02.04.2020

Die Erde und das Kapital

La Terra Trema
Filme schauen zuhause kann manchmal ausufern
(Foto: Dunja Bialas)

Filmeschauen in Zeiten der Corona: Der melodramatische Neorrealismo in Luchino Viscontis LA TERRA TREMA und die sozialistische Utopie in John Fords THE GRAPES OF WRATH

Von Dunja Bialas

La terra trema: der Mythos des Zyklopen-Kapi­ta­listen

Beginn und Ende sind identisch in Luchino Viscontis La terra trema. Eine Flotte von Fischer­booten fährt in der Abend­däm­me­rung auf die See hinaus. An Bord leuchten die Laternen, die ausfah­renden Boote haben das gleiche Ziel: möglichst viele Fische an Land zu bringen. Und doch hat in Aci Castello zwischen dem Anfang und Ende des Films ein soziales Erdbeben statt­ge­funden.

La terra trema, die Erde bebt. So ganz mag der Titel dennoch nicht zu dem Film passen, der über­wie­gend mit dem Element des Wassers zu tun hat. Der natu­ra­lis­ti­sche Roman­klas­siker von Giovanni Verga (erschienen 1881) hieß so auch »I Mala­vo­glia«, die Schlecht­wün­schenden, nach dem Namen der Roman­fa­milie. Die Handlung dreht sich so auch nicht um ein kollektiv erlebtes Ereignis, unter­sucht vielmehr, wie eine einzelne Familie sich außerhalb die Gemein­schaft stellt, um schließ­lich böse vom kapi­ta­lis­ti­schen System überspült zu werden.

Alle Fischer im Dorf arbeiten für den Großhändler »Ciclope«, eine Anspie­lung auf die »Zyklo­pen­in­seln«, die vor dem sizi­lia­ni­schen Hafen­s­tädt­chen liegen. Sie wiederum sind nach dem home­ri­schen Zyklop benannt, der sechs Männer verschlang, bis sich seine unge­heu­er­liche Wut über den listigen Odysseus gelegt hatte. Das Geschehen nimmt also mythische Ausmaße, an dessen Ende zwar nicht sechs Männer verspeist wurden, dem aber doch eine ganze Familie zum Opfer fällt, die verschuldet und enteignet ausein­an­der­bricht. Die Familie Voltara sagt sich vom »Zyklopen«-Großhändler los und macht sich mit ihrem Boot selbständig, wirt­schaftet für sich. Das heißt aber auch: Ausfahren auch bei widrigen Wetter­be­din­gungen. Enig­ma­tisch ist die Einstel­lung, die Kame­ra­mann Aldo Graziati im drama­ti­schen Höhepunkt des Gesche­hens gefunden hat. Die Frauen der Familie bauen sich als schwarze Silhou­etten vor den markanten Zyklopen-Felsen auf, bilden ein figurales Äqui­va­lent für die dem Mythos nach zornig hinge­wor­fenen Felsen. Im Nu, in diesem einen Bild, hat man das Ausmaß der sich abspie­lenden Kata­strophe erfasst.

Sympto­ma­tisch für den sozialen Nieder­gang sterben dann auch noch die Groß­el­tern, die jüngere Tochter prosti­tu­iert sich, der älteste, hand­lungs­trei­bende Sohn Ntoni verkommt in den Bars des Dorfes. Bis er reumütig und verarmt zum »Zyklopen« zurück­kehrt.

Protest gegen die Künst­lich­keit der Kunst

Kurz nach dem Krieg 1948 erschienen, wurde der Film zum Meilen­stein des italie­ni­schen Neor­rea­lismo. Spuren aus der jüngsten Vergan­gen­heit finden sich noch an den Wänden, schon etwas verblasst ist das Graffito mit Hammer und Sichel an einer Hausecke, deut­li­cher zu lesen ist »Mussolini« an den Wänden des Großhänd­lers: eine starke Poli­ti­sie­rung des menschen­fres­senden Kapi­ta­listen.

Visconti hat mit Laien­dar­stel­lern gedreht, mit den Fischern von Aci Castello. So wirkt La terra trema besonders in der Expo­si­tion sehr doku­men­ta­risch, in der man die Fischer bei ihrer Arbeit sieht. Aus dem Off kommen­tieren Luchino Visconti und sein Co-Dreh­buch­autor Antonio Pietran­geli das sich auf der Leinwand abspie­lende Geschehen. Das könnte dann zunächst auch ein Film des ameri­ka­ni­schen Doku­men­tar­film­poeten Robert Flaherty sein, der 1934 mit The Man of Aran eine Fischer­fa­milie auf der irischen Insel Aran doku­men­tiert hat.

Gespro­chen wird meist im sizi­lia­ni­schen Dialekt. Der russische Semio­tiker Jurij M. Lotman merkt in seinem Band »Probleme der Kinoäs­thetik« 1973 an, dass der sizi­lia­ni­sche Dialekt in der italie­ni­schen Origi­nal­fas­sung nicht unter­ti­telt wurde, und der Film so kaum von den Italie­nern verstanden werden konnte. Er attes­tiert dem Film, »Protest gegen die 'Künst­lich­keit der Kunst'« zu sein: »Besser ein unver­ständ­li­cher Streifen, der durch seine doku­men­ta­ri­sche Echtheit unein­ge­schränktes Vertrauen weckt, als ein verständ­li­cher, aber des 'Ästhe­ti­zimus' verdäch­tiger Film.« Eine der konse­quen­testen Verwirk­li­chungen der neorea­lis­ti­schen Poetik, folgert er.

Inter­es­san­ter­weise jedoch webt La terra trema alsbald einen zweiten Faden hinein, der sich mit der Handlung um die Frauen verbindet. Die Frauen: das sind die Mutter mit ihren Töchtern Mara, der älteren, und Lucia, der jüngeren, meist werden sie im Haus gezeigt. Sie halten den Haushalt in Ordnung, bereiten das Essen vor und beziehen die Betten, wie man das eben so macht, im Italien der 1940er Jahre. Ihr Medium zur Außenwelt, das sind die Fenster, die vor allem die ältere Mara gerne aufmacht, um nicht ohne Grund einen Basi­li­kum­strauch besonders intensiv zu gießen: der Bauar­beiter Nicola, der vor dem Haus auf einer Baustelle arbeitet, sieht ihr dabei zu. Mit ihm flirtet sie lang und ausgiebig. Überhaupt ist sie dem Flirt nicht abgeneigt, wie man schnell merkt.

Mit der wirt­schaft­li­chen Selbstän­dig­keit der Familie ändern sich jedoch auch Rolle und Position der Frauen. Plötzlich müssen sie beim Geschäft mithelfen, gehen nach draußen und führen Verhand­lungen, mit dem Salz­händler des Ortes. Auf dem Rückweg ist die Fuhre zu schwer, Nicola hilft Mara. Er gesteht ihr, dass er sie liebt, sie jetzt aber für eine Heirat nicht mehr in Frage käme, weil sie zu reich sei.

An dieser Stelle, dem Höhepunkt der Erfolgs­story, ist der Film unver­mutet beim Melodram ange­kommen. Ein Eindruck, der sich mit dem Einsetzen der Abstiegs­ge­schichte verstärkt. Der Neor­rea­lismo hat einen starken Hang zum Melodram, auch hier.

Am Tiefpunkt der Handlung gibt es einen eindrucks­vollen Auftritt der orts­an­säs­sigen »Baronesa«. Nach einer langen Sequenz regen­ge­tränkter und dunkel­grauer Szenen scheint auf einmal wieder die Sonne. Man sieht, wie im Hafen Schiffe getauft werden. Die Schiffe sind ein Geschenk der alters­schwa­chen, aber mondänen Baronesa, die mit ihrer Sonnen­brille wie ein Fremd­körper im Dorf­ge­schehen erscheint. Sie inkor­po­riert die alte, feudale Gesell­schaft, die den Krieg entmachtet über­standen hat. Sie setzt jedoch immer noch auf das märchen­hafte Mäze­na­tentum als eindrucks­schin­dende Antithese zu den uner­bitt­li­chen kapi­ta­lis­ti­schen Markt­me­cha­nismen.

Inter­mezzo: die Corona-Brille

Unwill­kür­lich tun sich Paral­lelen zur aktuellen Corona-Krise auf: da ist das Wirken des sich selbst regu­lie­renden Markt­ka­pi­ta­lismus zu beob­achten. Die Voltara-Familie führt exem­pla­risch das Risiko der Selbstän­digen vor, die durch eine von außen kommende Krise (hier: der Sturm, der ihr Fischer­boot, also ihr Kapital vernichtet) unver­schuldet in die Misere gerät. Schließ­lich haben wir mit der Baronesa eine Figu­ra­tion des mäze­na­ten­haften Staats, der heute allent­halben mit seinen Sofort­hil­fe­pa­keten seinen Auftritt hat.

The Grapes of Wrath: Roadmovie auf der Route 66

Zur Sichtung von La terra trema schloss sich dann im selbst­ge­wählten Home-Double-Feature noch Früchte des Zorns (The Grapes of Wrath) an. John Ford hat den Film mit Henry Fonda 1939, im Jahr, in dem auch Stein­becks gleich­na­miger Roman erschien, gedreht. Auch hier ist die Verarmung einer Familie Motor der Handlung. Sie wird von Groß­grund­be­sit­zern in Oklahoma enteignet und bricht nach Kali­for­nien auf, wie so viele andere Land­ar­beiter vor ihnen. Im neuer­li­chen Sehen, und gerade im Kontrast zum puris­ti­schen Anfang von La terra trema, muss man jedoch die arg dialog­las­tigen Szenen im ersten Drittel des Films geradezu über sich ergehen lassen. Der Insze­nie­rungs­stil wirkt sehr hölzern, gedreht wurde im Studio. Die Dialoge, die ständig, äußerst ermüdend, die Vorge­schichte erzählen, hallen im Set. Das ändert sich jedoch schlag­artig, als die große Fahrt gen Süden, das Roadmovie auf der Route 66 beginnt. Jetzt entwi­ckelt der Film entlang der Begeg­nungen auf der Straße einen Sog. Immer wieder tut sich in den Totalen der Horizont auf, als das Bild struk­tu­rie­rende Linie, drama­tisch türmen sich die Wolken, die Menschen hingegen sind nichts als schmale schwarze Silhou­etten – eine kraft­volle, meta­pho­ri­sche Sicht auf das Universum von Kame­ra­mann Gregg Toland, der ein Jahr später Orson Welles' Citizen Kane foto­gra­fierte.

Mit der Ankunft im Lager der arbeits­su­chenden Arbeiter ist der Film dann vollends bei sich. Mit subjek­tiver Kamera wird hier in die Misere hinein­ge­fahren, man kennt solche Einstel­lungen aus dem Direct Cinema, das aber erst viel später, in den 50er Jahren, in den USA entstand.

Früchte des Zorns – und der Zärt­lich­keit

Diesmal ergeben sich, trotz aller Bemühungen, beim Sehen des Films keine Paral­lelen zur heutigen Corona-Zeit. Außer der ganz allge­meinen natürlich, dass der ausbeu­tende neoka­pi­ta­lis­ti­sche Groß­grund­be­sitzer viel mehr mit Donald Trump zu tun hat als der sympa­thi­sche Sozialist der Regierung, der für huma­ni­täre Verhält­nisse in der provi­so­ri­schen Arbei­ter­sied­lung sorgt.

Inter­es­santer als Corona ist zum Glück die Verbin­dung zum Werk von Straub-Huillet, die sich 2004 in der Viennale-Retro­spek­tive »Früchte des Zorns und der Zärt­lich­keit« konkre­ti­sierte. Dem soll noch nach­ge­gangen werden. Und so kann man sich, anstatt Corona als Gegenwind zu nehmen, von ihr gemäch­lich durch die Film­ge­schichte treiben lassen …