmanns Blick ist ein zutiefst humanistischer: Sie feiert das harte Leben in all seiner Schönheit«, schreiben Julia Teichmann und Jan Sebening über die Retroperspektive. Im Filmmuseum ist neben dem neuesten Dokumentarfilm Buddy (2018) auch Oblivion (2008), Forever (2006), Crazy (1999), Metal and Melancholy (1993) sowie The Underground Orchestra (1997) zu sehen.
Übrigens versprechen die Wetterprognosen für die nächsten Tage bestes Kinowetter – Temperaturen um die 20 Grad, etwas Sonne, dazwischen immer wieder Regen.
Das DOK.fest findet vom 8. bis 19. Mai 2019 an 20 unterschiedlichen Spielorten statt und ist eine Veranstaltung der Filmstadt München e.V. und wird u.a. gefördert vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München.
as vollständige Programm und alle Informationen zu Anfangszeiten, Events, Tickets Diskussionen und Partys finden Interessierte unter https://www.dokfest-muenchen.de/