24 mal Poesie in der Sekunde |
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Einst bei Ullstein gefunden | ||
(Foto: artechock) |
Man kann natürlich versuchen, die jetzige Situation weg zu streamen. Die Verlockung ist groß, sich in den Ozean an verfügbarem Film- und Serienmaterial zu stürzen, Hauptsache ist, die Zeit geht rum. Das ist mehr als verständlich und ehrlich gesagt, kann man es auch niemandem verübeln. Auf der anderen Seite kann man aber auch die Zeit nutzen und sich jetzt erst recht mit dem Kino beschäftigen. Und wieso sich dabei nicht von einem der ganz großen Meister des Films an der Hand nehmen lassen?
Die Rede ist hier von Andrei Tarkowski, der mit seinem Buch »Die versiegelte Zeit« alles über die Filmkunst gesagt hat, was es zu sagen gibt. Das stimmt so natürlich auch nicht ganz, aber man hat nach der Lektüre das Gefühl, es wäre so. Das liegt nicht zuletzt an Stellen wie diesen: »Im Film reizen mich ganz außergewöhnlich poetische Verknüpfungen, die Logik des Poetischen. Dies entspricht meiner Meinung nach am besten den Möglichkeiten des Films als der wahrhaftigsten und poetischsten aller Künste.« Man merkt schon, Tarkowskis Sicht bewegt sich fernab von trockener Theorie. Film sollte nicht von den Gesetzen der Logik oder ästhetischem Diktat eingeschränkt werden. Die Handschrift des Regisseurs steht an erster Stelle, nicht die Vorgaben von Denkschulen oder die Regeln des Markts. Film muss die Poesie, die Tarkowski wörtlich als »Weltsicht« beschreibt, atmen.
Diejenigen, die mit dem Werk des russischen Filmemachers vertraut sind, wissen, was gemeint ist. Wer saß nicht vor Stalker, Der Spiegel oder Solaris und war bis zuletzt gefangen von der fast irrealen Atmosphäre seiner Bilder, von seinem fast meditativen Tempo und den zutiefst philosophischen Aussagen, die unmöglich sofort zu fassen sind? »Die versiegelte Zeit« ist natürlich auch deshalb lohnenswerte Lektüre, da der Meister selbst uns die Worte schenkt, die wir verzweifelt suchen. 1984 zum ersten Mal in deutscher Sprache erschienen, vereint das Buch Texte aus den vorangegangenen acht Jahren, die unter anderem auf Gesprächen mit der Filmkritikerin Olga Surkowa beruhen. »Die versiegelte Zeit« ist also eine Sammlung von Momentaufnahmen. Tarkowskis Problemstellungen ziehen sich jedoch durch sein gesamtes Schaffen, sodass das Buch letzten Endes doch wieder eine Einheit bildet. Dabei geht es nicht nur um die Schwierigkeiten, die Tarkowski von den sowjetischen Machthabern auferlegt wurden, das Unverständnis der heimischen Kritik oder die Auseinandersetzungen, die grundsätzlich am Set entstehen. Viel tiefschürfender wird es, wenn es um den Film an sich geht, um die Beziehung die der Regisseur mit dieser Kunstform eingehen muss.
Dabei stößt man häufig auf Passagen, die widersprüchlich erscheinen. Da heißt es: »Die Montagegesetze muss man natürlich genauso gut wie alle übrigen Gesetze seines Handwerks beherrschen. Die schöpferische Arbeit beginnt aber erst in dem Moment, wo diese Gesetze verletzt und deformiert werden.« Gleichzeitig lehnt Tarkowski aber den Begriff des Experiments genauso ab wie das Montage-Kino von Sergei Eisenstein. Überhaupt ist es verwunderlich, dass ein revolutionärer Bilderstürmer wie er der Avantgarde anscheinend gar nichts abgewinnen konnte. »Es ist ein falscher Weg, den die moderne Kunst eingeschlagen hat, die der Suche nach dem Sinn des Lebens im Namen bloßer Selbstbestätigung abgeschworen hat. So wird das sogenannte schöpferische Tun zu einer seltsamen Beschäftigung exzentrischer Personen, die nur die Rechtfertigung des einmaligen Wertes ihres ichbezogenen Handelns suchen.«
Genauso fremd ist ihm die Poesie um ihrer selbst willen oder die Unterwerfung unter utilitaristische Zwecke. »Die unbestreitbare Funktion der Kunst liegt für mich in der Idee des Erkennens, jener Form der Wirkung, die sich als Erschütterung, als Katharsis, äußert.« Dabei plädiert er dafür, den Film strikt von anderen Kunstformen abzutrennen, insbesondere von der Literatur – auch wenn er durchgehend den großen Einfluss von Tolstoi und Dostojewski betont. Film ist für ihn das direkte Erleben von (versiegelter) Zeit, ein Erleben, das nicht erst durch die Sprache an den Zuschauer herangeführt werden muss. »So kann man sich beispielsweise mühelos auch einen Film ohne Schauspieler, ohne Musik und filmarchitektonische Bauten, ja, sogar ohne Montage vorstellen. Keinesfalls aber einen Film, in dessen Einstellung nicht der Zeitfluss spürbar würde.«
Und dann ist da ja noch die Verantwortung, die man dem Zuschauer gegenüber hat. »Ein Zuschauer kauft sich eine Kinokarte, um die Leerstellen der eigenen Erfahrung aufzufüllen, er jagt gleichsam der 'verlorenen Zeit' nach.« Diese Leerstellen sollen nun bitte nicht mit elender Durchschnittsware gefüllt werden, die den Zuschauer so lange verblödet, bis er »den Film nur noch benutzt wie eine Flasche Coca-Cola«. Nun ist es ja so, dass die Cineasten-Kaste Tarkowski seit jeher vergöttert. So herrlich seine Filme jedoch sind, so unzugänglich sind sie auch manchmal. Für ihn ist es jedoch eine Grundvoraussetzung, sich dem Publikum an keiner Stelle anzubiedern. »Der Künstler besitzt nicht das moralische Recht, sich auf irgendein abstraktes Duchschnittsniveau einzulassen, um sein Werk verständlicher und zugänglicher zu machen.« Laut eigener Aussage gehörten zu seinen Rezipienten in der sowjetischen Heimat nicht nur jene aus der gebildeten Schicht. Hinter diesem »Anspruch für alle«- Gedanken steckt natürlich ein gutes Stück Idealismus. Das ist aber auch das, was »Die versiegelte Zeit« und Tarkowskis Filmografie ausmacht: Die Vorstellung, allein durch die Poesie etwas im Zuschauer anzustoßen, der Welt sogar ein Stück verlorener Spiritualität zurückzugeben. Genau diese subjektive, völlig eigene Sicht ist es, die Pflichtlektüre aus diesem Buch macht. Nebenbei ist es auch eine gute Anlaufstelle für jene, die einen nicht allzu akademischen Zugang zur Filmtheorie suchen. Und Passagen wie die folgende ersetzen dazu noch ganze Krisen-Ratgeber:
»Möge jeder, der dies wünscht, sich meine Filme wie einen Spiegel anschauen, in dem er sich selbst erblickt. In den Zustand einer geistigen Krise gerät jeder, der sich geistigen Problemen stellt. Und wie sollte das auch anders sein? Schließlich dürstet die Seele nach Harmonie, während das Leben voller Disharmonien ist. In diesem Widerspruch liegt das Stimulans für Bewegung, zugleich aber auch die Quelle unseres Schmerzes und unserer Hoffnung. Er ist eine Bestätigung unserer geistigen Tiefe, unserer spirituellen Möglichkeiten.«
Andrei Tarkowski, Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Hans-Joachim Schlegel. Mit einem Vorwort von Dominik Graf. Alexander Verlag, 2012. Nur noch im Antiquariat erhältlich