Lebens-Material |
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Verlorenes Trinkparadies |
Von Dunja Bialas
Thomas Heise (*1955 in Berlin, DDR), Autor, Dokumentarfilm- und Theaterregisseur, wurde als Chronist der deutsch-deutschen Wendezeit bekannt. Unter seinen essayistischen Dokumentarfilmen finden sich Momentaufnahmen, die die kontroverse politische Stimmung des wiedervereinigten Landes einfangen (Der Imbiss 1990, Stau 1992), und große Würfe, die in einem unverwechselbaren Stil die Gegenwart mit politischen Zuständen der deutschen Geschichte (Vaterland 2002) oder die Zeitgeschichte mit dem kulturellen Leben der DDR verbinden (Material 2009). Bereits mit seinem frühen Werk Wozu denn über diese Leute einen Film? (1980), das er während seines (abgebrochenen) Studiums an der HFF Potsdam realisierte, bewies Heise ein Gespür für unterre-präsentierte Realitäten und verborgene Narrative. Heimat ist ein Raum aus Zeit ist ein an die Tagebücher Victor Klemperers gemahnender monumentaler Erinnerungssog, der bis in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg zurückreicht. In Briefen wird die Genealogie der Familie des Filmemachers vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse und des kulturellen und geistigen Lebens der DDR nachgezeichnet.
Es ist ein über den Beginn des letzten Jahrhunderts gehender Briefwechsel, der von der gleichmäßigen und unerschütterlichen Stimme des Filmemachers Thomas Heise verlesen wird. Hin- und hergeschickt wurden die Briefe zwischen Berlin und Wien, in einer sich anbahnenden Liebesgeschichte der Großeltern. Wir erfahren auch von den politischen Veränderungen, der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, den Verhaftungen.
Dazu ist nach der klassischen Bild-Ton-Schere im Bild zu sehen: die endlosen Deportationslisten der NS-Bürokratie. Selten sah man historische Dokumente eindringlicher in Szene gesetzt als in dieser materiellen Weise, die das Leben der Menschen mit der Unmenschlichkeit der Zahlen verbindet. Als die Korrespondenz versiegt, ertönt Marika Rökks grotesker NS-Schlager: »Mach dir nichts daraus«.
Weiter geht es mit der Chronik, die sich über drei Stunden aus den textlichen Hinterlassenschaften der Familie des Filmemachers zusammensetzt, dazu assoziativ oder historisch exakt Bilder aus den Archiven, privaten und öffentlichen, und neu aufgenommes Material dazu montiert. Viel ist hier in Bewegung, die Fahrten der Eisenbahnen, die Europa durchqueren, dominieren immer wieder die Filmabschnitte. Thomas Heise fächert so das Leben seiner Großeltern auf, seiner jüdischen Großmutter und seines politischen aktiven Großvaters, beide zur NS-Zeit verfolgt, dann seiner Eltern. Sein Vater war der Philosoph Wolfgang Heise, er lehrte an der Humboldt-Universität in Berlin und war wiederum bekannt mit dem später ausgebürgerten Liedermacher Wolf Biermann, dem Dramatiker Heiner Müller und der Schriftstellerin Christa Wolf.
So entsteht ein regelrechter Erinnerungssog aus Worten, Filmaufzeichnungen und Fotos, komponiert aus den Zeugnissen von vier Generationen. Erzählt wird von der Liebe, den politischen Idealen und Umbrüchen des 20. Jahrhunderts. Die Zeitreise geht vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, den National-sozialismus, das geteilte Deutschland bis hinein in die Gegenwart, Briefwechsel und Tagebuchnotizen sind ihre Transportmittel.
Heise geht es dabei um die Konstruktion und Rekonstruktion seiner (ostdeutschen) Heimat. Bei Heise ist Heimat als Topographie der Geschichte und als stummer Zeuge der Umwälzungen zu denken, in denen sich die private mit der politischen Geschichte vereint, als Raum der Umwälzungen, als ein stetiges Werden und Vergehen. Das macht Heimat ist ein Raum aus Zeit zugleich wehmütig und hoffnungsvoll.
UNDERDOX halbzeit 2019: Thomas Heise
Filmmuseum München, 30. Mai 2019, 19 Uhr
Eintritt: 6 € (ermäßigt 5 €)
UNDERDOX ist Mitglied der Filmstadt München
Offenlegung: Die Autorin ist Leiterin von UNDERDOX.