09.05.2019

DOK.fest 2019: Höher, schneller, weiter

GODS OF MOLENBEEK
Kinder und deren Sicht auf die Welt: Gods of Molenbeek

Das 34. Internationale Dokumentarfilmfestival München zeigt vom 8. bis 19. Mai 2019 insgesamt 159 Filme aus 51 Ländern an 20 Spielorten. Wenn das Wetter mitspielt, soll das Programm in diesem Jahr 50.000 Besucherinnen und Besucher anlocken.

Von Ingrid Weidner

Daniel Sponsel liebt Super­la­tive. Und Zahlen. 159 Filme aus 51 Ländern, 475 Film­vor­füh­rungen, 24 Veran­stal­tungen, 271 Gäste aus aller Welt – damit will er beim dies­jäh­rigen Festival 50.000 Besu­che­rinnen und Besucher gewinnen. Im vergan­genen Jahr sei es im Mai zu heiß gewesen, klagt er, um einen neuen Rekord aufzu­stellen. Auch zur Pres­se­kon­fe­renz an einem sommer­lich warmen Apriltag sieht es ganz so aus, als ob auch in diesem Jahr der Sommer schon im Mai beginnt.

Doch wichtiger als ein ängst­li­cher Blick auf das Ther­mo­meter ist einer in das dies­jäh­rige Programm­heft. Das bereits ange­bro­chene Anthro­pozän, in dem die von Menschen verur­sachten Verän­de­rungen in Natur und Umwelt das Gesicht der Erde gravie­rend verändern, beschäf­tigt auch die Doku­men­tar­filmer. Klima und Wandel greifen eine ganze Reihe von Filmen auf, auch The Whale and the Raven von Mirjam Leuze, der das Festival eröffnet. Die Regis­seurin fand ihr Thema fast zufällig. Als sie und ein paar Freunde im Juni 2002 auf einer unbe­wohnten Insel vor der Westküste Kanadas mithalfen, ein kleines Wohnhaus neben einer Walfor­schungs­sta­tion zu erbauen, verän­derte ein Erlebnis ihr Leben. »Eines Abends, es war schon fast dunkel, saß ich auf einem Fels­vor­sprung und schaute aufs Meer. Außer dem rhyth­mi­schen Branden der Wellen ans Ufer war es still. Plötzlich hörte ich ein gewal­tiges Atmen und nur zehn Meter von mir entfernt tauchte der Kopf eines Buckel­wals aus dem Wasser. Ein so großes Tier aus der unmit­tel­baren Nähe zu erleben, war eine Erfahrung, die mich sehr demütig gemacht hat. Es mag kitschig klingen, aber diese erste Begegnung mit einem Buckelwal hat mein Leben verändert«, sagt Mirjam Leuze. 2016 reiste sie erneut nach Kanada, um die beiden Walfor­scher sowie das Enga­ge­ment der indigenen Bewohner zu porträ­tieren, die sich gegen eine Zers­tö­rung dieses Ökosys­tems enga­gieren. Riesige Tanker sollen Flüs­siggas nach China trans­por­tieren und ihre Route führt direkt durch das Rück­zugs­ge­biet der Wale.

DOK.inter­na­tional lädt zu einer Reise um die Welt ein und leuchtet auch die Ecken aus, in die sonst wenig Licht fällt. In Isis, Tomorrow. The Lost Soul of Mosul dreht sich alles um die Kinder, die in der umkämpften Stadt Mosul in den Kriegs­ruinen leben und nach Verwert­barem suchen. Wie sich die Grau­sam­keiten des Krieges in ihre Seelen gefressen haben, lassen ihre Blicke erahnen. Im Film von Francesca Mannocchi und Alessio Romenzi kommen sie auch zu Wort. Sie wollen Rache üben für das erfahrene Leid, das ihnen und ihren Familien angetan wurde. »Das Erbe des Krieges liegt auf den Schultern der Kinder«, sagt Francesca Mannocchi, und fügt hinzu: »Sie sind Opfer und müssen für die Sünden ihrer Väter bezahlen.« Ihren Film versteht sie als Appell, diese Kinder nicht zu vergessen, denn deren Traumata könnten das Fundament für den nächsten Krieg sein. In Gods of Molenbeek rückt Reetta Huhtanen ebenfalls Kinder und deren Sicht auf die Welt in den Mittel­punkt. In Molenbeek, einem Stadtteil von Brüssel, das durch die Terror­an­schläge in der belgi­schen Haupt­stadt und Paris zu einer gewissen Berühmt­heit gelangte, lässt Huhtanen in ihrem Debütfilm die beiden Freunde Amine und Aatos über Gott und ihr Leben sprechen. Sie beob­achtet deren Spiel mit der Kamera. Aus deren Perspek­tive betrachtet, gewinnen auch die Zuschauer eine neue Sicht auf die großen Zusam­men­hänge des Lebens und unsere Gegenwart.

Als Verbün­dete des Teufels wird dagegen Lea Tsemel beschimpft, denn die israe­li­sche Menschen­rechts­an­wältin vertei­digt paläs­ti­nen­si­sche Straf­täter vor Gericht. Die Regis­seurin Rachel Leah Jones, aufge­wachsen in Berkeley und Tel Aviv, porträ­tiert die mutige Anwältin in Advocate, die nichts auf die Beschimp­fungen gibt und sich selbst als „die Anwältin, die immer verliert“, bezeichnet. Der Doku­men­tar­film begleitet die Anwältin in zwei aktuellen Fällen und montiert Archiv­auf­nahmen der streit­baren Frau in die Doku­men­ta­tion, um etwas über Leben und Moti­va­tion von Lea Tsemel zu erfahren.

Ganz andere Probleme plagen die Ange­stellten des Teatro Municipal von Rio de Janeiro, das als Opern-Juwel des Landes gilt. Doch die Stadt ist bankrott und kann die Gehälter der Tänzer, Musiker, Bühnen­ar­beiter oder Platz­an­weiser nicht mehr bezahlen, alle müssen auf ihren Lohn verzichten. Regisseur Vincent Rimbaux, in Frank­reich geboren und am Institut Inter­na­tional de l’Image et du Son Paris ausge­bildet, lebt und arbeitet seit 2003 in Brasilien. Er fängt in Ressaca, wörtlich übersetzt Katzen­jammer, das Drama und die Magie des Theaters und dessen Künstler in eindrucks­vollen Schwarz-weiß-Bildern ein.

DOK.gast ist in diesem Jahr Russland. Sechs Doku­men­tar­filme zeigen ein viel­fäl­tiges, fremdes und für viele im Westen immer noch unbe­kanntes Land. So geht es aber anschei­nend auch einigen russi­schen Regis­seuren, die sich deshalb selbst auf den Weg an die Ränder ihres eigenen Landes machten. Rodion Ismailov, 1966 in der ehema­ligen sowje­ti­schen Republik Aser­baichan geboren, nimmt die trans­si­bi­ri­sche Eisenbahn. Doch nicht ein komfor­ta­bles Touris­tenti­cket, sondern er reist mit seinem Team 16 Tage in der dritten Klasse. In Third-Class Travel trifft er Menschen, die über ihre Träume, Wünsche, Privates und die große Politik sprechen. Während draußen die Tempe­ra­turen auf minus 40 Grad sinken, wird drinnen geredet, gelacht, geweint und gefeiert.

Auch der erfolg­lose Schau­spieler Alexei macht sich auf die Reise. Ein befreun­deter Regisseur lädt ihn nach Jakutien ein, eine abge­le­gene Republik im nordöst­li­chen Teil des asia­ti­schen Teils Russlands, um dort einen Film zu drehen. Doch schnell merkt Alexei, dass dort alles etwas anders läuft als in Moskau. Seinen Regisseur muss Alexei suchen, indem er durch Wälder und Schnee­felder streift und die mystische Kultur der Jakuten kennen­lernt. Entstanden ist das Roadmovie Exciting Life, basierend auf wahren Bege­ben­heiten. Die Regis­seurin Anna Yanovkaya reist nach München zum Publi­kums­ge­spräch. Spannend wäre auch die Frage, weshalb sie ihren Film als Doku­men­tar­film einsor­tiert. Diana, Lida und Vika besuchen die School of Seduction. Dort bringen ihnen Männer altba­ckene Tricks bei, die ihnen helfen sollen, den gesell­schaft­li­chen Aufstieg durch eine Heirat zu schaffen. Statt Bücher zu lesen, balan­cieren sie damit. Regis­seurin Alina Rudnits­kaya, 1976 in Murmansk, Russland, geboren, kommt den drei Prot­ago­nis­tinnen ziemlich nahe und hinter­fragt deren reak­ti­onäres Selbst­bild.

DOK.focus humaNa­ture zeigt acht Doku­men­tar­filme, die sich mit der Beziehung von Mensch und Natur beschäf­tigt. Es geht weniger um Natur­ro­mantik, sondern um die menschen­ge­machte Zers­tö­rung unseres Planeten. In Anthro­po­cene: The Human Epoch erzählen Jennifer Baichwal und Nicholas De Pencier bild­ge­waltig von der Schönheit der Erde und vom Raubbau an unserer Lebens­welt. Städte und Straßen über­wu­chern immer größere Flächen, riesige Schau­fel­rad­bagger graben ganze Land­schaften in unbe­wohn­bare Mond­land­schaften um. Doch nicht nur in Brasilien oder Asien verschwinden Regen­wälder unter Beton­de­cken oder Palmöl­plan­tagen, auch hier­zu­lande werden ganze Land­striche verwüstet. Karin de Miguel Wessen­dorf begann 2015 in den Dörfern um den Hambacher Forst zu filmen. Die Regis­seurin arbeitet häufig mit dem WDR zusammen, doch diese Reportage über den Bergbau und die Auswir­kungen auf die Menschen der Region inter­es­sierte anfangs niemand. Doch Karin de Miguel Wessen­dorf reiste mit ihrem Team immer wieder dorthin, traf Aktio­nisten und Dorf­be­wohner, denen die Zers­tö­rung nicht gleich­gültig war. Aus dem ursprüng­li­chen Titel „Heimat­fresser“ wurde Die Rote Linie – Wider­stand im Hambacher Forst. Inzwi­schen schaffte es der Wider­stand auch in die über­re­gio­nalen Nach­richten. Doch der Ener­gie­kon­zern RWE zeigt sich weiterhin unein­sichtig und pocht darauf, dort Braun­kohle abzubauen.

DOK.retro­spek­tive widmet sich in diesem Jahr dem Werk von Heddy Honigmann. Die in Peru geborene Regis­seurin verließ das Land mit Anfang 20 und nach Stationen in Mexiko, Spanien und Israel ging sie nach Rom, um am renom­mierten Centro Speri­men­tale di Cine­ma­to­grafia Film zu studieren. 1978 zog sie nach Amsterdam und lebt seitdem in den Nieder­landen. Ihre Werke sind vielfach preis­ge­krönt, sie wurde als zweite Filme­ma­cherin vom wich­tigsten europäi­schen Doku­men­tar­film­fes­tival IDFA in Amsterdam mit dem „Living Legend Award“ ausge­zeichnet und das MoMA in New York widmete ihr eine Werkschau. »Heddy Honig­manns Blick ist ein zutiefst huma­nis­ti­scher: Sie feiert das harte Leben in all seiner Schönheit«, schreiben Julia Teichmann und Jan Sebening über die Retro­per­spek­tive. Im Film­mu­seum ist neben dem neuesten Doku­men­tar­film Buddy (2018) auch Oblivion (2008), Forever (2006), Crazy (1999), Metal and Melan­choly (1993) sowie The Under­ground Orchestra (1997) zu sehen.

Übrigens verspre­chen die Wetter­pro­gnosen für die nächsten Tage bestes Kino­wetter – Tempe­ra­turen um die 20 Grad, etwas Sonne, dazwi­schen immer wieder Regen.

Das DOK.fest findet vom 8. bis 19. Mai 2019 an 20 unter­schied­li­chen Spiel­orten statt und ist eine Veran­stal­tung der Filmstadt München e.V. und wird u.a. gefördert vom Kultur­re­ferat der Landes­haupt­stadt München.

as voll­s­tän­dige Programm und alle Infor­ma­tionen zu Anfangs­zeiten, Events, Tickets Diskus­sionen und Partys finden Inter­es­sierte unter https://www.dokfest-muenchen.de/