Gestrandet auf Corona Island
75 ist die Antwort |
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Eingeschlossen hinter einer unsichtbaren Glaswand. Ulrike Ottingers Bildnis einer Trinkerin beim Transit-Festival |
Von Dunja Bialas
»Wer das nicht gerecht findet, muss sagen: auch die Geschäfte müssen jetzt wieder schließen. Die Alternative, das offen zu lassen, gibt es nicht.« So oder so ähnlich lautet der Whataboutism der Politik angesichts des Kultur-Opfers, mit dem Corona besänftigt werden soll. Corona, dieses fiese und gefräßige Monster, darf sich jetzt die Theater, die Kinos, die Künstler, die Kulturschaffenden, die Pressemitarbeiter, die Festivalmacher, die Moderatoren, die technischen Leiter, die Grafiker und das ganze andere Kulturprekariat einverleiben. Wenn die Kinos, Theater und Museen schließen, bleiben mehr auf der Strecke als die sichtbaren Akteure. Der Verleih Grandfilm beispielsweise, der diese Woche den Berlinale-Gewinner mit dem an einen Abwehrzauber gemahnenden Titel Doch das Böse gibt es nicht des Iraners Mohammad Rasoulof in die Kinos bringen wollte, schreibt in einer Rundmail: »Wir haben in den letzten drei Monaten auf den Start hingearbeitet und fast eine Viertelmillion Euro in den Film investiert. Dass wir ihn jetzt nicht auswerten können, stellt für uns eine existentielle Bedrohung dar. Die Politik muss praxisnahe Mittel und Wege finden, die Kinobranche zu unterstützen – mit einem Hilfspaket, das die individuelle Situation der Betroffenen abbildet.«
Das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg hätte vom 12. bis 22. November erstmals unter der neuen Leitung von Sascha Keilholz stattgefunden – meine Reise war schon gebucht, groß war die Neugier. Selbst wenn die Reihe »Facing New Challenges« von den Festivalmachern anders genannt worden wäre, wäre die neue Art der Herausforderung, die Corona an die Kulturschaffenden stellt, wohl auch nicht an ihnen vorübergegangen. Soviel Aberglaube gibt es gar nicht. Dafür jetzt eine »expanded« Ausgabe im Netz. Die Duisburger Filmwoche (2.-8.11.) hatte Festival-Satelliten geplant, mit Stationen ihres Konzepts »Filme und Debatten« in ganz Deutschland. Stattdessen wird jetzt der Relaunch der Website hochgehalten mit den sehr lesenswerten Filmgesprächsprotokollen seit 1978 – immerhin eine Zeitreise: über Filme lesen statt Filme sehen, warum nicht? Das Regensburger Filmfestival Transit preist »Lockdown-Trostpflaster« an und streamt Ulrike Ottingers Bildnis einer Trinkerin (4.-8.11.). Noch am 27.10. kündigten die Macherinnen das Podium »Warum brauchen wir das Kino?« an und fragten: »Wie könnte ein möglichst fairer Transit in eine bessere (oder andere) (Kino-)Zukunft aussehen und warum lohnt es sich, dafür zu kämpfen?«
Es tut gut, Corona zu personifizieren und es sich wie oben als Monster vorzustellen, auch wenn es eher wie ein blöder Kobold nervt und alles durcheinanderbringt. Das ist natürlich eine Verharmlosungs- und damit Copingstrategie gegenüber den weitreichenden Einschnitten, die Covid-19 auf unser Leben hat. Mit anderen Worten: Corona sucks! Da wir keine Virologen sind und auch keine Gesundheitsministerinnen, können wir nur in unserem Sinne sprechen, im Sinne der Kultur, der Kinos, der Filme und aus dem Munde der Filmkritik. Wir müssen nicht an die anderen denken, wenn wir uns beschweren, wie Söder es fordert, und wir müssen auch nicht einsehen, dass Gerechtigkeit nur dann stattfinden kann, wenn eben alle dichtmachen müssen. Wir können und müssen lautstark darauf hinweisen, dass die Kultur trotz aufwendiger Hygienekonzepte und der in den letzten Monaten in Kauf genommenen massiven Einschränkungen im Betrieb, trotz Erfüllung aller Vorgaben und Maßnahmen jetzt wieder dicht gemacht wird. Es hat nichts gebracht, sich an alle Regeln gehalten zu haben. Wir bekommen jetzt trotzdem Hausarrest. Als seien wir Superspreader, keine Superstreber.
Wir zeigen nicht mit dem Finger auf andere Bereiche, auch wenn wir jetzt dazu provoziert werden. Nicht auf die Einkaufszentren. Nicht auf die öffentlichen Verkehrsmittel. Nicht auf die vollen ICEs. Wir sagen nicht, dass der Anstieg der Infektionen dem kälteren Wetter und den herbstlichen Infektionswellen geschuldet ist. Denn wir sind keine Virologen. Wir sind Menschen der Kultur, da kennen wir uns aus, hier argumentieren wir, dafür brennen wir, und sie wird von uns auch verteidigt.
Andere haben andere Leidenschaften. Viola Priesemann, Physikerin und Forscherin zu »Dynamik und Selbstorganisation« am Max-Planck-Institut zum Beispiel, gibt in der Talkshow »Anne Will« unumwunden zu, sie hätte Angst davor, ins Kino zu gehen. Seit der Wiedereröffnung sei sie in noch keinem gewesen, aus Angst vor Ansteckung. Ein irrationaler Offenbarungseid der Wissenschaftlerin, die den umsichtigen Kinobetreibern die Faust ins Gesicht schlägt.
Während die Wissenschaftlerin also öffentlich leichterdings von den Superspreadern im Theater sprechen darf, ist kein Infektionsfall in der Kultur bekannt, sagen die Kulturschaffenden. Es gäbe kaum Infektionen in den öffentlichen Verkehrsmitteln, sagt das Robert-Koch-Institut, weil man da kaum verbal interagiere. Gleiches gilt für die Theater- und Kinovorstellungen, die Unterhaltungen übrigens nicht vorsehen. Die Gesundheitsämter aber sagen: Bei 75% der Infektionen sei nicht nachvollziehbar, wo die Ansteckung stattgefunden hat. Da ist das RKI mit seiner detaillierten Grafik wohl dummerweise vorgeprescht. 75 ist die Antwort auf die Frage, warum wir jetzt alle schön zuhause bleiben sollen.
Fakt ist: Es ist absolut willkürlich, die Kultur – und mit ihr den ganzen Freizeitbereich – zu schließen. Fakt ist: Es geht darum, etwas zu tun, egal was. Das ist hilfloser Aktionismus und das müssen wir jetzt nicht persönlich nehmen. Es ist eben wieder die Kultur, die als erstes geschlossen wird, das kennen wir ja schon. Nur leider gewöhnen wir uns nicht daran.
Im Gesundheitsbereich wird seit Corona von den vulnerablen Gruppen gesprochen, die es besonders zu schützen gilt. Seien wir mal ehrlich: im Kulturbereich sind die Kinos besonders vulnerabel. Oder haben etwa alle im Sommer, während sie auf den harten Bierbänken ihr Sofa vergessen konnten, auch den Angriff der Streamingdienste auf die Kinos vergessen? Den harten Imperativ von Disney+, Netflix und Co., die ewigen Verschiebungen der als »Day-to-Day« gewollten globalen Filmstarts von James Bond und anderen big sellern, die uns die erste Digitalisierungswelle eingebracht haben. Keine Zeit zu sterben heißt der neue Bond. Jetzt ist der ikonische James-Bond-Darsteller Sean Connery gestorben, bevor der Film ins Kino kam.
75 ist jetzt die Antwort auf alles. So werden für November auf einmal 75% des Umsatzes vom Vorjahresmonat als Ausgleichszahlung bereitgestellt, für alle Betriebe, kulturelle oder gastronomische, die von der staatlich verordneten Corona-Zwangsschließung betroffen sind. Lassen wir uns kurz in die jüngere Vergangenheit zurückbeamen: Während der »Öffnungsdiskussionsorgie« (Merkel) forderten die Kinoverbände gerechte Ausgleichszahlungen auf der Basis des Umsatzes des Vorjahresmonats. Stattdessen flatterten den Kinobetreibern umfangreiche Formulare ins Haus, in denen das aktuelle operative Defizit nachgewiesen werden musste, um eine Ausgleichszahlung zu erhalten.
»Für unsere Kinos beginnt mit den letzten drei Monaten und den Feiertagen zum Jahresende die wichtigste Zeit des Jahres«, schrieben die Betreiber von 20 bayerischen Kinos Ende September in einem Brief an Markus Söder. »In diesen Monaten machen wir die Hauptumsätze eines Gesamtjahres – statistisch manchmal mehr als in den neun Monaten davor – und nur dieses Jahres-Schluss-Geschäft ermöglicht es uns und unseren Betrieben, überhaupt wirtschaftlich zu überleben.« Die Kinobetreiber stellen ein juristisches »Normkontrollverfahren« in Aussicht, da die Politik nicht sachgerecht agiert.
Nicht also das momentane Defizit ist wichtig, soll keine Kino-Schließungs-Welle auf uns zurollen, der Gesamtblick muss auf das ganze Jahr fallen. An anderer Stelle haben wir schon erklärt, wie wichtig außerdem die Kinoabgabe für den filmwirtschaftlichen Kreislauf ist. Das wollen wir nicht wiederholen. Wir sind es leid, uns zu wiederholen, immer das Gleiche zu sagen, zu schreiben. Das Mantra ist auch in anderen kulturellen Bereichen zu hören. Auf der Demonstration »Aufstehen für Kultur«, die noch am 24.10., also vor gerade mal zehn Tagen in München stattgefunden hat, gab es einen einzigen großen Déjà-vu-Moment. Alle, wirklich alle Sparten formulierten Ähnliches, beklagten das Herunterfahren ihrer Betriebe auf ein lächerliches Minimum, mit hammerharten Abstandsregeln, die das Kulturerlebnis ad absurdum führen.
Ich persönlich glaube, dass Wissenschaftlern wie Viola Priesemann oder dem selbsterklärten Kinofan Markus Söder die Kultur eigentlich ganz egal ist. Auch Bundeskanzlerin Merkel hat vermutlich seit Jahren keine Zeit mehr für Konzertbesuche. Woher kommen sonst nur so Äußerungen wie »leider müssen wir jetzt alles verbieten, was Spaß macht, aber glauben Sie uns, das macht uns auch keinen Spaß« (sinngemäßes Zitat)? Alles, was Spaß macht? Ja, macht denn Kultur nur Spaß?
In der letzten Woche habe ich tatsächlich in einer Art Torschlusspanik noch mal volle Fahrt aufgenommen. War jeden Tag im Kino, bis auf einmal. Dieses eine Mal war ich in der Halle Schwere Reiter in München und habe mir das hochkonzentrierte Modern-Dance-goes-Science-Fiction-Stück des Münchner Choreografen Stephan Herwig angesehen. Eine Szene hat unendlich berührt: Die vier Tänzerinnen und Tänzer lagen auf dem Boden und haben wie ein Kleeblatt die Köpfe ineinander-, aufeinandergelegt. Ein rarer Moment der Nähe, eine Emblem für alles, was gerade nicht mehr unsere Menschlichkeit ausmachen darf.
Wir neiden es nicht den anderen, weil sie offen haben dürfen, und wir schmollen nicht, weil die Kultur geschlossen wurde. Aber wir erhöhen unsere Forderungen:
1. Die Wiedereröffnung der Kultur muss unter bessere Konditionen und eine höhere Auslastungskapazität gestellt werden. Wir fordern: keine absolute Obergrenze der Besucher, und Abstandsregeln mit Augenmaß. Wenn ohnehin wieder zugemacht wird, kann man zwischendurch auch weiter aufmachen. Nachweise für die Infektiösität von Kulturveranstaltungen gibt es nicht, dafür aber viele Hinweise und Studien, die nahelegen oder sogar belegen, dass Kulturveranstaltungen einen
vergleichsweise ungefährlichen Bereich des öffentlichen Lebens darstellen.
2. Es braucht eine deutlich bessere und gerechtere Ausgleichszahlung für die Kultur, auch rückwirkend, gemessen am Umsatz des Vorjahresmonats, wie von den Verbänden gefordert.
3. Es braucht eine Corona-Grundsicherung für die Soloselbständigen, nicht nur für die Künstler, sondern auch für die benachbarten Berufe.
4. Es braucht Planungssicherheit. Kultur lässt sich nicht herunterfahren wie
ein Computer am Feierabend. Die Vorlaufszeiten und Investitionen für kulturelle Veranstaltungen sind beträchtlich.
Eigentlich ist auch noch eine Schadensersatzzahlung für den Imageschaden fällig, den die Politiker und manche Wissenschaftler der Kultur zugefügt haben. Aber zum Glück ist das Publikum da vergleichsweise immun. Es mag zwar zutreffen, dass Söder, Merkel und Co. nicht mehr ins Kino oder Theater gehen – die Kulturinteressierten tun das schon. Es ist höchste Zeit, dass sie von niemandem mehr weggeschickt werden müssen, weil im halbleeren Saal angeblich kein Platz mehr für sie ist – wenn die Kultur überhaupt mal wieder offen haben sollte.
Wo wir schon dabei sind: Wir glauben nicht an das November-Märchen. Der Kulturwinter wird lang, dunkel und hart.