Gestrandet auf Corona Island
Über Bilder der Krise |
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Szene aus Apichatpong Weerasethakuls Tropical Malady |
Von Sedat Aslan
Weit vor ihnen rangieren gerade in einer Pandemie die Zahlen – tagtäglich beschäftigen wir uns mit Statistiken, mathematischen Funktionen und deren grafischer Darstellung. Dies unterscheidet sich deutlich vom Umgang mit dem 11. September, der gerade in den USA oft als Vergleich für das Ausmaß der aktuellen Krise herangezogen worden ist. Das Virus ist nun einmal nicht sichtbar, und etwas Unsichtbares kann man lediglich auf indirekte Weise zeigen. Mit seinen gesundheitlichen Auswirkungen wie etwa überfüllten Intensivstationen und Leichenbergen wird vergleichsweise zurückhaltend umgegangen, sie werden von den Medien nicht pausenlos illustrativ ausgeschlachtet wie die zweifelsohne viel bildgewaltigeren Explosionen und Schuttberge dieses verhängnisvollen Tages im Herbst 2001 (was neben dem menschlichen Drang, das Unfassbare fasslich zu machen, immer einen Aspekt von Bildern als politisches Instrument, etwa als Propaganda zum Zwecke der Kriegsführung, beinhaltet – auch in der jetzigen Krise wählen einige Regierungschefs bewusst den Krieg als Metapher).
Die Zurschaustellung von kranken Menschen wäre bei allen ethischen Bedenken gleichwohl nicht alleine negativ zu betrachten – wer sich an die Anfänge von AIDS erinnert, weiß noch genau, wie solche Bilder auch dazu beitrugen, ein dringend notwendiges Bewusstsein für die als rätselhaft bis abstoßend empfundene neue Krankheit und ihre Opfer zu schaffen und sie über viele Jahre hinweg begreiflich zu machen.
Bilder haben aber nicht nur einen nach vorne gerichteten Effekt, sie
beeinflussen auch, wie etwas in der Rückschau wahrgenommen wird, formen die Erinnerung. Der Kunsthistoriker Jürgen Reiche schreibt: »Unsere Erinnerung an die Vergangenheit lebt in Bildern[…] In ihrer Summe sind sie Dokumentationen einer oder der Wirklichkeit – das Abbild einer individuellen Welt, zugleich immer auch Teil einer kollektiven Reproduktion von Wirklichkeit.« Von der Spanischen Grippe haben wir auch deswegen einen nur sehr vagen Begriff, weil
davon das eine prägnante Foto im kollektiven Bewusstsein nicht existiert – sieht man sich jedoch die Wikipedia-Seiten dazu an, bekommt man insbesondere über die Bilder plötzlich eine Art rückwirkendes Gefühl dafür.
Wie also wird sich an Corona erinnert werden? Welches Bild wird stellvertretend dafür stehen, in Jahresrückblicken und Almanachs gezeigt werden, irgendwann gar in den Geschichtsbüchern landen? Auch wenn diese Frage noch nicht abschließend beantwortet werden kann, lohnt es sich, eine Zwischenbilanz zu ziehen.
Könnten es Bilder der handelnden Köpfe der Weltpolitik sein, etwa Trump oder Merkel? Am ehesten hätte ein Bild Boris Johnsons auf der Intensivstation dafür das
Potenzial, das es aber dankenswerterweise nicht gibt. Sind es die an der Seite der Mächtigen plötzlich im Fokus stehenden Wissenschaftler wie Fauci und Drosten? Unter »Fauci Facepalm« kann man eines der im doppelten Sinne viralen Bilder dieser Zeit googeln.
Ist es das Bild vom abgesperrten Markt in Wuhan, der als erster Hotspot der Pandemie gilt, oder dem geschlossenen Kitzloch in Ischgl, von dem aus Hunderte von Infektionen in ganz Europa zurückverfolgt werden konnten? Sind es
unsere »Helden des Alltags«, die Kassierer*innen, die Kunden vor Plexiglasscheiben bedienen, oder das komplett in Schutzkleidung gehüllte Gesundheitspersonal in Kliniken und an Drive-In-Teststationen? Oder eben doch das stumme Grauen der Leichenberge in Italien und New York, die auf den Abtransport durch Kühllaster warten?
Für den Spiegel-Journalisten Marius Mestermann ist es klar: es ist das Foto eines aufgebrachten Anti-Shutdown-Mobs, das der Lokal-Fotojournalist Joshua Bickel am 13. April vor dem Regierungssitz in Ohio schoss. Hier ist der volle Zorn der Demonstranten in ihren zur Fratze verzerrten Gesichtern zu spüren, Guy-Fawkes-Maske und Trump-Mütze inklusive. Es ist ein
Bild wie aus einem dystopischen Genrefilm, The Purge meets Dawn of the Dead, man steht als Betrachter wie vor einer zweidimensionalen Leinwand, wehr- und ausweglos angesichts dieser erregten Menschenmenge, und bangt darum, dass die Türen ihr standhalten mögen. Das nicht totzukriegende Unwort des
»Wutbürgers« zeigt sich in wohl keinem Foto so unverblümt wie hier, das Bild transportiert die raue und ungefilterte Energie eines extremen Gefühlszustandes, in der internationalen Presse ist es deswegen sogar mit Munchs »Der Schrei« verglichen worden, und eben diesen kann man in diesem Bild zweifelsohne sehen, wenn nicht gar hören.
Als deutsches Pendant gilt das Reuters-Foto vom 18. April von einer Demo in Berlin, bei der Demonstrantinnen einen direkt vor ihnen stehenden Polizisten anschreien, der machtlos zur Seite blickt, während das turbulente Geschehen aus dem Hintergrund von einer Vielzahl gezückter Smartphones festgehalten wird. Die An- und Abwesenheit von Mindestabstand und Mundschutz zeigt den enormen Kontrast zwischen den
beiden (Ordnungs-)Welten, die hier aufeinanderprallen.
Wahrscheinlich spiegeln keine Bilder die heutige Zeit besser wider als die beiden genannten, in der klar wird, wie fragil der vielbeschworene gesellschaftliche Kitt tatsächlich ist, wenn es drauf ankommt.
Es gibt aber noch ein anderes Foto, das geeignet ist, stellvertretend für zumindest einen Aspekt der Corona-Krise zu stehen: Es ist das Bild der nach einer Zehn-Stunden-Schicht mit dem Kopf vor einer Computertastatur schlafenden Krankenschwester Elena Pagliarini, fotografiert am 8. März von der Ärztin Francesca Mangiatordi, ihrer Kollegin im Krankenhaus von Cremona.
Dieses Bild visualisiert nicht nur die Schreckensvision vom Crash des Gesundheitssystems und der Hilflosigkeit seines Personals in einer Situation permanenter Überforderung, sondern stilisiert es auch zu stummen, verletzlichen Helden, fernab jedweder
heroischer Pose. Wie im Serienklassiker „ER“ erstmals für ein großes Publikum dargestellt, gibt es in einer echten Notaufnahme keine überlebensgroßen Halbgötter in Weiß, sondern »nur« Menschen, die einen viel undankbareren und dreckigeren Job zu erledigen haben, als sonst durch fiktionale Erzählungen vermittelt. Erst auf dem zweiten Blick erkennt man an der
Unterlage und der zur Seite gelegten Brille, dass die Krankenschwester auf dem Foto nicht unvermittelt bei der Arbeit kollabiert ist, sondern lediglich um ein paar Minuten Ruhe ringt, was den Eindruck des Bildes von erschütternder Hoffnungslosigkeit zu einer leisen Poesie verschiebt.
Die Perspektive ist unverhohlen voyeuristisch, wie es auch dem Kino zu eigen ist, man fühlt sich ertappt, einem Menschen in solch einem verletzlichen Moment über die Schulter zu blicken, will
sich abwenden und muss es doch weiter betrachten, während sich jenseits aller Fakten und Zahlen eine Idee davon formiert, welch unfassbares Leid sich in italienischen Kliniken abgespielt haben muss. Alles, ohne den Horror direkt zu zeigen, sozusagen über Bande gespielt, dabei den Kopf des Betrachters aktivierend – so gesehen entspricht das Bild trotz allen Naturalismus exakt der Definition von Propaganda, die etwa der »Filmminister« Goebbels vertrat, und nicht umsonst
erinnert es an die zahllosen Fotos ausgelaugter Soldaten an der Front (z. B. https://networks.h-net.org/battle-thiepval). Hier hätte eine Art Opferpathos geschürt werden können, daher ist dankend hervorzuheben, dass das Bild bislang von keiner Seite für ihre Zwecke missbraucht wurde. Elena Pagliarini wurde übrigens zwei Tage nach der Entstehung dieses Fotos positiv auf Covid-19
getestet; sie hat die Infektion mittlerweile überstanden.
Die Pole zwischen diesen gleichermaßen ausdrucksstarken und doch so gegensätzlichen Fotos scheinen den Bereich zu markieren, in dem sich diese Krise abspielt; gerade deswegen könnten sie tatsächlich in den Geschichtsbüchern landen.
Vielleicht ist es aber auch kein einzelnes Bild, sondern so etwas wie eine Chimäre aus den vielen in den sozialen Netzwerken kursierenden Snippets, den als Jpegs angehängten oder hinter solchen verlinkten Aufrufen und Parolen, Pressemitteilungen,
Interviews, Vergleichen und Datenblättern. Das abertausendfach gezeigte Kurvendiagramm, das beide Extremszenarien illustriert, oder auch der für den schnellen Konsum als Häppchen in Bildform gebrachte, simplifizierte Vergleich von Corona- und Influenza-Toten (es bestätigt sich unter dem Eindruck dieser Krise einmal mehr, dass Facebook nach seinen banalen Anfängen als Kontaktmöglichkeit zu Leuten, die man im wirklichen Leben kaum sieht und auch nicht unbedingt permanent
sehen will, erst zu einem hyperkommerziellen Schaufenster der digitalen Zweitexistenz – bevor das bei Instagram besser ging – und jetzt längst schon zum perfekten Propaganda-Marktplatz mutiert ist).
Laut Jürgen Reiche manifestiert die ständige Präsenz ausgewählter Fotos Bildikonen. Man kann also das bisherige Fehlen einer Corona-Bildikone darauf zurückführen, dass keines der auch hier erwähnten Bilder ständig präsent ist. Es ließe sich argumentieren, dass Bilder
im Zeitalter der Digitalisierung, welche im historischen Kontext betrachtet tatsächlich wie eine Sturmflut in unser aller Leben eingebrochen ist und unser altes Denken umgewälzt hat, nicht mehr singulär dastehen, sondern an ihre Stelle vielfältige Mosaiken aus Informationen und Eindrücken getreten sind, also puzzleteilartige Fragmente, die nur im Kopf individuell zu einem einzelnen Bild verdichtet werden können – #flattenthecurve neben #justaflu,
Quasi-Wortmarken gleichberechtigt neben Bildern, Zahlen und anderen Zeichen.
Wenn ein Bild immer polysemisch ist, wie Roland Barthes behauptet, kann sich Polysemie dann nicht auch in Form eines einzelnen Bildes manifestieren?
Für mich am eindringlichsten ist aber ein anderes bildliches Phänomen. Auch das kein Einzelbild, aber viel konkreter als die angesprochene Chimäre; quasi eine Fotoreihe, die jedoch nicht als solche konzipiert ist, von verschiedenen Fotografen stammt, sich über den ganzen Erdball erstreckt und sich dennoch als eine Beschreibung ein und desselben Zustands harmonisch zusammenfügt – die Bilder, aus denen sie sich formiert, sprechen zu uns vor allem über eine Leerstelle, und
diese Leerstelle ist der Mensch.
Der Ernst der Lage und erst recht die Hysterie darum scheinen Wildtiere nämlich nicht zu kümmern, im Gegenteil, die von Menschen für Menschen verhängten Ausgangssperren kommen ihnen ganz gelegen für einen Ausflug in bisherige No-Go-Areas. Sikahirsche in Nara/Japan, die ihr Habitat verlassen und ohne jede Scheu in den leergefegten Straßen der Stadt umherwandern; Kaschmirziegen in Llandudno/Wales, die Hecken und Sträucher in öffentlichen Gärten
abgrasen; frei umherlaufende Kojoten in San Francisco sowie Pumas in Colorado und Santiago de Chile; Wildschweinrudel mitten in Rom und Barcelona. Die Meldung von Delfinen in Venedig ist zwar ein Fake – die Wassersäuger tummeln sich wie auch früher in den Häfen von Cagliari und Triest, ohne Bootsverkehr allerdings deutlich entspannter – jedoch erscheint in der Kanalstadt das Wasser nun kristallklar, weil die stillstehenden Gondeln kein Sediment mehr aufwirbeln,
Quallen, Fische und Wasservögel ziehen ungestört ihre Runden; während sie sich draußen frei bewegen können, sitzen wir in einer Umkehrung des bisherigen Kräfteverhältnisses drinnen im Käfig. Es gibt unzählige solcher Geschichten auf der ganzen Welt (hier zwei Beispielfotos aus dem Guardian und SFGATE).
Am liebsten würde man dieses Experiment weiter beobachten, wäre man nicht auf der anderen Seite. Nikolaus Geyrhalter zeigt in seinem dokumentarischen Werk Homo Sapiens von Menschen verlassene Orte, die ebenso zu einer Reflektion über die Leerstelle Mensch einladen. Die aufgrund des Themas natürlich unumwunden spekulative, aber unterhaltsame Dokureihe Life After People von 2008 bebildert das Szenario einer plötzlich verschwundenen Menschheit – Gebäude verfallen, Asphalt wird überwuchert, parallel zur Flora hält die Fauna in vormals betongrauen Arealen Einzug. Diese Vision erstreckt sich behäbig über mehrere Jahrtausende; wer hätte schon gedacht, dass in Wirklichkeit bereits wenigen Wochen stillgelegter Zivilisation die Natur mit dem »Rollback« beginnt und sich ihren Lebensraum vorsichtig zurückerobert. Es ist offenkundig wie mit dem Rauchen, bereits nach einem Tag fängt die Lunge an, sich vom ganzen Teer zu befreien. Selbst ohne Sinn für Humor ist anzuerkennen, wie gewitzt Mutter Erde uns vorführt, wie entbehrlich wir für sie sind, während wir, aus dem heimischen Gefängnis ins Kino der Welt hinausstarrend, diese bittere Satire tatenlos mitansehen müssen.
Was Menschen meistens verdrängen, dafür hat man auch als Nicht-Esoteriker nun eine lebendige Vorstellung: lange, nachdem das letzte Licht über die Leinwände geflimmert ist, wird sich der viel epischere Film auf den Überresten unserer Kinosäle abspielen. Deswegen sollte man als filmische Begleitung dieser Tage nicht bei solchen Pandemie- und Endzeit-Klassikern wie Contagion, I Am Legend, 28 Days Later usw. stehenbleiben. Schon immer Recht hatten und, das erscheint jetzt umso klarer, auch bis zum Schluss Recht behalten werden die Pantheisten und Naturphilosophen unter den Filmemachern, Regisseur*innen, die eine beseelte Natur und das Verhältnis von Zivilisation und der Conditio Humana zu ihr behandeln. Dazu zählen verhältnismäßig »junge« Größen des Weltkinos wie Apichatpong Weerasethakul, Lav Diaz, Ciro Guerra, Kelly Reichardt und Semih Kaplanoglu, aber auch Altmeister wie Werner Herzog, Peter Weir und natürlich Terrence Malick. Elemente dessen finden sich bei den Klassikern Andrei Tarkowski und Satyajit Ray, Nicolas Roegs Walkabout und Abbas Kiarostamis Five – Dedicated to Ozu sind ebenso zu nennen – die Liste ließe sich problemlos fortführen.
Der momentane Shutdown der Spezies Homo Sapiens ist ein guter Grund, sich mit dem Werk dieser Künstler im »Home Cinema« verstärkt auseinanderzusetzen, denn all diese Filme schaffen es dann doch, was ich eingangs in Bezug auf das Virus als Paradox ausgeschlossen hatte: in ihren Bildern etwas nicht Sichtbares zu zeigen, das trotz aller Flüchtigkeit doch so gewaltig ist und neue, unverstellte Perspektiven auf unsere Zeit jenseits tagesaktueller Thesen zu eröffnen vermag – bis endlich das Licht in den Kinosälen wieder (und hoffentlich für lange Zeit unterbrechungsfrei) zu flimmern beginnt.