Vor dem Massaker |
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Das Kino wird an sich selbst und an seinen Filmen ersticken – auch an Martin Eden | ||
(Foto: Piffl Medien) |
»Hot summer streets and the pavements are burning, I sit around
Trying to smile but the air is so heavy and dry
Strange voices are saying (What did they say?) things I can’t understand
It’s too close for comfort, this heat has got right out of hand
It’s a cruel (Cruel), cruel summer/ Leaving me here on my own
It’s a cruel (It’s a cruel), cruel summer/ Now you've gone«
- Bananarama
Es ist der absolute Wahnsinn. Dieser Tage werden nicht nur die Filmtitel veröffentlicht, die in sechs Wochen beim Filmfestival von Cannes laufen werden. Sondern auch die Titel all jener Filme, die nach Öffnung der Kinos in diesen Kinos zu sehen sein werden.
Es geht wieder los. Die Nervosität ist unübersehbar.
Im Augenblick ist es zwar im Einzelnen noch ein ziemliches Durcheinander; fast stündlich verschieben sich irgendwelche Starttermine, es kommen welche hinzu, es fallen welche heraus, und heute Vormittag hatte zumindest ein Filmtitel zeitgleich sogar gleich zwei offizielle Starttermine.
Aber klar ist: Diesen Sommer kommt eine wahnsinnige Menge ziemlich guter Filme auf uns zu. Während ansonsten der Juni, der Juli und der August selbst dann, wenn kein Sport-Großereignis stattfindet, ziemlich film- und zuschauerschwache Monate sind, wenn es um die Zahl der Filme geht und erst recht um ihre Qualität, ist diesmal auch in dieser Hinsicht alles anders.
Kaum zu glauben, was da alles anlaufen soll!
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Godzilla vs King Kong, so heißt einer der ersten Filme, der bereits am 1. Juli starten wird. Der Titel passt besser als jeder andere, denn auch an der Kinokasse prügeln die Giganten aufeinander ein: Nomadland, der von vielen überschätzte und zu Unrecht gefeierte, aber publikumswirksame Oscar-Triumphator wird die Wellness-Arthouse-Gemeinde ins Kino locken, und das Publikum von Maria Schraders Berlinale-Wettbewerbsbeitrag Ich bin dein Mensch allzu stark abziehen. Erst recht so, fürchte ich, wird es Sandra Wollners großartigem Panorama-Preisträger vom Vorjahr, The trouble with being born ergehen. Ich hoffe, ich werde da widerlegt.
21 Filme starten allein an diesem ersten Tag des Kinos: Auch Wong Kar-wais In the Mood for Love wird an diesem Tag und keinem anderen wieder aufgeführt. Pepe Dankwarts Pasolini-Hommage Vor mir der Süden, ein herrlicher Sommerfilm, kommt an diesem Tag heraus. Immerhin wurde Dominik Grafs Fabian oder Der Gang vor die Hunde um einen Monat nach hinten verschoben.
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Man fragt sich: Warum müssen alle diese Filme und all die anderen schon gleich am 1. Juli starten? Und findet doch die Antwort gleich in den nächsten Wochen: 14 Filme starten am 8. Juli. An den nächsten drei Kinodonnerstagen des Monats dann 12, 14 und 18 Filme, also insgesamt 79 Filme in einem einzigen Monat! Und das mitten im Sommer, in einer Zeit, wenn die Menschen schon des Wetters wegen lieber draußen an der Sonne und an der frischen Luft sind, und nach dem Kneipen-Lockdown es auch erstmal wieder genießen werden, im Biergarten und im Restaurant sitzen zu dürfen. Außerdem buhlt noch die Fußball-Europameisterschaft um Zuschauer.
Kann das gutgehen?
Und was für Filme! Der neue ziemlich gute Xavier Dolan (Matthias & Maxime). Die ungewöhnliche, sehr stilvolle und eigensinnige Jack-London-Verfilmung Martin Eden. Henrika Kulls Berlinale-Geheimtip-Renner Glück, ein überraschender, sehr sinnlicher Film. Orphea von Alexander Kluge und Khavn de la Cruz – schon allein wegen Lilith Stangenberg ein Muss. Thomas Vinterbergs großartiger Film Der Rausch. Samirs Baghdad in my Shadow; Daniel Brühls Nebenan; Radu Judes Berlinale-Sieger Bad Luck Banging Or Loony Porn; Das Mädchen und die Spinne von Ramon und Silvan Zürcher, in seiner Bescheidenheit einer der ungewöhnlichsten Filme des letzten Jahres; der neue François Ozon-Film Sommer 85 und schließlich Cate Shortlands Superhelden-Film Black Widow mit Scarlett Johansson und Florence Pugh und vieles vieles mehr.
Im August geht es dann so ähnlich weiter, neben Dominik Grafs Fabian oder Der Gang vor die Hunde und Michel Franco’s New Order kommen Woche für Woche mindestens 2-3 weitere Filme, wegen denen man unbedingt ins Kino gehen sollte.
Das wird nicht gutgehen! Dem Kino droht der Kollaps. Das Kino wird an sich selbst und an seinen Filmen ersticken. Ein Selbstmord aus Angst vor dem Tode.
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Denn diese Filmtitel sind es ja nicht allein. Natürlich werden sie sich alle gegenseitig kannibalisieren in der Wahrnehmung durch das Publikum, im Kampf um verkaufte Tickets an der Kinokasse, und schon um Leinwand-Plätze in den Kinos. Natürlich ebenso, wenn es um Plätze für Filmkritiken geht. In den ohnehin schon schrumpfenden Kultur-Teilen der in Bedrängnis geratenen Tageszeitungen können so viel gute Filme auch beim besten Willen gar nicht adäquat besprochen werden. Im Radio immerhin gibt es noch relativ viele Plätze und Aufmerksamkeit, aber auch keineswegs genug.
Was aber auch noch hinzukommt: Im Juli finden die Filmfestspiele von Cannes statt. Sie werden in den Medien mehr Platz einnehmen als jeder noch so attraktive normale Kinostart. Bereits gute zwei Wochen nach dem Ende der Filmfestspiele von Cannes geht das nächste A-Festival los, die Filmfestspiele von Locarno Anfang August. Und wieder gute zwei Wochen danach beginnt Venedig. Es kommt Schlag auf Schlag. Mitte September, wenn Venedig dann gerade vorbei ist, beginnt San Sebastian.
Parallel auch noch Toronto, das zumindest als Filmmarkt wichtig ist, und das von den deutschen Medien seit Jahren über Gebühr abgedeckt wird.
Vor allem aber gibt es zur gleichen Zeit noch viele andere gute internationale und nationale Filmfestivals: Sarajevo, Ludwigshafen, Oldenburg und Hamburg, alles bis Anfang Oktober.
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Zugleich kommen mit diesen Filmtiteln auch die notorischen Meckerer wieder aus ihren Lockdown-Löchern und erheben ihre Stimmen: Für diese selbsternannten Publikumsversteher sind die allermeisten dieser ganzen Titel »publikumsfern«. Nicht früh genug kann es endlich wieder den nächsten amerikanischen Blockbuster geben, den nächsten Krach-Zack-Bumm-Superhelden-Film, die nächste Apokalypse in der Weltrettung mit Explosionskaskaden.
Dabei ist es gut, dass nicht jeder US-Blockbuster gleich im ersten Monat in die deutschen Kinos gekübelt wird. Es hieße auch, die Zuschauer zu unterschätzen, wenn man glaubt, dass sie nur in neue amerikanische Fast-Food-Ware gehen wollten. Von der gibt es ja trotzdem genug auf der Startliste.
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Parallel dazu die nächste Diskussion. Sie ist alles andere als neu: Die unbefriedigenden Pandemie-Konzepte. Die Beschränkungen, die die Kinos einstweilen daran hindern, wieder »back to normal« zu gehen und so Kino zu machen wie vor dem März 2020.
»Wie vor dem März 2020« heißt aber auch: So transusig, konservativ und vor allem langweilig.
Es ist ja alles richtig: Kinos haben sich als sichere Orte erwiesen, und man hätte die Kinos über den ganzen Lockdown hinweg mit ein bisschen guten Willen offen halten können. Aber werfen wir doch nicht mit Nebelkerzen!
Den Kinos geht es nicht so schlecht wie den meisten anderen in der Branche.
Viele Kinos ruhen sich auf den bequemen Corona-Hilfsmaßnahmen aus und verweigern sich nach wie vor der Wiedereröffnung. Das ist ein unhaltbarer, grundsätzlich falscher Zustand!
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Es läuft etwas grundsätzlich falsch, wenn es sich für ein Kino mehr lohnt, geschlossen zu bleiben als mit halber Zuschauerzahl zu öffnen.
Man soll den Kinos wie der ganzen Filmbranche Subventionen geben, und im Zweifelsfall immer mehr, als sie schon bekommen. Das ist nicht die Frage. Aber wahr ist auch, dass die Subventionen, die es schon gibt, offensichtlich falsch verteilt werden.
Offensichtlich wird der Lockdown subventioniert und die Öffnung nicht. Das muss sich
grundsätzlich ändern. Man soll den Kinobetreibern Subventionen geben, aber man sollte sie ihnen nur dann geben, wenn sie bereit sind, zu öffnen. Wenn sie Jobs schaffen, und seien es nur schlecht bezahlte Minijobs. Und wenn sie den ebenfalls subventionierten Verleihern und den ebenfalls subventionierten Filmproduzenten wenigstens ein bisschen Geld zurückzahlen.
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Stattdessen erscheint seit 15 Monaten auf allen denkbaren Medien ein Kino-Kitsch-Beitrag nach dem anderen. Wenn ich lese, was da so alles über das Kino geschrieben wird und wurde, dann wird mir schlecht.
Diese schmierige Sentimentalität, diese Verklärung von Unglück, mieser Laune und Pedanterie, von schlechtem Geschmack, Zuschauerferne und Zynismus. Das Kino lebt, ja! Aber es lebt nicht wegen der Kinobetreiber, sondern meistens trotz ihnen. Natürlich gibt es viele, viele Engagierte; viele Einzelne, die jede Unterstützung verdienen und nicht nur, weil sie kämpfen, nicht nur, weil sie gute Ideen haben, sondern vielleicht auch, weil sie einfach viel Arbeit, Schweiß und Fleiß in
ihr Kino stecken, weil sie ein gutes Programm machen, weil sie ihr Publikum pflegen.
Sofort könnte ich hier nun eine lange Liste solcher Kinos folgen lassen.
Aber bitte! Kann irgendwer mit gutem Gewissen behaupten, dass diese engagierten Kinobetreiber die Mehrheit ihrer Branche ausmachen? Keinesfalls. Im Gegenteil: Kein Bereich der Filmbranche, zumindest der in Deutschland, ist derart altmodisch, verknöchert und rückwärtsgewandt wie die Szene der Kinobetreiber. Das sollten wir hinter dem ganzen Schmuh, der Corona-Rhetorik und dem ganzen Gejammer über die schlechte Lage der Kinos nicht vergessen, sondern auch einmal offen aussprechen.
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Unglaublich viel wurde in den letzten 15 Monaten, nicht nur an dieser Stelle, sondern eigentlich überall, über die armen, armen Kinobetreiber geschrieben, die so sehr unter der Pandemie gelitten haben, obwohl sie die Einzigen waren, die vom Staat vernünftig entschädigt wurden – im Gegensatz zu den Filmemachern selber, (die in der ganzen Chose immer noch die einzigen Künstler sind), und im Gegensatz zu den Verleihern, die niemand entschädigt hat.
Die armen Kinobetreiber, die natürlich auch die letzten 15 Monate so wie die 15 Jahre davor nicht dazu genutzt haben, sich mal zu überlegen, wie sie die nächsten 15 Jahre eigentlich überleben wollen, und was man dafür für Ideen haben könnte. Wie ein eigener Internetauftritt aussehen könnte, eine dritte Leinwand, wie die Kommunikation mit dem Teil des Publikums abläuft, das noch nicht das Rentenalter erreicht hat, wie man neue Zuschauergruppen ins Kino locken könnte.
Und dann gibt es die Funktionäre und Verbands-Apparatschiks eben dieser Kinos, die auch seit etwa 15 Jahren die gleichen Antworten haben, die sie in den letzten 15 Monaten gegeben haben, obwohl sie schon vor 15 Jahren falsch oder zumindest beschränkt waren: 1. Digitalisierung von allem, das nicht bei 3 auf dem Baum ist; 2. die Sitze müssen besser werden und die Möbel modernisiert; und 3. muss es natürlich weniger Filme geben, vor allem weniger Filme aus Deutschland.
Aber das Kino wird dadurch nicht zu retten sein! Es wird durch diese Kinos nicht zu retten sein, und schon gar nicht durch diese Kinobetreiber. Wenn die letzten 15 Monate irgendetwas gezeigt haben, dann, dass der Ort Kino nicht in der Lage ist, sich wie Münchhausen selbst aus dem Sumpf der langsamen Vernichtung zu ziehen.
Die Rettung des Kinos, des Ortes, den wir alle lieben und lebendig erhalten sehen wollen, wenn es denn überhaupt irgendeine Rettung geben sollte, wird von außen kommen. Sie wird entweder von einer Kulturpolitik kommen, auch wenn diese in den letzten 15 Monaten alles dafür getan hat, den letzten Respekt, den manche vor ihr noch hatten, zu verspielen. Oder die Rettung des Kinos wird von Filmschaffenden kommen und von jenen, die Filme woanders zeigen, auf Streaming-Plattformen und auf Filmfestivals. Die Rettung des Kinos wird von Filmemachern kommen und von Filmhändlern und von Filmkuratoren. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht reichen Nostalgie und Cinephilie doch am Ende nicht aus.
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An den grundsätzlichen Problemen ändert all dies übrigens gar nichts. Sie hat schon vor einem Jahr Lars Henrik Gass recht präzis in einem nach wie vor lesenswerten Gespräch beschrieben, das ich damals mit ihm für den Filmdienst geführt habe.
Vor zwei Wochen legte nun Daniel Sponsel nach, ebenfalls im Filmdienst, ebenfalls in einem Interview, das ich dort mit ihm geführt habe.
Bei allen Unterschieden in den Standpunkten der beiden Festivalleiter gibt es auch Gemeinsamkeiten. Die allerwichtigste, die sich jeder und nicht nur jeder Filmemacher und Kinobetreiber und nicht nur jeder Förderer und Film-Politiker, sondern auch jeder Filmliebhaber hinter die Ohren schreiben muss: Das Kino, wie wir es kannten, wird auf die Dauer so nicht überleben.