28.03.2021
Lovemobil-Debatte

Zum Fall „Lovemobil“

Lovemobil
Wir haben „Menschen“ zur „Ware“ gemacht...
(Foto: NDR/WDR)

Über die Verantwortlichkeit der Dokumentarfilmemacher gegenüber den Menschen in ihren Filmen. Ein Gastbeitrag.

Von Dietmar Post

Rüdiger Suchsland weist in seinem Beitrag auf artechock zu Recht auf die prekären Produk­ti­ons­be­din­gungen für Doku­men­tar­filme in Deutsch­land hin. Bei genauerer Betrach­tung dieser offen­sicht­li­chen Miss­stände sieht plötzlich im Fall Lovemobil die Rolle der Sender, der Förderer, Preis-Jurys und Film­fes­ti­vals nicht mehr so rosig aus, weil genau sie es sind, die seit mindes­tens zwei Jahr­zehnten die „schöne“ Relotius-Geschichte fördern, ja geradezu einfor­dern.

Ein System der Angst oder wissent­li­cher „Verschö­ne­rungs“-Betrug? Oder beides?

Sabine Rollberg spricht in ihrem Beitrag Die Angst wächst davon, dass es bezüglich der Kommu­ni­ka­tion und dem Vertrau­ens­ver­hältnis zwischen Sendern und Filme­ma­chern ein massives Problem gibt. Elke Lehren­krauss hat zwei­fellos grobe Fehler begangen. Das lässt sich nicht entschul­digen. Aber sie ist nicht Claas Relotius, der Spiegel-Redakteur, der wissent­lich, frei­willig und obendrein mit viel Freude die Wünsche der deutschen Leit­me­dien nach einer „schönen runden“ Geschichte bediente und dafür jeden erdenk­li­chen Jour­na­lis­ten­preis erhalten hat. Und das, obwohl jedem durch­schnitt­li­chen Zeitungs­leser die vielen Klischees und Verschö­ne­rungen geradezu ins Auge springen mussten. Ständig ging der Mond auf und dann wieder unter.

Ob das bei Lovemobil ähnlich vorsätz­lich getan wurde, lässt sich nach aktuellem Sachstand nicht genau sagen. Dazu müssten Elke Lehren­krauss und ihr gesamtes Team, vor allem die Berater, ehrlich Stellung beziehen. Ihr Verhalten auf Film­fes­ti­vals und in Inter­views lässt aller­dings durchaus auf Vorsatz schließen. Ein gravie­render anderer Faktor ist, dass Film­fes­ti­vals und Preis-Jurys, die den Film in den höchsten Tönen gelobt haben, nichts bemerkt haben wollen. Diese Tatsache spricht wohl eher nicht für diese Festivals und Preis-Jurys. Es scheint ein allge­meines großes Unwissen bezüglich des Genres des Doku­men­tar­films zu geben. So sehr scheint man sich an der „schönen“ Geschichte zu erfreuen, dass es niemandem mehr auffällt, dass da was nicht stimmen kann. Lovemobil ist übrigens nicht der einzige hoch­de­ko­rierte Doku­men­tar­film, dem man den Vorwurf der „geschönten“ Geschichte machen kann.

Lovemobil hat viel von einem Relotius-Text. Die Glattheit, die Perfek­tion, das vermeint­lich so Nah-Dran-Sein, welches beim Zuschauen aber eigent­lich doch leicht als „zu nah“ und voyeu­ris­tisch hätte erkannt werden können. Aber Lovemobil ist viel­leicht, wie Rüdiger Suchsland und auch Sabine Rollberg beschreiben, etwas anders entstanden, als ein Text von Relotius. Es könnte sein, muss aber nicht so sein, dass die Regis­seurin viele Dinge dem Sender gegenüber aus reiner Angst heraus nicht kommu­ni­ziert hat. Dazu wird es sicher­lich in den nächsten Tagen und Wochen neue Infor­ma­tionen geben. Man sollte die Chance nutzen, um nach­zu­ver­folgen, wie dieser Film genau entstanden ist. Das erste Exposé, der erste Trailer, der erste Pitch, wie ist man an die Sexar­bei­te­rinnen heran­ge­treten, wer hat beraten, wer hat den Ton und die Kamera bedient, wer geschnitten, welche Darstel­le­rinnen gab es denn nun genau, wie wurde der Film finan­ziert, wurde mit echten Sexar­bei­te­rinnen gefilmt, wurden sie bezahlt, wer waren die gecas­teten Schau­spieler, wie genau hat der Sender den Film betreut? Es gibt eine ganze Reihe offener Fragen und größt­mög­liche Trans­pa­renz wäre wünschens­wert. Eine Vermutung sei mir erlaubt – die neuen Infor­ma­tionen werden offen­legen, dass bei der Herstel­lung von Doku­men­tar­filmen grund­sätz­lich etwas im Argen liegt. Und zwar keine Klei­nig­keiten, sondern etwas, was man heut­zu­tage als „syste­misch“ bezeichnen würde.

Der Umgang mit den Menschen in Doku­men­tar­filmen

Was aus meiner Sicht als lang­jäh­riger Doku­men­tar­filmer aller­dings in all diesen Diskus­sionen völlig vernach­läs­sigt wird, ist der Umgang mit den Menschen, die wir in unseren Filmen zeigen. Ich sehe hier sogar das größte Versäumnis innerhalb dieser Debatte.
Wir Filme­ma­cher und damit auch die Sender, die uns in unserem Unter­fangen unter­s­tützen und kollegial zur Seite stehen sollen, haben eine große Verant­wor­tung gegenüber den Menschen. Über diese Verant­wor­tung, die im Übrigen auch eine gesell­schaft­liche Verant­wor­tung ist, muss debat­tiert werden. Leider reden wir fast ausschließ­lich nur über die Befind­lich­keiten der Filme­ma­cher und Künstler, alle in der Regel weiß, männlich und aus gutbür­ger­li­chen Familien stammend, – aber wir reden nie über die Menschen in den Filmen. In besseren Doku­men­tar­filmen spürt man, dass die Filme nicht „über“, sondern „mit“ den Menschen gemacht wurden.

Wäre man von dieser Grund­ver­ant­wor­tung für die Menschen in Doku­men­tar­filmen ausge­gangen, meine Güte, was hätte man für einen span­nenden Film über die Sexar­bei­te­rinnen in den Liebes­wagen machen können. Wenn alle Betei­ligten „offen“ mit den Schwie­rig­keiten beim Dreh umge­gangen wären. Vor allem auch mit dem, was man nicht filmen konnte, durfte, wollte oder wo die Sexar­bei­te­rinnen klare rote Linien zogen. Ein Off-Kommentar der Filme­ma­cherin über diese Schwie­rig­keiten einer filmi­schen Darstel­lung drängt sich geradezu auf. So hätte man auch die vielen senti­men­talen, z.T. sexis­ti­schen und auch rassis­ti­schen Klischees vermeiden können. Man hätte, wie viele Doku­men­tar­filme das durchaus immer wieder schaffen, Tacheles geredet, ohne sich bestimmten „filmi­schen“ Moden anzu­bie­dern. Die Menschen im Film hätten im Vorder­grund gestanden und zwar ohne unnötigen Voyeu­rismus.

Haben sich Sender und Produ­zenten im Vorfeld andere Filme zum Thema ange­schaut, haben sie Kontakt aufge­nommen zu den Vertre­tungen/Gewerk­schaften von Sexar­bei­te­rinnen? Diese Arbei­te­rinnen sind doch nicht nur Opfer, sondern sie sind auch starke Frauen, die viel Leid ertragen müssen. Hören wir auf, sie mit diesen falschen Senti­men­ta­li­täten zu belegen, die uns ja bereits täglich in den forma­tierten „Doku-Sendungen“ um die Ohren gehauen werden.

Die Menschen als kapi­ta­lis­ti­sche Ware im „schönen“ markt­ori­en­tierten Doku­men­tar­film

Doku­men­tar­filme zu machen, ist kein Hexenwerk. Es ist auch kein Hexenwerk, die Arbeits­weise dieser Filme schon während des Filmens und Tonauf­neh­mens offen zu legen. Die Menschen, die wir als Macher vor unsere Kamera- und Tonap­pa­rate stellen, verdienen aber einen anderen Umgang als z.B. bezahlte Schau­spieler im Spielfilm (die natürlich auch anständig behandelt werden müssen). In einem Spielfilm sagt ein Regisseur, wie die Schau­spieler spielen sollen. Dort wird man für das „Spielen“ einer bestimmten Person entlohnt.

Im Doku­men­tar­film geht man eine ganz andere Verein­ba­rung ein. Die Menschen darin werden nicht bezahlt. Sie stellen aber ihr eigenes Leben oder zumindest einen Teil davon aus – und zwar für immer. Sie gehen das größte Risiko ein. Ihre Familien, Bekannten und Freunde werden sie zu dem gedrehten Film befragen. Umso wichtiger ist, dass es ein Vertrau­ens­ver­hältnis oder zumindest eine gemein­same Basis/Absprache zwischen Filmenden und Gefilmten gibt. Ein solches Vertrau­ens­ver­hältnis erfährt oft auch eine schrift­liche Verein­ba­rung, eine soge­nannte Frei­stel­lungs­er­klärung. Erst diese gibt den Filme­ma­chern das Recht, das aufge­nom­mene Material überhaupt für den Film benutzen zu dürfen.

Welche Verein­ba­rungen und Abspra­chen gab es in Lovemobil? Wieso wurden bei dem riesigen Erfolg des Films eigent­lich nie die gefilmten Menschen zu Festivals einge­laden und von den Medien inter­viewt?

In der Ethno­logie und Anthro­po­logie spricht man seit langer Zeit über das Verhältnis von Unter­su­chenden und Unter­suchten oder eben von Gefilmten und Filmenden. Jean Rouch, Anthro­po­loge und Filme­ma­cher, hat dies ebenfalls getan. Unter Filme­ma­chern sind diese Dinge immer wieder debat­tiert worden. Jetzt, ganz aktuell, reden Filme­ma­cher aller­dings über das Verkaufen und Vermarkten, tech­ni­sche Details, „den besten Pitch“, welches Festival das wich­tigste ist, wie der Filme­ma­cher das wieder so „schön“ hinbe­kommen hat oder darüber, was für eine „wahn­sinnig wichtige“ Sache der Film von Soundso politisch vertritt. Ich rede vom Markt, von Propa­ganda und Werbung. Wir erklären die Menschen, die in unseren Filmen mitmachen, zu einem reinen Produkt auf dem Markt eitler Filme­ma­cher. Das Ego des Künstlers wird in Form des roten Teppichs bauch­ge­pin­selt. Und die Menschen im Film? Eine ganz besondere Doku­men­tar­filme-Blase ist da entstanden, wo eine Sich-Gegen­seitig-Auf-Die-Schulter-Klopfen-Menta­lität verbreitet ist und niemand sich mehr traut, den Film der anderen zu kriti­sieren. Eine allge­meine Wohlfühl-Kultur, eine Null-Debatten-Kultur ist entstanden. Wir haben „Menschen“ zur „Ware“ gemacht.

Hinter­fragen der eigenen Doku­men­tar­filme

Wir Doku­men­tar­filmer selbst müssen uns hinter­fragen. Nur eine Form des Doku­men­tar­films gibt es nicht. Es gibt sehr viele, dazu gehört auch der total insze­nierte. Authen­ti­zität, die reine Lehre also, gibt es nicht, wie Rüdiger Suchsland richtig schreibt:
»Worum es dagegen tatsäch­lich geht, ist relative Authen­ti­zität. Es gibt einen unaus­ge­spro­chenen Vertrag zwischen einem Filme­ma­cher und seinem Publikum. Auf der einen Seite setzt dieser ein mündiges Publikum voraus, also Zuschauer und Zuschaue­rinnen, die so etwas wie Schnitt und Montage wahr­nehmen, und denen zumindest unbewusst klar ist, dass wenn die Kamera sich bewegt, dies nicht durch die Hand Gottes geschieht, sondern durch den Willen des Regis­seurs. Auf der anderen Seite ist ebenso die Ehrlich­keit eines Filme­ma­chers voraus­ge­setzt: Dort wo Insze­nie­rungen oder Re-Enactment nicht für jeden sowieso sofort erkennbar sind, muss man sie kenn­zeichnen. Dies muss nicht notwendig dadurch geschehen, dass zum Beispiel eine kleine Bild­un­ter­schrift darauf hinweist, dass hier Realität nach­ge­stellt wird. Es genügt voll­kommen, im Abspann eines Films darauf hinzu­weisen, dass einige Szenen im Film von Akteuren oder Schau­spie­lern nach­ge­stellt wurden, und dass nicht alle im Film zu sehenden Figuren mit ihren wirk­li­chen Personen identisch sind. Dies nicht unter­nommen zu haben, ist das große Versäumnis der Filme­ma­cherin Elke Margarete Lehren­krauss bei ihrem preis­ge­krönten Film Lovemobil

Das Lechzen nach eindi­men­sio­nalen Helden­ge­schichten – Das verant­wor­tungs­lose Handeln aller Akteure im deutschen Doku­men­tar­film

Es läuft grund­sätz­lich etwas falsch, wie Doku­men­tar­filme in Deutsch­land finan­ziert und herge­stellt werden. Auch das erwähnt Suchsland zu Recht.
Das öffent­lich-recht­liche Fernsehen jeden­falls setzt seit langen Jahren auf über­wie­gend konser­va­tive drama­tur­gi­sche Modelle, die einer klas­si­schen Helden­ge­schichte entspre­chen und die häufig mit den vielen unter­schied­li­chen Reali­täten in diesem Land nichts zu tun haben. Pfle­ge­kräfte werden als Helden tituliert. Wenn sie eine Lohner­höhung einfor­dern, dann sind sie plötzlich wieder lästig. Bestimmte gesell­schaft­liche Klassen finden in den Leit­me­dien und in dieser neuen Form des gescrip­teten Doku­men­tar­films nur als Abzieh­bilder statt – nicht als voll­wer­tige Menschen.

Führt das Fernsehen noch Realität vor?

Elke Lehren­krauss ist bestimmt beraten worden. Was hat man ihr denn geraten?

Wenn der NDR sich jetzt auf die Filme­ma­cher Eberhard Fechner und Klaus Wilden­hahn beruft, wirkt das aus verschie­denen Gründen befremd­lich, denn beide waren fest­an­ge­stellte Filme­ma­cher und mussten nicht für ihre Filme bei Sendern tingeln gehen und für schmales Geld groß­ar­tige Filme machen. Elke Lehren­krauss bekam sage und schreibe 36.000 Euro vom NDR für ihren Film. Fechner und Wilden­hahn konnten nur durch ihr Fest­ge­halt und durch ihr Eintreten für den laut Staats­ver­trag fest­ge­legten Auftrag des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens zu den großen Chro­nisten der west­deut­schen Wirk­lich­keiten der 60er bis 80er Jahre werden. Dieser Auftrag des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens bezüglich des Doku­men­tar­films wird seit fast 20 Jahren nicht mehr volls­tändig wahr­ge­nommen, wie die Studien des Medi­en­pu­bli­zisten Fritz Wolf belegen. Den langen Doku­men­tar­film gibt es kaum noch im deutschen TV. Und die Berufung auf die Tradition von Fechner und Wilden­hahn wirkt befremd­lich, weil viele (natürlich nicht alle) Redak­tionen, Film­fes­ti­vals, Verleiher, World Sales und leider auch Film­kri­tiker keine „offenen Doku­men­tar­filme“ mehr wollen oder bespre­chen. Man will die geschlos­sene Form, die uns empört, aufregt und emotional mitnimmt. Man will Netflix, Amazon, Apple, Disney+. Man will das durch­ge­plante Sommer­mär­chen. Man will also das Gegenteil von zurück­hal­tend, ruhig, beob­ach­tend, distan­ziert, sich nicht gemein machend mit dem Sujet, sich verschie­denen Reali­täten annährend oder Grautöne und Zweifel am Gehörten und Gesehenen zulassend.

Die vormalige Entkopp­lung des Doku­men­tar­films von kapi­ta­lis­ti­schen Markt­me­cha­nismen als Beispiel für die Zukunft

Für den NDR und auch alle anderen öffent­lich-recht­li­chen Sender habe ich ein Zitat aus dem Jahre 1967 von Klaus Wilden­hahn heraus­ge­sucht. Sein Buch »über den synthe­ti­schen und doku­men­ta­ri­schen Film« möchte ich der Regis­seurin von Lovemobil, aber auch allen im Doku­men­tar­film­be­reich tätigen Personen empfehlen, aber nicht als etwas in Stein gemeißeltes, sondern um zu zeigen, wie man mit „Reali­täten“ auch umgehen kann und um eine sehr alte Debatte neu zu beleben:

»Keine ziehende Wolke wird gefilmt, um zu sagen, das Leben sei eine flüchtige Ange­le­gen­heit. Hat man die direkte Aussage nicht geschafft, läßt man derar­tiges. Was man hat, hat man, und es wird kein drama­tur­gi­sches Gehäuse vorge­täuscht, wo es nicht vorhanden ist. Jeder, der etwas länger mit Film gear­beitet hat, weiß, wie leicht es ist, rasante Monta­ge­folgen herzu­stellen, gute Übergänge zu finden, und in der künst­li­chen Welt des Schnei­de­raums das Drama umzu­fum­meln. Mit leichter Hand Sarkasmus, Senti­men­ta­lität und Über­le­gen­heit einzu­streuen. Eine Geschlos­sen­heit der Aussage herzu­stellen, die wenig oder gar nichts mit Wirk­lich­keit zu tun haben muß. Gewisse Schnitt­folgen sind so in das Bewußt­sein einge­drungen wie die Harmonien von Kirchen­lie­dern. Man kann sie mitsingen, ohne das Lied zu kennen. Mit geschlos­senen Augen. Man weiß, was kommt: Hunger, Stachel­draht, die Freien, die Unfreien, das ganze Schach­brett der Spie­ler­fi­guren. Das kann wunder­schön sein und Unter­hal­tung und kann sogar Weisheit enthalten. Im Doku­men­tar­film sollte diese Typi­sie­rung wegfallen. Jeder Versuch einer Rundung, die nicht natürlich sich einstellt, müßte wie die Pest vermieden werden. Man zeigt eine Sammlung von Splittern her, die man einge­sam­melt hat. Hatte man Glück und Ausdauer, gelingt es, den Zuschauer in den Span­nungs­bogen des offenen Spieles mitein­zu­be­ziehen. Des Spieles zwischen Filme­ma­cher und dem Gefilmten. Und wenn der Zuschauer will, kann er Stellung beziehen nicht nur zum Gezeigten, sondern auch zum Hersteller und seinen offen zutage tretenden Vorlieben und Anti­pa­thien. Wenn der Film seinen Zweck erfüllt, entsteht ein Ener­gie­feld zwischen diesen drei Polen: Gefilmter, Filme­ma­cher und Zuschauer.«

Wilden­hahn nennt zuerst „den Gefilmten“. Was ist also passiert in den letzten 30 Jahren, dass jetzt immer der Filmende so wichtig geworden ist?

Fechner nannte man den „Chro­nisten des Alltäg­li­chen“. Er selbst sagte immer wieder, dass man nur zur Tür heraus­gehen müsse, um eine spannende Lebens­ge­schichte zu finden.

Das 2017 geschaf­fene Fechner-Archiv schreibt:
»Neben der umfang­rei­chen Korre­spon­denz, u. a. mit Walter Jens, Walter Kempowski, Hardy Krüger, Egon Monk und Giorgio Strehler gibt es über 1.500 Stunden Tonband­auf­nahmen der Inter­views, die Fechner für seine preis­ge­krönten Doku­men­ta­tionen geführt hat. Da die Inter­views nur zu einem geringen Teil in die Filme einge­gangen sind, besitzen diese Aufnahmen einen großen Quel­len­wert vor allem auch für die Erfor­schung der Alltags­ge­schichte in der BRD der 1970er bis 1990er Jahre.«

Für seinen viel­leicht besten und eindrück­lichsten Film über den Düssel­dorfer Majdanek-Prozess brauchte er 10 Jahre. Ich zitiere den Text von Eberhard Fechner aus dem Booklet der bei Absolut Medien erschie­nenen DVD-Edition: »28000 Seiten umfassten die Beschul­digten-Bände der Anklage, 507 Seiten stark waren die Ankla­ge­schriften, 795 Seiten dick die schrift­liche Urteils­be­grün­dung. Dazu kamen Tausende Seiten Plädoyers der Vertei­diger und der Ankläger. Alles musste auf die Verwend­bar­keit für den Film geprüft werden. Alleine die Abschriften der 70 Inter­views sind über 8000 Seiten lang. 150000 Meter Film, 230 Stunden Material, aus dem in über 2 Jahren Schnitt ein drei­tei­liger Film von insgesamt vier­ein­halb Stunden Länge wurde. Er enthält ausschließ­lich Aussagen von Prozess­be­tei­ligten. (…) Vorbild ist dabei Anton Chechov, der 1888 an einen Freund schrieb: ›Der Künstler soll nicht Richter seiner Personen sein, sondern nur ein leiden­schafts­loser Zeuge. Beur­teilen werden es die Geschwo­renen, das heißt die Leser. Meine Sache ist nur die Fähigkeit zu besitzen, die wich­tigsten Äuße­rungen von den unwich­tigen zu unter­scheiden und sie in Beziehung zuein­ander zu setzen.‹«

Hat all dies hier Beschrie­bene nicht viel­leicht etwas mit dem Auftrag der öffent­lich-recht­li­chen Sender und Förderer zu tun? Ich glaube, dass es das hat.

Deshalb möchte ich die Sender darum bitten, endlich mit allen betei­ligten gesell­schaft­li­chen Gruppen eine Debatte über die Miss­stände bezüglich der Produk­tion von Doku­men­tar­filmen anzugehen, denn das Beispiel von Lovemobil deckt eben diese viel­fäl­tigen Miss­stände auf. Nur mit dem Finger auf die Filme­ma­cherin zu zeigen, ist zu einfach. Das Problem stellt sich wesent­lich kompli­zierter und komplexer dar, deshalb muss bei diesem Fall alles offen auf den Tisch gelegt werden. Nutzen wir die Chance, um das System der Herstel­lung von Doku­men­tar­filmen grund­le­gend zu verbes­sern. Nehmen wir Sender, Festivals, Förderer und Jurys in die Pflicht. Übrigens glaube ich auch, dass wir Doku­men­tar­filmer ein neues, alter­na­tives und dem Gemein­wohl verpflich­tetes Förder­system brauchen, damit wieder aufre­gende poli­ti­sche Filme in diesem Land gemacht werden können. Ein System, in dem man endlich wieder einen Aufbruch spüren kann, eine Lust am Kino, am Geschich­ten­er­zählen und an den vielen unter­schied­li­chen Menschen in diesem Land.

In dem Buch: »Die Siedler Francos: Ein Beispiel für die Zurück­drän­gung des suchenden Doku­men­tar­films« beschreiben verschie­dene Autoren anhand eines konkreten Films die o.g. Probleme.

Dietmar Post ist ein deutscher Doku­men­tar­film­re­gis­seur, der 2008 mit seiner Partnerin Lucía Palacios für Monks – The Trans­at­lantic Feedback mit dem Adolf-Grimme-Preis ausge­zeichnet wurde.