Gestrandet auf Corona Island
Es gibt ein Kinoleben nach Corona |
||
»Avid moviegoers will return to movie theaters quickly« | ||
(Foto: Performance Research) |
Von Dunja Bialas
Kein Kino nach der Krise: So lautet angeblich die Quintessenz, die eine auf den ersten Blick alarmierende Studie Ende März ergeben hat. Die »FAZ« schlagzeilte prompt (4.4.2020): »Bleiben die Säle dauerhaft leer?« Begleitet von einem Foto, das, nun ja, einen leeren Kinosaal zeigt. Von der Studie, eine Umfrage, die im Auftrag des amerikanischen Unternehmens »Performance Research« unter 1000 Verbrauchern in den USA durchgeführt wurde, hatte zuerst das Branchenfachblatt »Variety« Ende März berichtet.
Die Befragten gaben u.a. Auskunft darüber, ob sie nach überstandener Corona-Krise wieder in die Kinos gehen würden. Laut »Variety« gaben 49% an, womöglich »nie wieder« oder »erst Monate später« wieder ins Kino zugehen. Ein gutes Viertel (28%) will seltener ins Kino gehen. 15% haben sich hingegen fest vorgenommen, nach Corona wieder öfter ins Kino zu gehen.
Das klingt »erodierend«, so »Variety«, zu wenig Bereitschaft, um den Kinobetreibern die Einkünfte einzubringen, die sie nach Corona dringend brauchen.
Es ist jedoch durchaus lohnenswert, nicht sofort in das gleiche Horn zu blasen – auch oder gerade wenn wir uns für die Kinos starkmachen wollen – und sich die Studie einmal genauer anzusehen. Wenn man auf die Website von Performance Research geht, um die Originalfragen und –antworten nachzulesen, stößt man zunächst auf ein ganz anderes Problem: Es wurden bislang noch keine kinospezifischen Zahlen veröffentlicht. Auf Nachfrage in Rhode Island wurde »artechock« die Studie nun zugeschickt.
Um es an dieser Stelle kurz zu machen: Die Zahlen von »Variety« stimmen nur rein rechnerisch.
Die Durchsicht der Studie ergibt: Ganze 3 bis 5% der befragten Kinogänger gaben an, »womöglich nie mehr« ins Kino zurückzukehren. 35 bis 45% wollen ein paar Monate vor dem ersten Besuch abwarten. 62% von den »avid moviegoers«, also all jenen, die oft und gerne ins Kino gehen, gaben sogar an, sofort wieder ins Kino gehen zu wollen oder damit nur ein paar Wochen zu warten. »Right away!« lautet die Devise.
»Variety« hat letztere Zahl überhaupt nicht erwähnt. Und wo sie die 49% derer herhaben, die vielleicht nie wieder oder höchstens nach langer Zeit wieder ins Kino gehen? Julia Burke von »Performance Research« versichert auf Nachfrage: »The article’s numbers were correct. It’s true that only a small % said they would never return, but when you add up ›Possibly never‹ AND ›A few months‹ =49%.«
Die Zahlen auf diese Weise zusammenzuziehen, ist eine rechnerisch vollzogene Interpretation der Studie, die eine gewisse Stoßrichtung verfolgt. Die »FAZ« nennt die Ergebnisse ungeprüft so auch »niederschmetternd« und schreibt das Ende des Kinos herbei. Die allgemeinen Zahlen der Studie sprechen jedoch gegen diese Sichtweise. Um es vorwegzunehmen: Kinogänger sind eine überdurchschnittlich unternehmungslustige Spezies, anders als ihre Zeitgenossen, die Couchpotatoes.
Durchgeführt wurde die Umfrage von dem nach strengen ISO:26362-Standards zertifizierten Unternehmen Full Circle Research Co., das seriöse Verbraucher-Umfragen durchführt und einen großen Pool von potentiellen Umfrage-Teilnehmern hat. 1000 haben teilgenommen, die Auswahl sei so getroffen worden, dass sie in etwa dem demographischen Zensus entsprechen, erklärt Statistikerin Julia Burke.
Die sichtlich um Repräsentativität bemühte Studie hat zudem genau erfasst, ob die Teilnehmenden als umfragerelevant eingestuft werden können. Für den Part, der sich auf den Kinobesuch bezieht, konnte man sich wahlweise als »avid moviegoer«, »moderate moviegoer« oder »non-target« einstufen, also als sogenannter »heavy user«, der viel ins Kino geht, als gemäßigter Kinogänger oder als jemand, der aufgrund von Desinteresse nicht zur Zielgruppe »Kino« zu rechnen ist. Aufgeschlüsselt wurde dies nach Geschlecht und Alter. »Non-target« waren interessanterweise überwiegend Menschen über 50.
Eine ähnliche Einordnung nimmt die Motion Picture Association (MPA) vor (vergleichbar etwa mit der deutschen Spitzenorganisation der Filmwirtschaft) und erfasst in ihrem im März 2020 veröffentlichten »2019 Theme Report« »40 million frequent moviegoers« (USA und Kanada werden hier zusammengerechnet), also 40 Millionen Menschen, die regelmäßig – gemäß MPA-Klassifizierung monatlich ein Mal oder öfter – ins Kino gehen und für 47% des Umsatzes an der Kinokasse sorgen. Insgesamt gibt es in den USA und Kanada zusammen knapp 270 Millionen Kinogänger, darunter auch die, die nur gelegentlich, aber mindestens einmal im Jahr einen Film im Kino sehen (11%). 24% der (US- und kanadischen) Bevölkerung sind »non-moviegoers«.
Allgemein fragte »Performance Research« zum Besuch von »Live Events«. Die übergeordnete Frage lautete: »How do you think your frequency of attending large public events (in general) will be impacted by your experience with the Coronavirus and social distancing?«
Interessanterweise wollen überdurchschnittlich viele Cineasten, nämlich 27% der »avid moviegoers« mehr auf große öffentliche Veranstaltungen gehen als vor Corona. Sie sind also allgemein unternehmungslustiger als ihre Mitmenschen, von denen nur 17% häufiger auf Events gehen wollen. Und dies, obwohl sie das Coronavirus etwas ernster nehmen, nämlich zu 88% (gegenüber durchschnittlich 81%).
Die psychische Verfassung der Befragten ist nicht ganz unwichtig, wenn man bedenkt, dass es hier um die Selbsteinschätzung zukünftigen Verhaltens geht und nicht etwa um harte Fakten oder Berichte, die sich auf Vergangenes beziehen. So sagen 47%, dass allein der Gedanke, auf ein größeres Event zu gehen, auf lange Sicht angsteinflößend sei (»will scare me for a long time«). Dazu muss man wissen, dass die Befragung zwischen dem 23. und 26. März stattfand, in einem Zeitraum also, in dem sich die Zahl der Infizierten in den USA schlagartig verdoppelte. Der daraus resultierende Psycho-Impact lässt sich auch an den Antworten zu den Sicherheitsvorkehrungen ablesen. 66% der Befragten (72% der coronasensibleren Kinogänger) halten nach Corona die Hygiene für wichtiger als vorher. Fun Fact: Nur 27% der insgesamt Befragten finden Gewalt oder gar »shootings« problematisch für die Sicherheit von Events. Hier hat sich eindeutig der Fokus verschoben. Man fürchtet Viren jetzt mehr als Amokläufer oder Hooligans.
Anders als »Variety« und »FAZ« vermelden, kann man der Studie außerdem noch eine gute Nachricht entnehmen. Es wollen zwei Drittel der Befragten an ihren Freizeitaktivitäten festhalten, angeführt von Outdoor-Unternehmungen (für 66% steht der Besuch von Zoos und Aquarien jetzt an erster Stelle), aber auch Museums- und Ausstellungsbesuche stehen mit 65% hoch im Kurs. Verlierer sind derzeit die »major indoor concert venues« (56%), und die »major indoor sports venues« (58%). Unverändert ins Theater gehen wollen 60%. 11% haben sich vorgenommen, sogar noch häufiger ins Theater zu gehen als bislang – was auch als Indiz dafür gelten kann, dass Aktivitäten insgesamt mehr geschätzt werden. In der Summe erweisen sich die Cineasten als ausgehfreudiger. 58% von ihnen messen Veranstaltungen mehr Wert bei, aber auch 46% der allgemeinen Bevölkerung. 64% der Kinogänger fühlen schon jetzt »ein angestautes Verlangen nach Veranstaltungen« (»a pent-up desire to attend the events I love«), aber nur 57% stehen »virtual reality experiences« offener gegenüber als vorher. Von einer Kino-Aversion weit und breit also keine Spur.
Sicherlich ist das Kino jetzt mehr als sonst in Gefahr. Das aber liegt nicht unbedingt an den Menschen, die bereit sind, in die Kinos zurückzukehren, sobald sie es dürfen. Nicht die »Wetware«, sondern die »Hardware« setzt den Kinos ökonomisch zu. Die Mieten werden den Kinos nicht erlassen, auch wenn sie derzeit keine Einkünfte erzielen. Mietstundungen müssen bis 2022 zurückgezahlt werden, was die Kinos nach Corona zusätzlich belasten wird. Mitarbeiter*innen werden in die Kurzarbeit geschickt, was aber nicht heißt, dass für den Arbeitgeber jetzt keine Lohnkosten anfallen. Je nachdem, wann die Kinos wieder öffnen, wird es noch dazu gerade Sommer sein, die schlechteste Kinozeit im Jahr. Schon jetzt fehlen die Frühjahrs-Einnahmen, mit den wichtigen Filmstarts der neuen Saison nach der Oscar-Verleihung und der Berlinale. Die Filmförderungsanstalt FFA schreibt sehr richtig: »Nach Wiederaufnahme des Spielbetriebs können die Einbußen nicht aufgeholt werden.« Sie bietet aber keine zusätzlichen Gelder an, nur »Stundungen« bestehender Darlehensforderungen oder ähnliches.
Die Kinos werden es also schwer haben, vielleicht auch schwerer als andere Orte und Veranstalter, die nicht so leicht durch Streaming substituiert werden können. Im Hinblick auf Artikel wie die der »Variety« oder »FAZ« sei hinzugefügt: Es wird auch an der Politik, an den Medien und an der daraus resultierenden Stimmung liegen, wie wir das Kino in Zukunft wahrnehmen. Wenn immer vom »Kinosterben« und »leeren Sälen« die Rede ist, kommen wir kaum umhin, es als vom Tod bedrohte kulturelle Risikogruppe einzustufen. Am Ende kommen wir uns komisch vor, wenn wir wie der letzte Mohikaner an dieser überalterten Kulturpraxis festhalten. Wir können das Kino aber auch als Sehnsuchtsort begreifen, der uns etwas zu bieten hat. Nämlich beste Technik, Dunkelheit und konzentriertes Zugucken während der großflächigen Projektion, Verabredungen mit Menschen, das Reden nach dem Film. Kinos, das wissen wir seit dem Shutdown, sind Indizien für ein vitales Stadtleben, stehen anders als das Sofa nicht für »social distancing«, sondern für »social bonding«.
Machen wir also von nun an das Kinoleben stark.