16.04.2020
Gestrandet auf Corona Island

Es gibt ein Kinoleben nach Corona

Performance Research
»Avid moviegoers will return to movie theaters quickly«
(Foto: Performance Research)

»Variety« hat in einem Beitrag ein düsteres Bild der Kinos nach Corona gezeichnet. Die »artechock« vorliegende US-amerikanische Studie, auf die sich »Variety« bezieht, gibt jedoch auch Anlass zu Hoffnung

Von Dunja Bialas

Kein Kino nach der Krise: So lautet angeblich die Quint­essenz, die eine auf den ersten Blick alar­mie­rende Studie Ende März ergeben hat. Die »FAZ« schlag­zeilte prompt (4.4.2020): »Bleiben die Säle dauerhaft leer?« Begleitet von einem Foto, das, nun ja, einen leeren Kinosaal zeigt. Von der Studie, eine Umfrage, die im Auftrag des ameri­ka­ni­schen Unter­neh­mens »Perfor­mance Research« unter 1000 Verbrau­chern in den USA durch­ge­führt wurde, hatte zuerst das Bran­chen­fach­blatt »Variety« Ende März berichtet.

Die Befragten gaben u.a. Auskunft darüber, ob sie nach über­stan­dener Corona-Krise wieder in die Kinos gehen würden. Laut »Variety« gaben 49% an, womöglich »nie wieder« oder »erst Monate später« wieder ins Kino zugehen. Ein gutes Viertel (28%) will seltener ins Kino gehen. 15% haben sich hingegen fest vorge­nommen, nach Corona wieder öfter ins Kino zu gehen.

Das klingt »erodie­rend«, so »Variety«, zu wenig Bereit­schaft, um den Kino­be­trei­bern die Einkünfte einzu­bringen, die sie nach Corona dringend brauchen.

»Right away« zurück ins Kino

Es ist jedoch durchaus lohnens­wert, nicht sofort in das gleiche Horn zu blasen – auch oder gerade wenn wir uns für die Kinos stark­ma­chen wollen – und sich die Studie einmal genauer anzusehen. Wenn man auf die Website von Perfor­mance Research geht, um die Origi­nal­fragen und –antworten nach­zu­lesen, stößt man zunächst auf ein ganz anderes Problem: Es wurden bislang noch keine kino­spe­zi­fi­schen Zahlen veröf­fent­licht. Auf Nachfrage in Rhode Island wurde »artechock« die Studie nun zuge­schickt.

Um es an dieser Stelle kurz zu machen: Die Zahlen von »Variety« stimmen nur rein rech­ne­risch.

Die Durch­sicht der Studie ergibt: Ganze 3 bis 5% der befragten Kino­gänger gaben an, »womöglich nie mehr« ins Kino zurück­zu­kehren. 35 bis 45% wollen ein paar Monate vor dem ersten Besuch abwarten. 62% von den »avid movie­goers«, also all jenen, die oft und gerne ins Kino gehen, gaben sogar an, sofort wieder ins Kino gehen zu wollen oder damit nur ein paar Wochen zu warten. »Right away!« lautet die Devise.

»Variety« hat letztere Zahl überhaupt nicht erwähnt. Und wo sie die 49% derer herhaben, die viel­leicht nie wieder oder höchstens nach langer Zeit wieder ins Kino gehen? Julia Burke von »Perfor­mance Research« versi­chert auf Nachfrage: »The article’s numbers were correct. It’s true that only a small % said they would never return, but when you add up ›Possibly never‹ AND ›A few months‹ =49%.«

Die Zahlen auf diese Weise zusam­men­zu­ziehen, ist eine rech­ne­risch voll­zo­gene Inter­pre­ta­tion der Studie, die eine gewisse Stoß­rich­tung verfolgt. Die »FAZ« nennt die Ergeb­nisse ungeprüft so auch »nieder­schmet­ternd« und schreibt das Ende des Kinos herbei. Die allge­meinen Zahlen der Studie sprechen jedoch gegen diese Sicht­weise. Um es vorweg­zu­nehmen: Kino­gänger sind eine über­durch­schnitt­lich unter­neh­mungs­lus­tige Spezies, anders als ihre Zeit­ge­nossen, die Couch­po­ta­toes.

Unter­neh­mungs­lustig: der Cineast

Durch­ge­führt wurde die Umfrage von dem nach strengen ISO:26362-Standards zerti­fi­zierten Unter­nehmen Full Circle Research Co., das seriöse Verbrau­cher-Umfragen durch­führt und einen großen Pool von poten­ti­ellen Umfrage-Teil­neh­mern hat. 1000 haben teil­ge­nommen, die Auswahl sei so getroffen worden, dass sie in etwa dem demo­gra­phi­schen Zensus entspre­chen, erklärt Statis­ti­kerin Julia Burke.

Die sichtlich um Reprä­sen­ta­ti­vität bemühte Studie hat zudem genau erfasst, ob die Teil­neh­menden als umfra­gere­le­vant einge­stuft werden können. Für den Part, der sich auf den Kino­be­such bezieht, konnte man sich wahlweise als »avid moviegoer«, »moderate moviegoer« oder »non-target« einstufen, also als soge­nannter »heavy user«, der viel ins Kino geht, als gemäßigter Kino­gänger oder als jemand, der aufgrund von Desin­ter­esse nicht zur Ziel­gruppe »Kino« zu rechnen ist. Aufge­schlüs­selt wurde dies nach Geschlecht und Alter. »Non-target« waren inter­es­san­ter­weise über­wie­gend Menschen über 50.

Eine ähnliche Einord­nung nimmt die Motion Picture Asso­cia­tion (MPA) vor (vergleichbar etwa mit der deutschen Spit­zen­or­ga­ni­sa­tion der Film­wirt­schaft) und erfasst in ihrem im März 2020 veröf­fent­lichten »2019 Theme Report« »40 million frequent movie­goers« (USA und Kanada werden hier zusam­men­ge­rechnet), also 40 Millionen Menschen, die regel­mäßig – gemäß MPA-Klas­si­fi­zie­rung monatlich ein Mal oder öfter – ins Kino gehen und für 47% des Umsatzes an der Kinokasse sorgen. Insgesamt gibt es in den USA und Kanada zusammen knapp 270 Millionen Kino­gänger, darunter auch die, die nur gele­gent­lich, aber mindes­tens einmal im Jahr einen Film im Kino sehen (11%). 24% der (US- und kana­di­schen) Bevöl­ke­rung sind »non-movie­goers«.

Allgemein fragte »Perfor­mance Research« zum Besuch von »Live Events«. Die über­ge­ord­nete Frage lautete: »How do you think your frequency of attending large public events (in general) will be impacted by your expe­ri­ence with the Coro­na­virus and social distancing?«

Inter­es­san­ter­weise wollen über­durch­schnitt­lich viele Cineasten, nämlich 27% der »avid movie­goers« mehr auf große öffent­liche Veran­stal­tungen gehen als vor Corona. Sie sind also allgemein unter­neh­mungs­lus­tiger als ihre Mitmen­schen, von denen nur 17% häufiger auf Events gehen wollen. Und dies, obwohl sie das Coro­na­virus etwas ernster nehmen, nämlich zu 88% (gegenüber durch­schnitt­lich 81%).

Zuerst kommt die Hygiene, dann das Vergnügen

Die psychi­sche Verfas­sung der Befragten ist nicht ganz unwichtig, wenn man bedenkt, dass es hier um die Selbst­ein­schät­zung zukünf­tigen Verhal­tens geht und nicht etwa um harte Fakten oder Berichte, die sich auf Vergan­genes beziehen. So sagen 47%, dass allein der Gedanke, auf ein größeres Event zu gehen, auf lange Sicht angst­ein­flößend sei (»will scare me for a long time«). Dazu muss man wissen, dass die Befragung zwischen dem 23. und 26. März stattfand, in einem Zeitraum also, in dem sich die Zahl der Infi­zierten in den USA schlag­artig verdop­pelte. Der daraus resul­tie­rende Psycho-Impact lässt sich auch an den Antworten zu den Sicher­heits­vor­keh­rungen ablesen. 66% der Befragten (72% der coro­na­sen­si­bleren Kino­gänger) halten nach Corona die Hygiene für wichtiger als vorher. Fun Fact: Nur 27% der insgesamt Befragten finden Gewalt oder gar »shootings« proble­ma­tisch für die Sicher­heit von Events. Hier hat sich eindeutig der Fokus verschoben. Man fürchtet Viren jetzt mehr als Amok­läufer oder Hooligans.

Wertvolle Veran­stal­tungen

Anders als »Variety« und »FAZ« vermelden, kann man der Studie außerdem noch eine gute Nachricht entnehmen. Es wollen zwei Drittel der Befragten an ihren Frei­zeit­ak­ti­vi­täten fest­halten, angeführt von Outdoor-Unter­neh­mungen (für 66% steht der Besuch von Zoos und Aquarien jetzt an erster Stelle), aber auch Museums- und Ausstel­lungs­be­suche stehen mit 65% hoch im Kurs. Verlierer sind derzeit die »major indoor concert venues« (56%), und die »major indoor sports venues« (58%). Unver­än­dert ins Theater gehen wollen 60%. 11% haben sich vorge­nommen, sogar noch häufiger ins Theater zu gehen als bislang – was auch als Indiz dafür gelten kann, dass Akti­vi­täten insgesamt mehr geschätzt werden. In der Summe erweisen sich die Cineasten als ausgeh­freu­diger. 58% von ihnen messen Veran­stal­tungen mehr Wert bei, aber auch 46% der allge­meinen Bevöl­ke­rung. 64% der Kino­gänger fühlen schon jetzt »ein ange­stautes Verlangen nach Veran­stal­tungen« (»a pent-up desire to attend the events I love«), aber nur 57% stehen »virtual reality expe­ri­ences« offener gegenüber als vorher. Von einer Kino-Aversion weit und breit also keine Spur.

Machen wir das Kinoleben stark

Sicher­lich ist das Kino jetzt mehr als sonst in Gefahr. Das aber liegt nicht unbedingt an den Menschen, die bereit sind, in die Kinos zurück­zu­kehren, sobald sie es dürfen. Nicht die »Wetware«, sondern die »Hardware« setzt den Kinos ökono­misch zu. Die Mieten werden den Kinos nicht erlassen, auch wenn sie derzeit keine Einkünfte erzielen. Miet­stun­dungen müssen bis 2022 zurück­ge­zahlt werden, was die Kinos nach Corona zusätz­lich belasten wird. Mitar­beiter*innen werden in die Kurz­ar­beit geschickt, was aber nicht heißt, dass für den Arbeit­geber jetzt keine Lohn­kosten anfallen. Je nachdem, wann die Kinos wieder öffnen, wird es noch dazu gerade Sommer sein, die schlech­teste Kinozeit im Jahr. Schon jetzt fehlen die Frühjahrs-Einnahmen, mit den wichtigen Film­starts der neuen Saison nach der Oscar-Verlei­hung und der Berlinale. Die Film­för­de­rungs­an­stalt FFA schreibt sehr richtig: »Nach Wieder­auf­nahme des Spiel­be­triebs können die Einbußen nicht aufgeholt werden.« Sie bietet aber keine zusätz­li­chen Gelder an, nur »Stun­dungen« bestehender Darle­hens­for­de­rungen oder ähnliches.

Die Kinos werden es also schwer haben, viel­leicht auch schwerer als andere Orte und Veran­stalter, die nicht so leicht durch Streaming substi­tu­iert werden können. Im Hinblick auf Artikel wie die der »Variety« oder »FAZ« sei hinzu­ge­fügt: Es wird auch an der Politik, an den Medien und an der daraus resul­tie­renden Stimmung liegen, wie wir das Kino in Zukunft wahr­nehmen. Wenn immer vom »Kinosterben« und »leeren Sälen« die Rede ist, kommen wir kaum umhin, es als vom Tod bedrohte kultu­relle Risi­ko­gruppe einzu­stufen. Am Ende kommen wir uns komisch vor, wenn wir wie der letzte Mohikaner an dieser über­al­terten Kultur­praxis fest­halten. Wir können das Kino aber auch als Sehn­suchtsort begreifen, der uns etwas zu bieten hat. Nämlich beste Technik, Dunkel­heit und konzen­triertes Zugucken während der groß­flächigen Projek­tion, Verab­re­dungen mit Menschen, das Reden nach dem Film. Kinos, das wissen wir seit dem Shutdown, sind Indizien für ein vitales Stadt­leben, stehen anders als das Sofa nicht für »social distancing«, sondern für »social bonding«.

Machen wir also von nun an das Kinoleben stark.