Die geteilte Leinwand |
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Das Känguru liest von sich wieder in der Zeitung | ||
(Foto: X-Verleih) |
Von Dunja Bialas
Monsieur Cinéma ist tot. Die Nachricht vom Ableben der französischen Schauspiellegende Michel Piccoli nahm die Cineasten weltweit emotional mit. Fast war es, als wollte Piccoli uns allen mit seinem Tod mitteilen: Hier möchte ich nicht mehr zusehen, ich haue ab. Wie in Habemus Papam – Ein Papst büxt aus (2011), dem Film von Nanni Moretti, wo sich Piccoli (als Papst) aus dem Staub macht, einfach so, weil ihm der Prunk und die Herrlichkeit zuviel des Gedöns sind und er sich nach mehr Menschlichkeit sehnt.
Wenn Cannes ausfällt und alle Kinos zu sind, ist kein Platz mehr für mich auf der Welt, mag er sich gedacht haben. Er wurde 94 Jahre alt.
Das Kino ist mit dem heutigen Tag 125 Jahre alt.
Viele haben dem Kino schon oft und immer wieder nachgesagt, es würde nur noch künstlich am Leben gehalten werden, läge wie ein Patient der Corona-Risiko-Gruppe am Beatmungsgerät. Wenn eines starb, dann hat man das hingenommen. Dass oft die Immobilienpreise die Triage besorgten, geriet in den Medien meist aus den Augen. Das Sterben der Kinos sei der natürliche Wandel, hieß es. Zuhause habe man jetzt nicht nur den Fernseher, der in den 1950er Jahren die Kinos wie unter der Spanischen Grippe hinwegraffte, sondern auch alle möglichen Streamingdienste.
Filme werden jetzt oft im Briefmarkenformat geguckt. Oder es werden nebenbei E-Mails und die Social Media-Kanäle gecheckt. Daumen rauf, gefällt mir, let’s share it.
Entsprechend groß ist die Empörung der Cineasten, die nicht müde werden, den Film als Kunstform zu verteidigen. »Kino – dafür werden Filme gemacht«, heißt eine Werbekampagne, die 2006 lanciert wurde. Wie wahr und auch wie unwahr. Im Zuge der Digitalisierung, bei der die Kinobranche begeistert mitmachte und mit großem Schwung die analogen Projektoren und das Zelluloid auf den Müll warf, weil sie sich eine bessere Verfügbarkeit der Filme erhoffte, hat man an eines nicht gedacht: dass die Filme nun auch ohne Abspielstätte das Publikum erreichen.
Manche Filmwissenschaftler (Anmerkung: wie zum Beispiel David Bordwell oder Experten des Fraunhofer-Instituts, die erschwingliche Digital-Projektoren für die geschröpften Kinos entwerfen, die als Endverbraucher wie jeder Computer-User jetzt fortwährend technische Updates installieren müssen, mit entsprechender Nachrüstung der Hardware) sind sogar der festen Überzeugung, die Digitalisierung wäre aus rein industriell-wirtschaftlichen Gründen vorangetrieben worden – mehr Profit, trotz leerer Kassen. Man muss dies nicht als Verschwörungstheorie nehmen, um zu glauben, dass die wieder abgeflaute 3D-Welle als Katalysator des Prozesses wirkte. Avatar (2009) gilt als digitaler Sündenfall, der die endgültige Vertreibung aus dem Analog-Paradies markiert. (Anmerkung: Eine zweite 3D-Welle ist nicht in Sicht.)
Heute wissen wir dreierlei. Erstens: Die Dichotomie Kino versus Streaming ist nicht aufrechtzuerhalten. Zu groß ist die Leidenschaft der Cinephagen, der medialen Allesfresser, für das Bewegtbild. Zweitens kristallisiert sich nach zwei Monaten Kinoschließung heraus, dass wahr ist, was die Verteidiger der Kinoorte mantramäßig wiederholen: Kinos sind Orte kultureller Praxis, stiften Gemeinschaft und Diskurs und sind insgesamt demokratiebildend. »Kultur und Medien sind für das Zusammenleben in unserer Demokratie zentral«, heißt es so auch in dem Eckpunkte-Papier der Kulturministerkonferenz vom 20. Mai 2020. »Sie ermöglichen Teilhabe und Zusammenhalt der Gesellschaft – das zeigt sich in diesen Tag deutlicher als zuvor.«
Und drittens: Kinos sind, wirtschaftlich betrachtet, systemrelevant. Ein Positionspapier der SPD-Bundestagsfraktion vom 12. Mai 2020 stellt unter dem Punkt »Filmförderung stabilisieren« heraus, dass »allein durch den Wegfall der Kinoabgabe der FFA (Filmförderungsanstalt) voraussichtlich 10 bis 15 Mio. Euro für den laufenden Haushalt fehlen. (…) Für das Jahr 2020 reden wir von 20 bis 25 Mio. Euro Liquiditätsausfall bei der FFA. Aber auch im Jahr 2021 wird es absehbar zu Ertragsausfällen kommen.«
Was verbirgt sich hinter diesen Ertragsrechnungen, und was hat das mit dem Kino zu tun? Kinos sind Teil des großen Filmproduktions- und Filmauswertungskreislaufes. Die sogenannte Filmabgabe finanziert sämtliche Fördermaßnahmen der FFA, also auch neue Filmprojekte. Nicht alle müssen die Filmabgabe entrichten, nur wenn der Vorjahresumsatz 100.000 Euro übersteigt, und auch nur, wenn im aktuellen Jahr überhaupt Geld durch das Abspielen von Filmen eingenommen wird. Das fällt jetzt weg.
Kein Geld in den Frühlingsmonaten, deutlich weniger Einnahmen in den kommenden Sommermonaten (wegen reduzierter Saalauslastung, weniger Vorstellungen, ängstlich wegbleibender Besucher und wegen den Biergärten), und kaum ein großer Filmstart, der ordentlich Geld in die Kassen spülen kann. Und selbst wenn. Das Hygienegebot der reduzierten Auslastung, die irgendwo zwischen 30 bis 50% herumdümpeln wird, fällt erst weg, so der Vorsitzende der Kulturminsterkonferenz Bernd Sibler, wenn es einen Impfstoff gibt. Das kann dauern, auch wenn das Rennen um die Impfstoffentwicklung eröffnet ist.
So ist unwahrscheinlich, dass die Demarkationslinie von den großen Filmabgabe-Kinos dieses Jahr überschritten wird, was sich wiederum auf das kommende Jahr auswirkt. Übrigens sind auch Video-on-Demand-Anbieter abgabepflichtig, ab einem Jahresumsatz von 500.000 Euro. Weitere Details gibt es hier nachzulesen.
Eigentlich ist die Filmabgabe ein unerwarteter Glücksfall für die Kinos, die 2009 erfolglos gegen die Abgabepflicht geklagt hatten. Denn jetzt sind sie ein wichtiges Zahnrad im großen Räderwerk. Vielleicht würden sie sonst von den Verantwortlichen geopfert werden, die überdurchschnittlich lange gebraucht haben, um zu verstehen, dass Kinos Kulturstätten sind und keine Variante von Saunas, Bordellbetrieben oder Spielcasinos, wie die »Bayerische Notbekanntmachung« noch am 16. April 2020 reiht.
Jetzt aber hat man sich daran erinnert, dass Kinos zur Kultur gehören. Soweit man das bei dem bundesweiten Flickenteppich überhaupt überblicken kann, wurde in Bayern am vergangenen Donnerstag der deutschlandweit größte Rettungsschirm für die Kultur aufgespannt: 200 Millionen Euro. Darunter fallen die Institutionen, aber auch die Künstlerinnen und Künstler, die jetzt Corona-Hilfe beantragen können. Das gilt auch für die Gewerke, die mit den Künstlern assoziiert sind (Bühnentechniker oder Kameraleute zum Beispiel) und für freie Journalisten. Der Antrag kann hier gestellt werden.
Zum Vergleich: Hessen, so ergeben die mühsamen Recherchen im Netz, stellt 50 Millionen Euro für die Kunst- und Kulturbranche bereit. NRW hat von anfänglich 5 auf 32 Millionen Euro aufgestockt. Der »Masterplan« von Baden-Württemberg sieht 45 Millionen Euro für die Kultur vor.
Die bayerische Digitalministerin Judith Gerlach hingegen hat 12 Millionen Euro allein für den Neustart von 260 bayerischen Kinos. Das Geld soll den Bestand der Kinos in der Fläche sichern und eine Hilfe für den reduzierten Notbetrieb bieten, damit die Kinos, auch aus oben genannten Gründen, wieder öffnen können – und dennoch nicht draufzahlen oder gar draufgehen.
Die Wiedereröffnung will gut vorbereitet sein. In Hessen wurden die Kinos von der plötzlichen Betriebserlaubnis für den 9. Mai durch die Politik überrumpelt – nur zwei folgten bislang der Lizenz zum Spielbetrieb. Ähnlich ist es in Sachsen, wo die Kinos seit dem 15. Mai wieder öffnen dürfen. Nur zwei Leute pro Reihe, heißt es, aber nur, wenn rechts und links von den Sesseln ein Gang zum Klo möglich ist. Sonst nur einer. Und: es gibt keine neuen Filmstarts, oder fast keine. Daher dröppeln jetzt auch Filme wie Die Känguru-Chroniken, der bereits als Stream für 4,99 Euro auf der virtuellen Resterampe verramscht wird, oder Das perfekte Geheimnis auf die Leinwand.
Prompt meldet die erste Studie: »Kinogänger zeigen sich nach schnellen Kinowiedereröffnungen zurückhaltender als noch vor einem Monat.« Komisch. Warten doch die Kinos mit abgestandenen Gassenhauern auf, konnten in der kurzen Zeit keine Kampagne für die Wiedereröffnung gestartet und auch keine ordentlichen Programm-Konzepte erarbeitet werden!
Dieselbe Studie hat aber auch herausgefunden, dass das Kino mehr denn je dem Publikum fehlt. Der Zeitpunkt der Eröffnung wird schlicht als zu früh empfunden. Warum ist das Publikum nur schlauer als die Politiker?
Favorisiert wird daher von den meisten Kinobetreibenden eine bundesweite Wiedereröffnung (ein möglicher Termin wäre der 2. Juli), damit kleinere und größere Filme überhaupt vernünftig starten können, mit entsprechender Vorlaufzeit für die Bekanntmachung. Im Eckpunktepapier der Kulturminister jedoch fehlt die erwartete Terminempfehlung. Das lässt darauf schließen, dass es wohl bei der Flickenteppichwiedereröffnungsorgie bleiben wird. Was auch gefährlich ist: Wenn die Kinos nicht mitziehen, weil sie keine Zeit haben, rentable Geschäftsmodelle mit den Verantwortlichen auszuhandeln, werden wohl viele kleinere Filmtheater nicht überleben. Schon jetzt meldet die FFA erste Insolvenzen. »The survival of the fittest« heißt das bei Darwin: das Überleben der Angepassten.
Wenn die kleinen abstandsunfähigen und damit nicht anpassbaren Programmkinos, die in den FFA-Kino-Studien der vergangenen Jahre als stark und vital beurteilt wurden, aufgeben müssen: dann könnte das auch das Ende des Kinos sein, das wir lieben. Wenn am Ende überall nur noch die Monokultur des Perfekten Geheimnis herrscht, dann müssen wir eben wieder streamen.
Aber: Noch ist es nicht soweit.