10.04.2020
Gestrandet auf Corona Island

Beschwörungsformeln

Untergang des Hauses Usher
Der Untergang des Hauses Usher, Fin-de-Siècle-Horror
(Foto: Cinémathèque française)

Kinderfilm, Filmklassiker & Avantgarde, mit Moretti im Kino, Ambient & Punk, Afrikanischer Film: Tipps von Kino-Freunden

Von artechock-Redaktion

FILM

KINDERKINO: WARUM ICH HIER BIN

Die Münchner Filme­ma­cherin Susanne Quester hat zusammen mit Mieko Azuma einen berü­ckenden Doku­men­tar­kin­der­film über Migration gemacht, der natürlich auch für alle Erwach­senen zu empfehlen ist, hier in unserer Kritik nach­zu­lesen. Eigent­lich sollte der Film jetzt ins Kino kommen, aber … Susanne Quester hat sich daher schweren Herzens entschlossen, den Film über Ostern als kosten­losen Stream zu zeigen. Auf ihrer Website gibt es viele Infor­ma­tionen und die tollen Anima­tionen zu dem Film. Spenden sind will­kommen! – Ein Tipp von der artechock-Redaktion | Text: Dunja Bialas

Filmszene <q>Warum ich hier bin</q>
Jede Episode hat einen eigenen Anima­ti­ons­stil (Foto: Quester & Azuma)

CINÉMATHÈQUE FRANÇAISE: FILMKLASSIKER

Seit Donnerstag (9.4.2020) zeigt die renom­mierte Ciné­ma­thèque Française im virtu­ellen Kinosaal »Henri« (der Name ist geborgt von Henri Langlois, dem legen­dären Gründer der Ciné­ma­thèque) kostenlos und ohne Regio­nal­be­schrän­kung Filme aus dem restau­rierten Reper­toire – bis zur Wiede­r­eröff­nung der realen Ciné­ma­thèque. Jeden Tag kommt um 20:30 Uhr ein neuer Film hinzu. Den Anfang macht Jean Epsteins Der Untergang des Hauses Usher (Der Untergang des Hauses Usher) aus dem Jahre 1928. Der Horror-Stummfilm wird als digitale Abtastung einer histo­ri­schen, von der Cineteca di Bologna restau­rierten, 35mm-Kopie gezeigt und macht deutlich, wie der Stummfilm mit Einfär­bungen bereits Tag-/Nacht­un­ter­schiede und Stim­mungen als Farb­ge­stal­tung reali­siert hatte. Auf in die Ciné­ma­thèque! Fran­zö­sisch­kennt­nisse sind hilfreich. Aber wir wollten doch jetzt sowieso alle Sprachen lernen, oder vertiefen. – Ein Tipp von Dunja Bialas (fran­ko­phile Film­kri­ti­kerin, München) | Text: Dunja Bialas

La Chute de la Maison Usher
Endzeit­stim­mung nach Edgar Allen Poe (Foto: Ciné­ma­thèque Française) (Foto: Ciné­ma­thèque Française)

FILMMUSEUM MÜNCHEN: KLAUS WYBORNY

Seit Karfreitag hat auch das Film­mu­seum München einen virtu­ellen Kinosaal geöffnet und zeigt Filme des Hamburger Kino-Expe­ri­men­teurs Klaus Wyborny. Anlass ist der 75. Geburtstag des Filme­ma­chers. Er ist Mitbe­gründer der Hamburger Film­ma­cher Coope­ra­tive und hat sein oft aus in der Kamera geschnit­tenes und mit sehr tollen Musik­kom­po­si­tionen beglei­tetes Werk jetzt digital zugäng­lich gemacht. Das Film­mu­seum will die Wahl des Kino-Avant­gar­disten für seinen virtu­ellen Kinosaal ausdrück­lich als »bewusste Setzung eines eigen­wil­ligen künst­le­ri­schen Akzents in der Menge der Streaming-Unter­hal­tungs­an­ge­bote« verstanden wissen. Bravo dafür!
Wer nicht so expe­ri­men­tier­freudig ist, kann sich auch auf Film­klas­siker freuen, die nur am Wochen­ende zu sehen sind. Jeder Film­stream ist auf maximal vier Tage begrenzt, so dass sich der Effekt der echten Frei­zeit­pla­nung ergibt.
Um die Streaming-Links zu erhalten, muss man beim News­letter ange­meldet sein.
Neugierig geworden? Dann gibt es hier einen Trailer aus Wybornys SYNTAX (1976), mit dem einschlä­gigen Satz: »Ich bleibe heute – natürlich – zu Hause.« Seufz. – Ein Tipp von der artechock-Redaktion | Text: Dunja Bialas

Wyborny: Studien zum Untergang des Abendlandes
Klaus Wyborny: Studien zum Untergang des Abend­landes (Foto: Klaus Wyborny) (Foto: Klaus Wyborny)

NANNI MORETTI: IL GIORNO DELLA PRIMA DE CLOSE-UP (1996)

Wer verzwei­felt versucht, im eigenen Wohn­zimmer durch die richtige Beleuch­tung (gar kein Licht? Licht hinter dem Bild­schirm? Seit­li­cher Licht­ein­fall?), mit einer eini­ger­maßen ange­mes­senen Laut­stärke (»Das muss man schon richtig hören, Zimmer­laut­stärke ist jetzt echt zu leise!«) und durch möglichst wenig Ablenkung (»Kannst du jetzt mal bitte das Handy liegen lassen?«) für Kino­at­mo­sphäre (»Popcorn? Also echt jetzt!« – »Ich hohl mir noch ein Bier.« – »Pssst!«) zu sorgen, der sehnt sich ins Kino zurück, wo man sich um das alles nicht kümmern muss.

Die Kino­be­sitzer haben jetzt gerade die aller­größten Sorgen. Werden die Besucher zurück­kehren? Dass auch im normalen Alltag ihre größte Sorge ist, ob die Leute kommen, haben sie mit der Schau­stel­lertra­di­tion sozusagen mit der histo­ri­schen Mutter­milch auf den Weg bekommen: »Kommen Sie näher, kommen Sie rein, hier sehen Sie was, was Sie noch niiiiiiie gesehen haben!«

Der wunder­bare italie­ni­sche Kino-Neuro­tiker Nanni Moretti hat einen Kurzfilm über diese ange­spannte Nervo­sität eines Kino­be­trei­bers gemacht und sich dazu exem­pla­risch den Tag gewählt, an dem Abbas Kiaros­t­amis Close Up in sein Kino kommt. Bei uns war der Film übrigens nicht im Kino zu sehen. – Ein Tipp von Patrick Holzapfel (Filme­ma­cher, Film­kri­tiker, Wien) | Text: Dunja Bialas

Nanni Moretti
Nanni Moretti: Der Kino­be­sitzer (Foto: Nanni Moretti) (Foto: Nanni Moretti)

MUSIK

RADIOKARANTINA: DER SOUND FÜR JEDEN TAG

Direkt aus Beirut, wo ebenfalls der Lockdown herrscht, sendet »radio­ka­ran­tina« wunder­bare Ambient-meets-Song-and-Voice-Mixtapes in die Wohn­zimmer der ganzen Welt, die von DJs, Künstlern und Filme­ma­chern aus verschie­denen Städten in Asien, USA und Europa zusam­men­ge­stellt werden. Gemischt werden Voice-Fragmente und Songs, die auch Niesen oder Diskus­si­ons­frag­mente dieser Tage (soge­nannte »germs«) enthalten, mit Sixties-Sound und Elek­tro­ni­schem – ein schwe­bendes Antidot gegen den schweren Ernst dieser Tage.

Musik gab es in den letzten Tagen von DJ No Breakfast, dem Berliner Filme­ma­cher Philip Widmann, dem liba­ne­si­schen Künstler Giorgio Bassil, dem Berliner Künstler Abraham Zeitoun oder der liba­ne­si­schen Künst­lerin, Autorin und DJ Jessika Khazrik. Gesendet wird jetzt schon den 25. Tag! Trost zum Abheben. – Ein Tipp von Philip Widmann (Filme­ma­cher, Berlin) | Text: Dunja Bialas

Radio Karantina
radio­ka­ran­tina sendet aus Beirut (Foto: radio­ka­ran­tina) (Foto: Radio Karantina)

FLAT WORMS: PETULANCE

Derzeit müssen wir alle tänzelnd einander auswei­chen, immer schön Abstand haltend. Nur im Super­markt, einem der wohl gefähr­lichsten Orte dieser Tage, ist dies nicht möglich, weil einfach die Gänge zu schmal sind und das Gedränge vor den Klorollen zu groß. Flat Worms aus Los Angeles machen in ihrem kraft­vollen Punkrock-Video »Petulance« bereits 2016 vor, wie das alles mit Verve und Krea­ti­vität gelöst werden kann. Seitlich anein­ander vorbei­pogen, sich um die eigene Achse drehen (senkrecht oder am Boden), mit Beute jonglieren. Die einhäm­mernde Eindring­lich­keit monotoner Melo­die­füh­rung inbe­griffen. So können wir in der einge­schlos­senen Zeit auch die nervigen Ausflüge in den Super­markt besser ertragen. – Ein Tipp von Wolfgang Lasinger (Experte für The Fall) | Text: Dunja Bialas

Flat Worms
Mit den Flat Worms im Super­markt (Foto: Flat Worms) (Foto: Flat Worms)

TEXT

The Magic of Nigeria – On the Cinema of Ola Balogun

Wie wichtig kleine Kinos, unab­hän­gige Filmclubs und freie Kurator*innen sind wird hier mehr als deutlich: »The Magic of Nigeria – On the Cinema of Ola Balogun« ist die erste inter­na­tio­nale Publi­ka­tion über das Film­schaffen Ola Baloguns, einer der bedeu­tendsten Regis­seure Nigerias. Bemer­kens­wert ist daran schon der Entste­hungs­kon­text: Crowd­ge­funded aus dem Recher­che­ma­te­rial für die Retro­spek­tive über Balogun, die das Film­kol­lektiv Frankfurt und speziell deren Mitbe­gründer, Gary Vanisian, 2015 kura­tierte, und die 2017 auch im Arsenal – Institut für Film und Video­kunst e.V. zu sehen war.

Wie aus einer inten­siven Recherche eine Annähe­rung an eine Person und ihr künst­le­ri­sches Schaffen entstehen kann, wird hier besonders gut deutlich. Statt einer chro­no­lo­gi­schen Abhand­lung präsen­tieren die Heraus­ge­benden persön­liche Erin­ne­rungen seiner Frau und Produ­zentin, ein Interview mit Balogun selbst, Perspek­tiven seiner Kolleg*innen und Mitstrei­tenden auf die gemein­same Arbeit unter schwie­rigsten Produk­ti­ons­be­dingen und mehrere Essays über sein Werk und dessen Rezeption. Besonders toll sind die über 50 Seiten Bild­ma­te­rial mit Stills, Film­se­quenzen, Postern, Zeitungs­ar­ti­keln und privaten Aufnahmen. Für die filmische Recherche überaus hilfreich ist die beigefügte Filmo­gra­phie mit ausführ­li­chen Synopsen.

In seinem frag­men­ta­ri­schen Aufbau verdeut­licht das Buch den immensen Recher­che­auf­wand und ist gleich­zeitig doch viel mehr, denn hier entsteht allein schon beim Lesen ein unglaub­li­ches Sehver­gnügen. – Ein Tipp von Sarah Adam (freie Kuratorin, Mitglied im B-Movie Kino und A Wall is a Screen) | Text: Sarah Adam

The cinema of Balogun
Das Kino von Ola Balogun (Foto: Arsenal Institut Berlin) (Foto: Arsenal Institut Berlin)