Lovemobil-Debatte
Der bessere Max Ernst |
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Max Ernst (links) mit Bundeskanzler Willy Brandt in dessen Olympia-Quartier in Feldafing, 1972 | ||
(Foto: Bundesarchiv/WikiCommons) |
Von Arne Birkenstock
»Vielleicht bin ich ja der bessere Max Ernst«, erklärte mir der Kunstfälscher im Interview. „Richtig“ war daran nur: Seine Fälschungen atmeten den Zeitgeist der Gegenwart, waren dadurch an der Oberfläche vielleicht gefälliger und leichter zu verkaufen, als die Originale, die in den Zwanziger- und Dreißiger-Jahren entstanden sind. »Ich schaffe so eine größere Authentizität«, erzählte die Filmemacherin, als es um ihr verkorkstes Langfilm-Debüt Lovemobil ging. „Richtig“ ist auch in ihrem Fall: Die hier geschaffene „Authentizität“ entspringt zwar keinem dokumentarischen Material oder echten Protagonistinnen, sondern dem biederen Blick einer Bildungsbürgerin auf das Milieu der Wohnwagen-Prostitution. Aber erfüllt so die Erwartungen, die andere Bildungsbürger aus Redaktionen, Filmpreis- und Festivalkommissionen ans Sujet so haben, viel „besser“, als es der Originalsprech zweier Prostituierter und ihres Zuhälters jemals könnte.
In beiden Fällen liegt eine gewisse Hybris, vor allem aber ein großes Missverständnis zugrunde: Natürlich kann der künstlerische Wert einer Fälschung nicht größer oder besser als das Original sein, auch wenn sich die Fälschung womöglich besser verkauft, weil sie ein wenig von der Kunstgeschichte seit Max Ernst und der Popkultur der 2000er Jahre mit den künstlerischen Schöpfungsideen des Originals vermengt und so ein marktkompatibles, den Erwartungshaltungen von Galeristen, Sammlern und Auktionshäusern entgegenkommendes Kunsthandwerk schafft. Und natürlich ist die von einer Regisseurin imaginierte Authentizität im Lovemobil nicht deshalb „größer“, weil diese von ihr selbst künstlich herbeigeführte Vorstellungswelt viel mehr den Erwartungen, Klischees und Vorurteilen entspricht, die Kuratoren, Redakteure und Preisrichter von Lovemobilen und ihren Bewohnerinnen so haben.
In Interviews entschuldigt sich die Regisseurin nun und bereut ihren vermeintlichen Kardinalfehler, nämlich die fehlende Kennzeichnung des Ganzen. Dass der eigentliche Fehler viel früher geschehen ist und dass eine Tafel im Abspann aus einer Notlüge lediglich eine Notlösung, aber noch lange kein künstlerisches Konzept – und schon gar kein dokumentarisches gemacht hätte, kann sie nicht eingestehen.
Wenn eine Regisseurin Szenen mit Laiendarstellern und von ihr selbst und diesen mit ihr befreundeten Darstellerinnen improvisierten Dialogen inszeniert, dann ist das ein künstlerisch zumindest fragwürdiges Vorgehen, ein dokumentarisches Konzept ist es keinesfalls. Es spricht überhaupt gar nichts gegen die visuelle Umsetzung und dramaturgische Verdichtung von dokumentarischem Material auch mit inszenatorischen Mitteln, aber: Bildungsbürgerliches Impro-Theater ist kein dokumentarisches Material!
Dokumentarisches Material kann aus anonymisierten Interviews, aus Tagebüchern, Briefen oder was auch immer bestehen, aber es sollte eben einer dokumentarischen Realität, dem Milieu und denjenigen entspringen, um deren Lebenswirklichkeit es jeweils geht und nicht dem Kopf einer Regisseurin, die mit diesem Milieu im Grunde nichts zu tun hat, und am Abend eines jeden Drehtages die Wohnmobile verlässt und zurückfährt nach Gifhorn, in das großbürgerliche Eigenheim ihrer Eltern.
Das Ergebnis einer vierjährigen Beschäftigung mit diesem Milieu hätte eben sein müssen, authentisches und dokumentarisches Material zu finden und, wenn sich dieses verständlicherweise nicht beobachtend mit der Kamera einfangen lässt, ein Konzept zu entwickeln, mit dem dieses Material visualisiert und in einem Film erzählt werden kann. Die Regisseurin hat mit der Entscheidung, weggelaufene Protagonistinnen durch dahergelaufene Laiendarstellerinnen zu ersetzen, zuallererst sich selbst und ihre eigene Arbeit verraten und dabei ganz nebenbei auch vier Jahre Recherchearbeit in die Tonne gekloppt.
Diese Erkenntnis ist bitter und für die Kollegin schwer einzugestehen. Von ihr hören und lesen wir nun vor allem weinerliche Vorwürfe: Der Redakteur hätte sich zu wenig Zeit genommen, sonst hätte sie sich ihm womöglich offenbart und ihr Problem geschildert. Die finanziellen Rahmenbedingungen waren prekär und außerdem habe der Redakteur bei einer Materialsichtung ja selbst eine authentische Protagonistin aus dem Film geschnitten. Entschuldigung? Diesem Redakteur wurden sämtliche Protagonisten als »echt« präsentiert, natürlich rät er zur Konzentration auf diejenigen, die aus seiner Sicht filmisch und dramaturgisch am besten wirken und funktionieren. Dass auch dabei vielleicht unbewusst die bildungsbürgerlichen Reflexe und Klischees zum Tragen kommen, die die Filmemacherin mit ihrer Inszenierung bedient – siehe oben – geschenkt.
Und natürlich müssen wir über die prekären wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Dokumentarfilme und ihre Macher sprechen, über die üblich gewordenen Rückwärtskalkulationen bei den meisten Sendern und über die fatale Tendenz, den Filmemachern einen immer größeren Lizenzumfang für immer weniger Geld abzupressen. Aber doch bitte nicht am Beispiel Lovemobil, sondern am Beispiel der vielen, vielen Filme, die ebenfalls unter dem Zwang zur Selbst- und Fremdausbeutung entstehen und die trotzdem nicht mit Laienschauspielern betrügen.
Für den NDR war das Ganze ein Schnäppchen: 36.000 Euro für neunzig Minuten Dokumentarfilm zum öffentlichen Abfeiern des Films und der dafür verliehenen Preise und dann noch einmal genau so viel Sendestrecke zum öffentlichen Abfackeln der Regisseurin auf allen Kanälen von „Strg F“, über „Kulturjournal“ und „Panorama“ bis „Zapp“. Transparenz und damit auch Öffentlichkeit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind in so einem Fall richtig und wichtig. Eine derart einseitige und unreflektierte Medienkampagne gegen die eigene Debüt-Regisseurin durch den Sender ist aber widerwärtig und zutiefst unkollegial!
Und nun lehnen sich alle mehr oder weniger selbstgefällig zurück: Der Sender in seiner verlogenen Aufklärungspose, die Regisseurin mit halbherzigen Entschuldigungen für eine unterlassene Tafel im Abspann und die Festivalkuratoren mit didaktischen Diskursen über Hybridformen im Dokumentarfilm. Mein Problem damit: Lovemobil i st kein Dokumentarfilm, sondern ein Spielfilm, der unter falscher Flagge gesegelt ist.
Und doch müssen wir Dokumentarfilmer fassungslos mit ansehen, wie sich „dank“ dieses Machwerks Kriterien verschieben:
Geht’s noch? Hier verrutschen Maßstäbe auf höchst gefährliche Weise, weil ein völlig falscher Film zur Referenz wird. Aber: Lovemobil i st kein Maßstab und schon gar keine Referenz. Jedenfalls nicht für künstlerisches dokumentarisches Arbeiten. Wir sollten über verlogene und überzogene Erwartungshaltungen an Dokumentarfilme reden, über die vermeintlich publikumstauglichen Anforderungen zur Erfüllung spießbürgerlicher Klischees. Unbedingt diskutieren sollten wir auch über die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und den öffentlich-rechtlich und staatlich „geförderten“ Zwang zur Selbstausbeutung im Dokumentarfilm! Für all das gibt es zahllose Filme und Beispiele. Der mediokre Spielfilm Lovemobil gehört nicht dazu.
Arne Birkenstock ist Regisseur und Produzent. Für seinen kontrovers diskutierten Dokumentarfilm Beltracchi – Die Kunst der Fälschung über den Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi erhielt er 2014 den Deutschen Filmpreis für den besten Dokumentarfilm. Er produziert Dokumentarfilme von Regisseurinnen und Regisseuren wie u.a. Yasemin Samdereli, Uli Gaulke, Enrique Sánchez Lansch, Florian Opitz, Marcus Vetter, David Bernet und Milo Rau, zuletzt Das neue Evangelium. Arne Birkenstock vertritt die Sektion Dokumentarfilm im Vorstand der Deutschen Filmakademie.