21.05.2020

Die geteilte Leinwand

Die Känguru-Chroniken
Das Känguru liest von sich wieder in der Zeitung
(Foto: X-Verleih)

Deutschland zeigt sich auch bei den Kinowiedereröffnungen als Flickenteppich. Warum es keine gute Idee ist, die Kinos jetzt, hopplahopp, zu öffnen

Von Dunja Bialas

Monsieur Cinéma ist tot. Die Nachricht vom Ableben der fran­zö­si­schen Schau­spiel­le­gende Michel Piccoli nahm die Cineasten weltweit emotional mit. Fast war es, als wollte Piccoli uns allen mit seinem Tod mitteilen: Hier möchte ich nicht mehr zusehen, ich haue ab. Wie in Habemus Papam – Ein Papst büxt aus (2011), dem Film von Nanni Moretti, wo sich Piccoli (als Papst) aus dem Staub macht, einfach so, weil ihm der Prunk und die Herr­lich­keit zuviel des Gedöns sind und er sich nach mehr Mensch­lich­keit sehnt.

Wenn Cannes ausfällt und alle Kinos zu sind, ist kein Platz mehr für mich auf der Welt, mag er sich gedacht haben. Er wurde 94 Jahre alt.

Das Kino ist mit dem heutigen Tag 125 Jahre alt.

Kino – der todkranke Patient?

Viele haben dem Kino schon oft und immer wieder nach­ge­sagt, es würde nur noch künstlich am Leben gehalten werden, läge wie ein Patient der Corona-Risiko-Gruppe am Beatmungs­gerät. Wenn eines starb, dann hat man das hinge­nommen. Dass oft die Immo­bi­li­en­preise die Triage besorgten, geriet in den Medien meist aus den Augen. Das Sterben der Kinos sei der natür­liche Wandel, hieß es. Zuhause habe man jetzt nicht nur den Fernseher, der in den 1950er Jahren die Kinos wie unter der Spani­schen Grippe hinweg­raffte, sondern auch alle möglichen Strea­ming­dienste.

Filme werden jetzt oft im Brief­mar­ken­format geguckt. Oder es werden nebenbei E-Mails und die Social Media-Kanäle gecheckt. Daumen rauf, gefällt mir, let’s share it.

Entspre­chend groß ist die Empörung der Cineasten, die nicht müde werden, den Film als Kunstform zu vertei­digen. »Kino – dafür werden Filme gemacht«, heißt eine Werbe­kam­pagne, die 2006 lanciert wurde. Wie wahr und auch wie unwahr. Im Zuge der Digi­ta­li­sie­rung, bei der die Kino­branche begeis­tert mitmachte und mit großem Schwung die analogen Projek­toren und das Zelluloid auf den Müll warf, weil sie sich eine bessere Verfüg­bar­keit der Filme erhoffte, hat man an eines nicht gedacht: dass die Filme nun auch ohne Abspiel­stätte das Publikum erreichen.

Manche Film­wis­sen­schaftler (Anmerkung: wie zum Beispiel David Bordwell oder Experten des Fraun­hofer-Instituts, die erschwing­liche Digital-Projek­toren für die geschröpften Kinos entwerfen, die als Endver­brau­cher wie jeder Computer-User jetzt fort­wäh­rend tech­ni­sche Updates instal­lieren müssen, mit entspre­chender Nach­rüs­tung der Hardware) sind sogar der festen Über­zeu­gung, die Digi­ta­li­sie­rung wäre aus rein indus­triell-wirt­schaft­li­chen Gründen voran­ge­trieben worden – mehr Profit, trotz leerer Kassen. Man muss dies nicht als Verschwö­rungs­theorie nehmen, um zu glauben, dass die wieder abge­flaute 3D-Welle als Kata­ly­sator des Prozesses wirkte. Avatar (2009) gilt als digitaler Sünden­fall, der die endgül­tige Vertrei­bung aus dem Analog-Paradies markiert. (Anmerkung: Eine zweite 3D-Welle ist nicht in Sicht.)

Cine­phagie, Demo­kratie und System­re­le­vanz

Heute wissen wir dreierlei. Erstens: Die Dicho­tomie Kino versus Streaming ist nicht aufrecht­zu­er­halten. Zu groß ist die Leiden­schaft der Cine­phagen, der medialen Alles­fresser, für das Bewegt­bild. Zweitens kris­tal­li­siert sich nach zwei Monaten Kino­schließung heraus, dass wahr ist, was die Vertei­diger der Kinoorte mantramäßig wieder­holen: Kinos sind Orte kultu­reller Praxis, stiften Gemein­schaft und Diskurs und sind insgesamt demo­kra­tie­bil­dend. »Kultur und Medien sind für das Zusam­men­leben in unserer Demo­kratie zentral«, heißt es so auch in dem Eckpunkte-Papier der Kultur­mi­nis­ter­kon­fe­renz vom 20. Mai 2020. »Sie ermö­g­li­chen Teilhabe und Zusam­men­halt der Gesell­schaft – das zeigt sich in diesen Tag deut­li­cher als zuvor.«

Und drittens: Kinos sind, wirt­schaft­lich betrachtet, system­re­le­vant. Ein Posi­ti­ons­pa­pier der SPD-Bundes­tags­frak­tion vom 12. Mai 2020 stellt unter dem Punkt »Film­för­de­rung stabi­li­sieren« heraus, dass »allein durch den Wegfall der Kino­ab­gabe der FFA (Film­för­de­rungs­an­stalt) voraus­sicht­lich 10 bis 15 Mio. Euro für den laufenden Haushalt fehlen. (…) Für das Jahr 2020 reden wir von 20 bis 25 Mio. Euro Liqui­di­täts­aus­fall bei der FFA. Aber auch im Jahr 2021 wird es absehbar zu Ertrags­aus­fällen kommen.«

Was verbirgt sich hinter diesen Ertrags­rech­nungen, und was hat das mit dem Kino zu tun? Kinos sind Teil des großen Film­pro­duk­tions- und Film­aus­wer­tungs­kreis­laufes. Die soge­nannte Film­ab­gabe finan­ziert sämtliche Förder­maß­nahmen der FFA, also auch neue Film­pro­jekte. Nicht alle müssen die Film­ab­gabe entrichten, nur wenn der Vorjah­res­um­satz 100.000 Euro über­steigt, und auch nur, wenn im aktuellen Jahr überhaupt Geld durch das Abspielen von Filmen einge­nommen wird. Das fällt jetzt weg.

Kein Geld in den Früh­lings­mo­naten, deutlich weniger Einnahmen in den kommenden Sommer­mo­naten (wegen redu­zierter Saal­aus­las­tung, weniger Vorstel­lungen, ängstlich wegblei­bender Besucher und wegen den Bier­gärten), und kaum ein großer Filmstart, der ordent­lich Geld in die Kassen spülen kann. Und selbst wenn. Das Hygie­ne­gebot der redu­zierten Auslas­tung, die irgendwo zwischen 30 bis 50% herum­düm­peln wird, fällt erst weg, so der Vorsit­zende der Kultur­mins­ter­kon­fe­renz Bernd Sibler, wenn es einen Impfstoff gibt. Das kann dauern, auch wenn das Rennen um die Impf­stoff­ent­wick­lung eröffnet ist.

So ist unwahr­schein­lich, dass die Demar­ka­ti­ons­linie von den großen Film­ab­gabe-Kinos dieses Jahr über­schritten wird, was sich wiederum auf das kommende Jahr auswirkt. Übrigens sind auch Video-on-Demand-Anbieter abga­be­pflichtig, ab einem Jahres­um­satz von 500.000 Euro. Weitere Details gibt es hier nach­zu­lesen.

Der 12-Millionen-Euro-Coup

Eigent­lich ist die Film­ab­gabe ein uner­war­teter Glücks­fall für die Kinos, die 2009 erfolglos gegen die Abga­be­pflicht geklagt hatten. Denn jetzt sind sie ein wichtiges Zahnrad im großen Räderwerk. Viel­leicht würden sie sonst von den Verant­wort­li­chen geopfert werden, die über­durch­schnitt­lich lange gebraucht haben, um zu verstehen, dass Kinos Kultur­stätten sind und keine Variante von Saunas, Bordell­be­trieben oder Spiel­ca­sinos, wie die »Baye­ri­sche Notbe­kannt­ma­chung« noch am 16. April 2020 reiht.

Jetzt aber hat man sich daran erinnert, dass Kinos zur Kultur gehören. Soweit man das bei dem bundes­weiten Flicken­tep­pich überhaupt über­bli­cken kann, wurde in Bayern am vergan­genen Donnerstag der deutsch­land­weit größte Rettungs­schirm für die Kultur aufge­spannt: 200 Millionen Euro. Darunter fallen die Insti­tu­tionen, aber auch die Künst­le­rinnen und Künstler, die jetzt Corona-Hilfe bean­tragen können. Das gilt auch für die Gewerke, die mit den Künstlern asso­zi­iert sind (Bühnen­tech­niker oder Kame­ra­leute zum Beispiel) und für freie Jour­na­listen. Der Antrag kann hier gestellt werden.

Zum Vergleich: Hessen, so ergeben die mühsamen Recher­chen im Netz, stellt 50 Millionen Euro für die Kunst- und Kultur­branche bereit. NRW hat von anfäng­lich 5 auf 32 Millionen Euro aufge­stockt. Der »Master­plan« von Baden-Würt­tem­berg sieht 45 Millionen Euro für die Kultur vor.

Die baye­ri­sche Digi­tal­mi­nis­terin Judith Gerlach hingegen hat 12 Millionen Euro allein für den Neustart von 260 baye­ri­schen Kinos. Das Geld soll den Bestand der Kinos in der Fläche sichern und eine Hilfe für den redu­zierten Notbe­trieb bieten, damit die Kinos, auch aus oben genannten Gründen, wieder öffnen können – und dennoch nicht drauf­zahlen oder gar drauf­gehen.

Flicken­tep­pich­wie­dereröff­nungs­orgie

Die Wiedereröff­nung will gut vorbe­reitet sein. In Hessen wurden die Kinos von der plötz­li­chen Betriebs­er­laubnis für den 9. Mai durch die Politik über­rum­pelt – nur zwei folgten bislang der Lizenz zum Spiel­be­trieb. Ähnlich ist es in Sachsen, wo die Kinos seit dem 15. Mai wieder öffnen dürfen. Nur zwei Leute pro Reihe, heißt es, aber nur, wenn rechts und links von den Sesseln ein Gang zum Klo möglich ist. Sonst nur einer. Und: es gibt keine neuen Film­starts, oder fast keine. Daher dröppeln jetzt auch Filme wie Die Känguru-Chroniken, der bereits als Stream für 4,99 Euro auf der virtu­ellen Rester­ampe verramscht wird, oder Das perfekte Geheimnis auf die Leinwand.

Prompt meldet die erste Studie: »Kino­gänger zeigen sich nach schnellen Kino­wie­dereröff­nungen zurück­hal­tender als noch vor einem Monat.« Komisch. Warten doch die Kinos mit abge­stan­denen Gassen­hauern auf, konnten in der kurzen Zeit keine Kampagne für die Wiedereröff­nung gestartet und auch keine ordent­li­chen Programm-Konzepte erar­beitet werden!

Dieselbe Studie hat aber auch heraus­ge­funden, dass das Kino mehr denn je dem Publikum fehlt. Der Zeitpunkt der Eröffnung wird schlicht als zu früh empfunden. Warum ist das Publikum nur schlauer als die Politiker?

Favo­ri­siert wird daher von den meisten Kino­be­trei­benden eine bundes­weite Wiedereröff­nung (ein möglicher Termin wäre der 2. Juli), damit kleinere und größere Filme überhaupt vernünftig starten können, mit entspre­chender Vorlauf­zeit für die Bekannt­ma­chung. Im Eckpunk­te­pa­pier der Kultur­mi­nister jedoch fehlt die erwartete Termin­emp­feh­lung. Das lässt darauf schließen, dass es wohl bei der Flicken­tep­pich­wie­dereröff­nungs­orgie bleiben wird. Was auch gefähr­lich ist: Wenn die Kinos nicht mitziehen, weil sie keine Zeit haben, rentable Geschäfts­mo­delle mit den Verant­wort­li­chen auszu­han­deln, werden wohl viele kleinere Film­theater nicht überleben. Schon jetzt meldet die FFA erste Insol­venzen. »The survival of the fittest« heißt das bei Darwin: das Überleben der Ange­passten.

Wenn die kleinen abstands­un­fähigen und damit nicht anpass­baren Programm­kinos, die in den FFA-Kino-Studien der vergan­genen Jahre als stark und vital beurteilt wurden, aufgeben müssen: dann könnte das auch das Ende des Kinos sein, das wir lieben. Wenn am Ende überall nur noch die Mono­kultur des Perfekten Geheimnis herrscht, dann müssen wir eben wieder streamen.

Aber: Noch ist es nicht soweit.