Lovemobil-Debatte
Im Grenzbereich |
||
Wir haben alle großen Lernbedarf in Sachen Dokumentarfilm | ||
(Foto: WDR/NDR) |
Von Sedat Aslan
Frau Lehrenkrauss hat 2014 einen Produktionsvertrag mit dem NDR geschlossen und fünf Jahre später den Film Lovemobil abgeliefert. Das Problem: Vereinbart war ein Dokumentarfilm, der Film sieht auf den ersten Blick auch wie einer aus, doch die Regisseurin hat weite Teile mit Schauspielern inszeniert und das vertuscht. Erst durch die Recherche der Journalistin Mariam Noori für „STRG_F“, ein „funk“-Format vom NDR, flog das Ganze auf. Mittlerweile hat Frau Lehrenkrauss den im letzten Sommer verliehenen Deutschen Dokumentarfilmpreis samt Preisgeld zurückgegeben, sich entschuldigt und eingeräumt, Schaden angerichtet zu haben. Da könnte man nun die Sache doch auf sich beruhen lassen und den Rest den beteiligten Parteien überlassen. So einfach ist es aber nicht. Der Schaden trifft alle, die in der Branche tätig sind und zeigt tiefergehende Probleme auf, über die man sprechen muss.
Ich habe ein großes Problem damit, dass dies vor allem eine Debatte auf der formellen Ebene auslöst, als ob wir ausgerechnet jetzt über Begrifflichkeiten sprechen müssten. Das wäre wirklich der deutscheste aller Wege, alle Sorgfalt darauf zu richten, eine Schublade zu definieren, in die wir ein Kunstwerk dann einsortieren dürfen. Ist Lovemobil nun ein Dokumentarfilm, der mit Techniken des Spielfilms arbeitet? Oder doch ein Spielfilm, der dokumentarische Mittel einsetzt? Filmemacher müssen sich zwangsläufig entscheiden, wie sie formell arbeiten. Sobald man die Kamera auslöst, bildet man nicht mehr alleine die Realität ab, diese These ist älter noch als das Medium selbst, und kann mit der gesamten Filmgeschichte abgeglichen werden. Schon bei den Lumières erzählt der gewählte Kamerastandpunkt bei L’arrivée d’un train en gare de La Ciotat eine andere Wirklichkeit als die der Arbeiter, die die Fabrik verlassen. So etwas wie The Act of Killing, übrigens Sieger des Europäischen Filmpreises als bester Dokumentarfilm, ist ein Paradebeispiel dafür, wie meta dieser mittlerweile gedacht werden kann: Massenmörder stellen eine fiktionale Version ihrer selbst dar, werden bei diesem Prozess dokumentiert und in eine völlig eigene Narration eingebettet. Ebenso weit entfernt von einem Gattungspurismus ist es, wenn sich Richard Linklater im Spielfilm Boyhood mit seinen Protagonisten ohne fertiges Drehbuch auf eine Reise begibt, von der er anfangs selbst nicht wissen kann (und nicht wissen will), was 10 Jahre später dabei genau rauskommt. Auch im deutschen Film gibt es viele Künstlerinnen, die sich gekonnt im Grenzbereich bewegen, Valeska Grisebach und natürlich Werner Herzog wären zu nennen. Ich könnte in diesem Block weiterhin thematisch relevante Zitate droppen, à la »le cinéma, c'est la réalité à 24 images par seconde«, aber wozu? Wir, die hier schreiben, und Sie, die das lesen, wissen das alles.
Es ist kein formaler Lapsus, keine Petitesse und auch kein Dummejungenstreich, den die 42-jährige Regisseurin sich erlaubt hat, und als solchen sollte man ihn auch nicht behandeln. Sie hat eben nicht in einer Mischform experimentieren, Grenzen sprengen oder breite Diskussionen über die Form auslösen wollen. Sie handelte rein aus persönlichem Interesse. Es mag durchaus sein, dass sie mit dem Rücken zur Wand stand und sich durch Deadlines unter Druck gefühlt hat. Ja, es ist ihr erstes größeres Projekt, und vielleicht hat sie diesen Fehler aus Unerfahrenheit, Überforderung und falscher Selbsteinschätzung gemacht. Dennoch hat sie im Vorjahr stolz wie Oskar den oben genannten Preis entgegengenommen, im Anschluss mit Trophäe in die Kameras gegrinst und dann in Interviews – man kann es in der Rückschau nur rotzfrech nennen – über die Wirkung der Kamera im Dokumentarfilm, eine zu vermeidende voyeuristische Ausbeutung und das Seelenleben ihrer Protagonistinnen sinniert . Sie hat damit auch ihre eigene Realität als Künstlerin inszeniert, und sich darin gefallen, die letzten beiden Jahre von Veranstaltung zu Veranstaltung zu bewegen, wo sie doch genügend Zeit gehabt hätte, einen Break zu machen und mit sich ins Reine zu kommen. Das erinnert sehr an den Fall Relotius, der irgendwann auch geglaubt hat, er wäre die von ihm selbst projizierte Kunstfigur. Man fragt sich: Wie lange hat sie ihre Masche schon angewandt? Und ab welchem Zeitpunkt kann man Auszeichnungen und Preisgelder annehmen, ohne dass einen das Gewissen mehr plagt?
Bis hierhin klingt es wie eine leidlich amüsante Felix-Krull-Geschichte, doch das ist sie wahrlich nicht. Zum einen ist das ein Schlag ins Gesicht aller seriösen Filmemacher. Jeder, der selbst einmal an einem Dokumentarfilm gearbeitet hat, weiß wie knochenhart es ist, all die kleinen und großen Momente, die man sonst nicht vor die Kamera bekommt, herauszuarbeiten. Wieviel Kopfnüsse man knacken muss, bis man Lösungen findet, wenn der geplante Weg mal wieder unvermittelt in die Irre führt, und wie flexibel man gleichzeitig sein muss, um sich an die Gegebenheiten anzupassen. Wieviel Kraft, Geduld und Einfühlungsvermögen das alles kostet. Nicht zuletzt: Wieviele Projekte nicht fertiggestellt werden können, weil sich die Sachen trotz äußerster Anstrengungen nicht so fügen, wie sie es sollten. Viele Dokumentarfilmerinnen stellen sich diesem harten täglich Brot, weil sie leidenschaftlich und interessiert zugleich sind. Diese Kolleginnen müssen nun um den ihnen entgegengebrachten Vertrauensvorschuss fürchten. Das gilt übertragen für die gesamte Branche, die sich gerade in diesen Zeiten auch im Punkt Glaubwürdigkeit immer wieder neu um ihr Publikum bemühen muss.
Frau Lehrenkrauss hätte aus ihrer Recherche auch einen Film über ein Gefühl machen können, ihr Interesse, ihre eigene Unsicherheit oder gar ihr Scheitern. Sie wählte aber einen narrativen Ansatz. Wenn der Ausweg aus der Malaise derjenige sein kann, dass man einfach ein im Kopf erstelltes plumpes Drehbuch knallhart mit seinen erdachten Figuren durchinszeniert, haben wir alle großen Lernbedarf in Sachen Dokumentarfilm, worüber noch zu sprechen sein wird. Dass es überhaupt so weit kommen konnte, ist gleichermaßen unprofessionell wie uninspiriert, und in diesem Bereich spielt sich mutmaßlich die nackte und unspektakuläre Wahrheit in diesem Fall ab. Selbst die diskutierte Kenntlichmachung der inszenierten Sequenzen würde nicht den zentralen Konflikt auflösen: Wäre Lovemobil dann wirklich ein unproblematischer Dokumentarfilm? Hätten wir alle einen Dokumentarfilm über das sensible Thema Prostitution legitim gefunden, der von vorne bis hinten gestellt ist? Dessen hilflose, unserer Sprache kaum mächtige Protagonistinnen, die von einem fiesen Zuhälter ausgebeutet werden und sich strunzgeilen Freiern hingeben müssen, allesamt Schaupielerinnen sind? Als etwaige Mischform wäre der Film, so wie er ist, nicht nur nicht akzeptiert worden, er wäre künstlerisch implodiert. Da offenbart das von Frau Lehrenkrauss bei ihrer Enttarnung angeführte Pauschalargument, sie habe eine »viel authentischere Realität« erschaffen, was oft für die Kraft der Fiktion bemüht wird, nicht nur Tumbheit, sondern angesichts des Themas auch Zynismus.
Aber nicht nur, dass die Regisseurin das Sujet der Prostitution völlig unreflektiert für ihre Zwecke ausbeutet, sie tut dasselbe auch mit ihren Darstellern. Der Beitrag von »STRG_F« holt dazu mehrere Statements der Betroffenen ein, die geglaubt haben, bei einem Spielfilm mitzuwirken, der Großteil Laien. Frau Lehrenkrauss nahm es also in Kauf, dass Menschen, die sich nicht wehren können, sich als »echte« Prostituierte, Freier und Zuhälter dargestellt sehen. Teil ihrer Vertuschungsstrategie war naheliegenderweise, den Cast über den weiteren Weg des Filmes im Unklaren zu lassen, sie etwa nicht zu den Screenings einzuladen und auch sonst die Spuren zu ihnen zu verwischen. Darüber hinaus hat sie aktiv zur Vertuschung angestiftet, wenn man der Editorin Irem Schwarz, die man als »Whistleblowerin« bezeichnen könnte, glauben kann, was dann doch eine gewisse kriminelle Energie offenbart. Ich finde es im Übrigen ungemein mutig von Frau Schwarz, sich unverpixelt vor die Kamera zu setzen, denn sie hat damit in einer Branche, wo es oft darum geht, den Job zu machen und nicht weiter negativ aufzufallen, nichts zu gewinnen. Jeder, der das für Denunziation hält, hat schon wieder vergessen, gegen welche Betonwände Juan Moreno im Spiegel-Verlag hämmern, dabei die eigene Reputation aufs Spiel setzen musste, bevor die Wahrheit ans Licht kam.
Man darf, man muss sich sogar ärgern, über das, war hier passiert ist. Man sollte Frau Lehrenkrauss meiner Ansicht nach kein Forum mehr bieten, die Chance dafür hat sie lange verspielt. Stattdessen sollte man die von ihr getäuschten Menschen ins Zentrum der Diskussion stellen – erst recht all die namenlosen Frauen, die sich in solchen »Love-Mobilen« tatsächlich verdingen müssen, und auf deren Rücken sie ihren künstlerischen »Versuch« ausgetragen hat. Sie ist schuld daran, dass es in dieser Geschichte nur Verlierer gibt.
Den NDR in Person des zuständigen Redakteurs Timo Großpietsch in Sippenhaft zu nehmen, liegt nahe. Wir saßen aber nicht mit am Tisch. Der Redakteur muss der Filmemacherin und ihrem Team vertraut haben, er hat ihnen sehr viel Zeit gegeben, sie machen lassen. Den Verdacht des Betrugs, der schnell auch auf andere Beteiligte übergegriffen hätte, auszusprechen, wäre ein gewaltiger Schritt gewesen, der tatsächlich einen Moreno erfordert hätte. Ihm vorzuwerfen, er hätte anhand der Bilder etwas merken können, ja merken müssen, ist legitim, auch wenn selbst der Editorin, der das gesamte Rohmaterial vorlag, nur durch im Off gesprochene Regieanweisungen ein Verdacht kam. Ich würde in diesem Zusammenhang gerne mal eine Stellungnahme des Kameramanns Christoph Rohrscheidt hören, der der engste Kollaborateur der Regisseurin gewesen sein muss. Was hat er für Anweisungen bekommen? War er in den Schwindel eingeweiht, oder gehört er selbst zu den vielen Übertölpelten?
Den Vorwurf der ästhetischen Blindheit, der dem Redakteur gemacht wird, muss man dann auch an alle möglichen Jurys und Auswahlkomitees weitergeben, die den Film eingeladen und ausgezeichnet haben. Es ist schon klar, sie verlassen sich alle auf die Expertise des NDR und der anderen Geldgeber, die hinter einem solchen Projekt stehen und dafür bürgen. Dass es aber nicht eine einzige Person in diesem ganzen Betrieb zu geben scheint, die wirklich was von Film versteht, mal ihre eigenen Augen und Ohren (und das Ding dazwischen) benutzt, kritisch hinschaut und alleine aufgrund ihres ästhetischen Grundverständnisses erkennt, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann, macht einen wirklich sprachlos. Wie die Relotius-Texte, auf Dramaturgie getrimmte, vor Kitsch triefende Ergüsse eines mittelmäßigen Literaten, findet man in Lovemobil nur die Behauptung von Authentizität, teilweise dilettantisch hergestellt, und Szenen, denen man ansieht und -hört, dass Spielanweisungen gegeben wurden, dass die Menschen vor der Kamera improvisieren und stets zielgerichtet auf einen Konflikt zusteuern. Was machen die Leute, die so etwas beurteilen dürfen, da eigentlich mit »unserem« Medium, welche reflektierte Seherfahrung haben sie, was qualifiziert sie für die professionelle Beschäftigung damit überhaupt? Wie wenig Kompetenz muss ihnen innewohnen, wenn sie dermaßen auf Thema und Fassade hereinfallen?
Es läuft strukturell was falsch im deutschen Film, da hat Rüdiger Suchsland mehr als recht, und das ist der eigentliche Skandal. Es ist viel zu wenig Geld für kleine, besondere Projekte da, und es sitzen auch viel zu wenig Leute mit einem genuin filmischen Verständnis in entscheidenden Positionen. Das liegt schon an der Schulausbildung, wo Film gegen Literatur und bildende Kunst abstinkt. Film wird immer nur dann eingesetzt, wenn er als »die Verfilmung« dem durchgearbeiteten Buch entgegengestellt wird – oder wenn es darum geht, eine Vertretungsstunde zu füllen. Es ist nicht groß genug einzuschätzen, wie nachhaltig dieses schwache Fundament den filmischen Diskurs in Deutschland prägt. Über das Volumen der Filmförderung im Vergleich zu anderen Kunstformen brauchen wir gar nicht erst sprechen. Film gilt in Deutschland strukturell immer noch als kommerzielle Gaukelei, der durch den Einfluss der Oberhausener notdürftig ein zerklüfteter staatlicher Klingelbeutel angepappt wurde.
Wenn wir nun aber schon einmal über Ästhetik sprechen, vermisse ich den bei diesem Fallbeispiel für mich wichtigsten Aspekt, nämlich dem Sinn und Unsinn von Drehbüchern im Dokumentarfilm. Nach einer gängigen Definition zeichnet den Dokumentarfilm gegenüber einer Reportage die Tatsache aus, dass er narrativ sei. Es steht eine effektive Dramaturgie also immer über dem puren journalistischen Ethos, und genau durch diese Sollbruchstelle konnte Frau Lehrenkrauss ihre Vorgehensweise legitimieren. Nur weil ihr dieses Prinzip im Filmstudium in den Kopf geprügelt wurde, hat sie das als Leitfaden für ihren Film genommen. Wie oben angedeutet: Im Zentrum ihres Films steht nicht etwa ein Gefühl oder das ureigene Interesse, erst recht nicht ein politischer oder gar ästhetischer Ansatz, sondern »Protas«, die in einem existenziellen Konflikt stehen, personifiziert durch einen oder mehrere Antagonisten, aufgelöst in einer szenischen Abfolge mit Anfang, Mitte, Ende, Aristoteles lässt grüßen. All dies garniert mit einer gesunden Prise emotionaler Reflexe wie Humor, Angst und Ekel. Dieser unterste ästhetische Nenner war sowohl Leitprinzip als auch Fallback der Regisseurin.
Es sei nochmal festgehalten: Selbst wenn ich viele Probleme mit diesem Spielfeld und auch einigen Mitspielern sehe, gibt mir das immer noch keinen Freibrief dafür, so vehement gegen die Spielregeln zu verstoßen, wie es Frau Lehrenkrauss getan hat. Es kann auch kein Autor woanders abschreiben und es dann einen »Remix« nennen wie Helene Hegemann. Künstler sind eben nicht nur Gaukler, sondern haben eine gesellschaftliche Ausnahmestellung und somit auch Verantwortung, die nicht geschenkt ist, sondern über Jahrhunderte errungen wurde. Dies gesagt, bedarf es in Deutschland dringend einer Diskussion darüber, ob das Medium Film – insbesondere der Dokumentarfilm – sich in erster Linie über ein »Thema« und/oder plumpe Dramaturgie auszeichnen muss, um auch von Komitees, Förderern, Juroren verstanden zu werden, oder das längst überholte Paradigmen sind. Und dann muss endlich gehandelt werden. Die Strukturen sind schon viel zu lange so marode und von Inkompetenz durchzogen, wie es auch durch diesen Fall wieder offen zu Tage tritt.
Mehr Demut von allen Beteiligten wäre angebracht – vor allem mehr Demut gegenüber dem Medium Film.