30.05.2019

Lebens-Material

Heimat ist ein Raum aus Zeit
Verlorenes Trinkparadies

Die Halbzeit des UNDERDOX-Festivals zeigt Thomas Heises bahnbrechenden Erinnerungssog Heimat ist ein Raum aus Zeit

Von Dunja Bialas

Thomas Heise (*1955 in Berlin, DDR), Autor, Doku­men­tar­film- und Thea­ter­re­gis­seur, wurde als Chronist der deutsch-deutschen Wendezeit bekannt. Unter seinen essay­is­ti­schen Doku­men­tar­filmen finden sich Moment­auf­nahmen, die die kontro­verse poli­ti­sche Stimmung des wieder­ver­ei­nigten Landes einfangen (Der Imbiss 1990, Stau 1992), und große Würfe, die in einem unver­wech­sel­baren Stil die Gegenwart mit poli­ti­schen Zuständen der deutschen Geschichte (Vaterland 2002) oder die Zeit­ge­schichte mit dem kultu­rellen Leben der DDR verbinden (Material 2009). Bereits mit seinem frühen Werk Wozu denn über diese Leute einen Film? (1980), das er während seines (abge­bro­chenen) Studiums an der HFF Potsdam reali­sierte, bewies Heise ein Gespür für unterre-präsen­tierte Reali­täten und verbor­gene Narrative. Heimat ist ein Raum aus Zeit ist ein an die Tage­bücher Victor Klem­pe­rers gemah­nender monu­men­taler Erin­ne­rungssog, der bis in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg zurück­reicht. In Briefen wird die Genea­logie der Familie des Filme­ma­chers vor dem Hinter­grund der poli­ti­schen Ereig­nisse und des kultu­rellen und geistigen Lebens der DDR nach­ge­zeichnet.

Es ist ein über den Beginn des letzten Jahr­hun­derts gehender Brief­wechsel, der von der gleich­mäßigen und uner­schüt­ter­li­chen Stimme des Filme­ma­chers Thomas Heise verlesen wird. Hin- und herge­schickt wurden die Briefe zwischen Berlin und Wien, in einer sich anbah­nenden Liebes­ge­schichte der Großel­tern. Wir erfahren auch von den poli­ti­schen Verän­de­rungen, der Verfol­gung der jüdischen Bevöl­ke­rung, den Verhaf­tungen.

Dazu ist nach der klas­si­schen Bild-Ton-Schere im Bild zu sehen: die endlosen Depor­ta­ti­ons­listen der NS-Büro­kratie. Selten sah man histo­ri­sche Dokumente eindring­li­cher in Szene gesetzt als in dieser mate­ri­ellen Weise, die das Leben der Menschen mit der Unmensch­lich­keit der Zahlen verbindet. Als die Korre­spon­denz versiegt, ertönt Marika Rökks grotesker NS-Schlager: »Mach dir nichts daraus«.

Weiter geht es mit der Chronik, die sich über drei Stunden aus den text­li­chen Hinter­las­sen­schaften der Familie des Filme­ma­chers zusam­men­setzt, dazu asso­ziativ oder histo­risch exakt Bilder aus den Archiven, privaten und öffent­li­chen, und neu aufge­nommes Material dazu montiert. Viel ist hier in Bewegung, die Fahrten der Eisen­bahnen, die Europa durch­queren, domi­nieren immer wieder die Film­ab­schnitte. Thomas Heise fächert so das Leben seiner Großel­tern auf, seiner jüdischen Groß­mutter und seines poli­ti­schen aktiven Groß­va­ters, beide zur NS-Zeit verfolgt, dann seiner Eltern. Sein Vater war der Philosoph Wolfgang Heise, er lehrte an der Humboldt-Univer­sität in Berlin und war wiederum bekannt mit dem später ausge­bür­gerten Lieder­ma­cher Wolf Biermann, dem Drama­tiker Heiner Müller und der Schrift­stel­lerin Christa Wolf.

So entsteht ein regel­rechter Erin­ne­rungssog aus Worten, Film­auf­zeich­nungen und Fotos, kompo­niert aus den Zeug­nissen von vier Gene­ra­tionen. Erzählt wird von der Liebe, den poli­ti­schen Idealen und Umbrüchen des 20. Jahr­hun­derts. Die Zeitreise geht vom Kaiser­reich über die Weimarer Republik, den National-sozia­lismus, das geteilte Deutsch­land bis hinein in die Gegenwart, Brief­wechsel und Tage­buch­no­tizen sind ihre Trans­port­mittel.

Heise geht es dabei um die Konstruk­tion und Rekon­struk­tion seiner (ostdeut­schen) Heimat. Bei Heise ist Heimat als Topo­gra­phie der Geschichte und als stummer Zeuge der Umwäl­zungen zu denken, in denen sich die private mit der poli­ti­schen Geschichte vereint, als Raum der Umwäl­zungen, als ein stetiges Werden und Vergehen. Das macht Heimat ist ein Raum aus Zeit zugleich wehmütig und hoff­nungs­voll.

UNDERDOX halbzeit 2019: Thomas Heise
Film­mu­seum München, 30. Mai 2019, 19 Uhr
Eintritt: 6 € (ermäßigt 5 €)

UNDERDOX ist Mitglied der Filmstadt München

Offen­le­gung: Die Autorin ist Leiterin von UNDERDOX.