Heavy User vs Couch Potatoes |
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Ins Kino geht man am liebsten zu zweit. Hier: (500) Days of Summer |
Von Dunja Bialas
Kulturpessimismus first. So wie Lars Henrik Gass in seinem soeben neu aufgelegten Buch »Film und Kunst nach dem Kino« feststellt, verschwinden die Filme aus dem Kino. Die Digitalisierung der Kinos (einhergehend mit dem Verschwinden des Zelluloids und der Kopierwerke) muss als Wendepunkt der Filmauswertung gelten. Filme, die jetzt als Datei auf den großen Kino-Servern abgespielt werden, stehen von Anfang an für ihre schnelle Auswertung im Internet bereit. Seitdem verhält sich das Zeitfenster der Kino-Auswertung wie eine schmale Dachluke. Kaum hat man einen Film erspäht, klappt das Fenster schon wieder zu. Das gilt insbesondere für das Arthouse-Segment mit den künstlerisch und inhaltlich anspruchsvollen Werken. Die Programmkinos, die diese Filme spielen, haben meist nur einen bis drei Säle und müssen also einen Film hin- und herschieben oder ganz aus dem Programm nehmen, um anderen, nachdrängenden Filmen den Platz zu machen. Weder die Verleiher noch die Kinos haben außerdem ein nennenswertes Marketing-Budget, so dass viele Filme auch schlichtweg verpasst werden.
Bei den Blockbustern hingegen steht das Zeitfenster so weit offen wie ein Multiplex-Garagentor. Bei ihnen will das Verwertungsfenster einfach nicht zugehen, und sie verstopfen über Wochen das Kinoprogramm. Wie der deutsche Zuschauermillionär Fack ju Göhte in seinen ersten beiden Durchgängen oder seit den Siebziger Jahren die Star Wars-Filme. Das Auswertungstor wird von den Verleihern – bisweilen mit Auflagen, die die Kinobetreiber nicht mehr Herr im eigenen Hause sein lassen – so lange aufgehalten, bis auch der letzte interessierte Besucher den Blockbuster sehen konnte. So wird es dann auch im Dezember wieder sein, wenn Star Wars pünktlich zur Vorweihnachtszeit (die übers Jahr gesehen besucherstärkste Kinozeit) in die 8. Episode startet.
Während sich das Filmkarussell also einerseits immer schneller dreht, kommt es anderswo fast zum Stillstand. Der vordergründige, finanzielle Erfolg gibt dieser fragwürdigen Praxis ausnahmsweise aber einmal nicht Recht. Zumindest nicht, wenn man betrachtet, was dies auf längere Sicht für die Abspielstätten meint, wie jetzt eine aktuelle Studie der Filmförderungsanstalt (FFA) bekannt gemacht hat.
Im September vermeldete die FFA in ihrer jährlich durchgeführten Umfrage »Programmkinos in der Bundesrepublik Deutschland und das Publikum von Arthouse-Filmen« einen Rückgang der Kinobesucher von insgesamt dreizehn Prozent: achtzehn Millionen weniger Besucher gingen im letzten Jahr ins Kino. Das ist enorm und lässt unschwer folgern, dass das Kino auf dem Verliererposten steht, was die Filmauswertung anbelangt. Das ganze Kino? Nein, ein kleines Segment hält sich tapfer gegen den Angriff von Netflix & Co. Es ist, richtig, das Arthouse-Segment. Im Vergleich zu dem monströsen Rückgang beim Kinobesuch insgesamt verzeichnet es ein Minus von 1,6 Prozent. Das ist natürlich auch nicht schön. Aber es fällt auf, weil es so wenig ist.
Statt mit einem Kinosterben scheinen wir es hier mit einer Renaissance zu tun zu haben. Die Programmkinos haben seit letztem Jahr fast vierzig Leinwände mehr, was sich vor allem der Tatsache verdankt, dass umgebaut wird: von Ein-Leinwand-Kinos zu zwei oder drei Leinwänden im selben Haus. Dabei werden die Säle zwar kleiner, dafür aber die Programmflexibilität größer, was mehr Filme und Zuschauer bedeutet. Denn, wie die FFA-Studie auch gezeigt hat, dürfen die Programmkinos zu ihren Kunden sogenannte »Heavy User« zählen: Mit sieben und mehr Besuchen im Jahr hängen sie die Couch-Potatoes der Multiplexe mit schlappen ein oder zwei Kinobesuchen locker ab.
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In München haben gerade zwei Kinos erfolgreich umgebaut. Das Neue Maxim in Neuhausen, das nach dem Aus des alten Politkinos von Sigi Daiber wie Phoenix aus der Asche stieg, hat nun einen zusätzlichen Saal im Keller. Das Neue Rex in Laim hat letzten Sommer renoviert und verfügt jetzt über zwei schmucke Säle (siehe unsere Vorher-Nachher-Kinoportraits).
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Nach der Formel »aus eins mach zwei«, die so alt ist wie die erste Kinokrise in den 1950er Jahren, als riesige Filmpaläste verkleinert wurden, oft sogar ohne einen zusätzlichen Saal einzuziehen wie im Fall des über hundertjährigen Münchner Sendlinger Tor Kinos, heißt das Zauberwort heute »Nachhaltigkeit«. Die AG Kino, auch bekannt als Gilde deutscher Filmkunsttheater, hat dies in einem Papier festgehalten, das mit »Eckpunkten für die Film- und Kinopolitik 2017-2021« Gegenstand des neuen Koalitionsvertrags werden soll. Der Politik in der Krise ruft sie zu: Den Kulturort Kino stärken, damit das Kino nicht in die Krise kommt!
Als »nachhaltig« gilt ein Kino, wenn Infrastruktur (ein guter Kinosaal) und ein starkes Programm gegeben sind, die für Vielfalt in einer niedrigschwelligen »Alltagskultur« und für »Cinema Experience« sorgen. Mit letzterem meint die AG Kino eine »Erhöhung der Aufenthaltsqualität«, was bessere Technik und damit ein tolleres Filmerlebnis beinhaltet, aber auch ein gemütlicheres Foyer, italienischen Kaffee, Craft-Bier und Wasabi-Pop-Corn meinen könnte.
Entscheidend ist, das weiß die Kino-Gilde, die Publikumsbindung. Daher schreibt sie auch: »Lokales Marketing ist von steigender Bedeutung«, es gehe um »innovative Projektmaßnahmen zur Publikumsentwicklung«.
Zwei Kino-Unternehmen denken gerade intensiv über diese Art der Kundenbindung nach. Die Berliner Yorck-Gruppe, als »Europäischer Kinobetreiber des Jahres 2003« schon früh als Big Player im Arthouse-Segment ausgezeichnet (ihr gehören in Berlin 13 Kinos an), und die Münchner »Monopolisten« (den Betreibern des Arena- und Monopol-Kinos gehören außerdem noch Lichtspielhäuser am Ammersee und in Gera) entwickeln, jeder für sich, ein digitales Kinomarketingtool, zur »Umsetzung eines nachhaltigen und datenbasierten Kundenbindungssystems«. Der FFA ist dies immerhin insgesamt über 200.000 Euro wert, wie Mitte November mit Veröffentlichung der bundesweiten Kinoförderung bekannt wurde.
Was aber verbirgt sich hinter diesem ganzen Wortgeklingel?
Im Grunde, so erklärt es Monopol-Kinobetreiber Christian Pfeil, ist damit eine Kundenbindung ans Kino gemeint, die sich sozusagen dem Kassensystem verdankt. E-Commerce, wie es im Internet schon lange Usus sei und worüber sich keiner mehr aufrege (siehe der Amazon-Algorithmus), ist hier das Vorbild. Wer möchte, kann sich also im digitalen Zeitalter aufgrund seiner Besucherdaten, die er beim Kinobesuch hinterlassen hat, das Kinoprogramm maßgeschneidert per Newsletter zukommen lassen und das Ticket auch gleich online kaufen. Für den gebuchten Kinobesuch allerdings müsste dann das Haus verlassen werden.
Das klingt nicht so futuristisch, wie es in Wirklichkeit ist. Denn die FFA hat herausgefunden, dass der Kinobesucher sich noch ganz wie im analogen Zeitalter verhält. Mehrere Tage vorher verabredet man sich zum Kinobesuch (59%), am liebsten zu zweit, wenn es aber soweit ist, hat man nicht vorgeplant: Dreiviertel der Kinotickets werden direkt an der Kinokasse gekauft; übers Internet erwerben ihre Kinokarte nur magere sechzehn Prozent. Das betrifft nicht nur die technikfernen Arthousebesucher (die meist »Best-Ager« über fünfzig sind), sondern den Kinobesuch insgesamt.
Mit ihrem Appell an die Politik macht die Kino-Gilde deutlich, dass es ohne Subvention auch im kommerziellen Arthouse-Bereich nicht geht. Wenn Technik und Ausstattung nicht mehr State of the Art sind, bleiben die Zuschauer weg, es drohe ein »erneutes Kinosterben«. »Die Erlösstruktur erlaubt nicht den Erhalt der kostenintensiven Spielstätten«, sagt die Gilde. Dem begegnen die verschiedenen Fördergremien mit ihren Kinoprogrammpreisen, deren Gesamtvolumen in den letzten Jahren stark angestiegen ist. Die BKM (Beauftragte für Kultur und Medien) vergibt jährlich bundesweit 1,5 Millionen Euro, auf Landesebene macht dies in Bayern der FFF (FilmFernsehFonds), der vergangene Woche im Fürther Babylonkino knapp 400.000 Euro an sechzig bayerische Filmtheater verlieh. Auf kommunaler Ebene macht München Schule, wo der Stadtrat im Herbst eine Erhöhung der Kinoprogrammpreise beschlossen hat. Statt (sechs Mal) 5000 Euro winken ab nächstem Jahr 7500 Euro all jenen, die ein »künstlerisch und soziokulturell wertvolles Programm bieten«.
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Münchner Klassenprimus mit den höchsten Auszeichnungen 2017 sind die »Monopolisten« mit Arena und Monopol, gefolgt von den Triple-Gewinnern (Bund, Bayern und München) Werkstattkino und Rio Filmpalast. Freuen können sich auch die denkmalgeschützten Filmhäuser Theatiner Filmkunst und Sendlinger Tor mit je zwei Preisen. Mit je einem Preis ausgezeichnet wurden das Arri, das am Ende des Jahres für einen Umbau auf drei Säle vorübergehend schließt, das ABC Kino, das Studio Isabella, das Rottmann und die Museum Lichtspiele, die schon Karl Valentin besuchte.
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All die Investitionen, das Nachdenken über Nachhaltigkeit, die Innovationen auf dem Sprung in die Zukunft und vielleicht auch ein interessantes erstes Kinohalbjahr haben den Kinos insgesamt, und das ist die gute Nachricht zum Schluss, erstmals wieder mehr Besucher und Umsatz beschert. Nicht nur die Kinos und die Verleiher profitieren davon: Von einem Gang ins Kino hat das ganze Stadtleben etwas. Menschen auf der Straße, im Café oder in der Kneipe anstatt auf dem Sofa! Und was tut man dann? Miteinander reden. Über den Film, den man gerade gesehen hat, oder einfach nur so. Das nennt sich dann kulturelle Praxis und erinnert an die alte Idee vom Menschen als Gemeinschaftswesen.
Lektüretipp:
Lars Henrik Gass, »Film und Kunst nach dem Kino«, Strzelecki-Books 2017, aktualisierte und erweiterte Neuauflage, 160 Seiten, 14,80 Euro