Es wird nie wieder Schnee geben |
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Der Abschlussfilm ist von Małgorzata Szumowska, polnische Starregisseurin | ||
(Foto: ŚNIEGU JUŻ NIGDY NIE BĘDZIE / Mittel Punkt Europa Filmfest) |
Von Tatiana Moll
Die gute Nachricht: Auch dieses Jahr kann das MITTEL PUNKT EUROPA FILMFEST wieder physisch am Gasteig stattfinden, wie noch letztes Jahr, als es gerade noch vor dem ersten Shutdown durchkam. Als Termin wurde diesmal der 5.-11. Juli gewählt, noch ohne zu ahnen, dass sich das Filmfest München parallel auf diesen Termin schieben würde. Das soll dem Schwerpunkt auf das östliche Mitteleuropa aber keinen Abbruch tun, im Gegenteil können so entspannt Filme im Kino gesehen werden, während das Filmfest München zu einer Open-Air-Edition einlädt. Ein weiteres Argument für den Besuch von MITTEL PUNKT EUROPA ist die Teilnahme des Gastlandes Belarus, vertreten durch zwei Dokumentarfilme von höchster Aktualität.
Die neun Filme des Festivals, allesamt preisgekrönt, taumeln zwischen traumatischer Vergangenheitsbewältigung, wenig harmonischer Gegenwart sowie unsicheren Blicken und leicht durchschimmernder Hoffnung in die Zukunft.
Eröffnet wird das Filmfestival mit einem hervorragenden Drama des polnischen Regisseurs Piotr Domalewski Jak najdalej stad (I Never Cry) (PL 2020): Das auf wahren Begebenheiten basierende Road-Movie, das als Zusammenstoß eines zynischen, kühnen Teenager-Mädchens mit der europäischen Bürokratie in Irland beginnt, entwickelt sich zu einer intensiven Story über das beschleunigte Erwachsenwerden und das Überdenken eigener Werte und Wünsche. Eine schwierige Reise durch die Vergangenheit und Gegenwart vom Wunschdenken zur Realität. In ihrer ersten Hauptrolle brilliert die großartige Zofia Stafiej, die den Film durch ihre Präsenz von Anfang an bis zum Ende ausfüllt. (Carl-Amery-Saal (CAS), Gasteig, Mo 05.07.2021, 19:00).
Nicht nur Jak najdalej stad beruht auf wahren Ereignissen, sondern auch zwei weitere Spielfilme – Krajina ve stinu (Shadow Country) des tschechischen Regisseurs Bohdan Sláma sowie Služobníci (Servants) des slowakischen Regisseurs Ivan Ostrochovský. Der Unterschied zum polnischen Coming-of-Age-Drama liegt in der Bewältigung der historischen Vergangenheitstraumata. Der Gewinner des Böhmischen Löwen Krajina ve stinu (CZ 2020) erzählt in dokumentarisch eingehauchtem Schwarzweiß von der Suche der Einwohner eines südböhmischen Dorfes nach einer eigenen nationalen Identität, vom Kampf Nationalismus und Kommunismus, vom tragischen Schicksal unschuldiger Menschen in Folge des Zweiten Weltkrieges und danach. Zerrissen zwischen zwei propagandistischen Lagern werden die Menschen in ihrer ganzen Komplexität zwischen Fanatismus und Opportunismus, Rache und Barmherzigkeit, Neid und Wohlwollen, Feigheit und Mut dargestellt. Eine bewegende Geschichte aus einer nicht allzu fernen Vergangenheit. (CAS, Di 06.07.2021, 19:00)
Im Film von Ivan Ostrohovský Služobníci (Servants) (SK/ RUM/ CZ/ IRL 2020) rückt die belastende Vergangenheit der mit dem totalitären kommunistischen Staat kollaborierenden katholischen Kirche in der Slowakei deutlich näher an die Gegenwart heran, in die 80er. Am Scheideweg stehend, müssen sich zwei in einem Priesterseminar neu angekommene Seminaristen gemäß ihrer Moralprinzipien positionieren und einen mit ihrem Gewissen zu vereinbarenden Entschluss treffen, auch wenn sie sich dadurch in Todesgefahr begeben. Auch hier oszillieren die Charaktere zwischen Angst und Loyalität, Geistesstärke und Nichtigkeit, Glaubenstreue und Opportunismus, was durch eine faszinierende Kameraführung verstärkt wird. (CAS, Sa 10.07., 20:00)
Die meisten Dramen des Filmfestivals spielen sich jedoch in der Gegenwart ab, auch wenn in vielen ihrer Szenen Überbleibsel aus der Vergangenheit durchschimmern. Ein Paradebeispiel hierfür ist das Kammerspiel Vlastníci (Owners) des tschechischen Regisseurs Jiří Havelka. Der mit dem Böhmischen Löwen ausgezeichnete Film porträtiert auf gnadenlos satirische Weise die moderne tschechische Gesellschaft als ein Sammelsurium von Menschen, die zum einen unfähig und unwillig sind, Kompromisse zu schließen oder im Sinne des Wohlwollens ihrer Mitmenschen zu handeln, selbst wenn es nur ein wenig von ihrer eigenen Vision abweicht. Und wenn die Zeit für eine Entscheidung kommt, verstecken sich die Streitenden und überlassen ihr Leben im verantwortungsvollsten Moment irgendwelchen Schurken, und das ohne geringste Skrupel. Zum anderen werden den Zuschauer*innen die politischen Ansichten und Mentalitäten dieses sozialen Mikrokosmos vor Augen geführt, welche von Homophobie, Intoleranz, Xenophobie und allgemeiner Feindseligkeit, gemischt mit einer gewissen Melancholie angesichts der kommunistischen Vergangenheit, durchdrungen sind. Eine grandiose schauspielerische Leistung! (Sa 10.07., 17:00)
Ähnlich, nur deutlich aggressiver, geht es im Episodenfilm Békeidő (Treasure City) (HU 2020) des Regisseurs Szabolcs Hajdu zu: Budapest erscheint hier als Ort zwischenmenschlicher Dramen, Gewalttätigkeiten, Feindseligkeiten sowie hoffnungsloser Intoleranz. (CAS, Do 08.07., 19:00)
Mit einer ganz anderen Thematik (sehr erfrischend!) beschäftigt sich ein weiterer ungarischer Film Felkészülés meghatározatlan ideig tartó együttlétre (Preparations to be together for an unknown period of time) (HU 2020) der Regisseurin Lilli Horvát: Es handelt sich um ein rätselhaftes psychologisches Liebesdrama mit Anklängen an den Film Noir, dessen Sujet so doppelbödig ist, dass die Hauptdarstellerin Márta selbst an ihrer eigenen Wahrnehmung zu zweifeln beginnt und zwischen Realem und Imaginärem langsam nicht mehr unterscheiden kann. Das Ganze erinnert sehr stark an das taumelnde Gefühl aus Hitchcocks Vertigo, mit einem Unterschied, dass sich an Stelle von Scotty eine Frau befindet, die nicht mehr begreift, ob sie die Begegnung mit dem Mann, wegen dem sie alles hingeschmissen hat, vielleicht nur erfunden hat. Und dennoch ist sie erstaunlich stark und kühn genug, um weiterzugehen, und ihre Liebe, sei sie nun erfunden oder real, nicht aufzugeben. Ein fesselnder, sehenswerter Film! (CAS, So 11.07., 17:00)
Apropos Kühnheit: So heißt der Debütfilm Courage (D 2021) des belarussischen Regisseurs Aliaksei Paluyan, der von einem jahrzehntelangen Kampf gegen das herrschende totalitäre Machtregime Lukaschenkos in Belarus erzählt. Der Film handelt vom unglaublichen Mut der dort lebenden Menschen, die trotz aller ihnen drohender Gefahren für eine bessere Zukunft demonstrieren, und zugleich von deren absolut nachvollziehbarer Angst und Ungewissheit, was der neue Tag mit sich bringt. Eine Geschichte, die die ganze Palette der Gefühle offenbart: angefangen mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft und großer Euphorie während der friedlichen Proteste nach den Wahlen 2020, bis hin zu Zweifeln an einem möglichen Wind der Veränderungen, der sich zu einer tiefen Verzweiflung entwickelt, wenn die Demonstranten festgenommen werden. Der Film zeigt einerseits große couragierte Menschenmassen auf den Straßen von Minsk, andererseits jedoch Einsamkeit und Isolation des Individuums anhand von drei Protagonisten aus der Underground-Theaterwelt in der belarussischen Gesellschaft, in der letztendlich jeder für sich ist und bleibt. Sehr bewegend! (Fr 09.07.2021, 19:00, im Anschluss Filmgespräch mit dem Regisseur)
Etwas humorvoller und sorgloser wird die weißrussische Gesellschaft in ihrem postsowjetischen Kontinuum im zweiten belarussischen Dokumentarfilm des Festivals Strip And War (BLR, PL 2019) des Regisseurs Andrej Kutsila porträtiert: Zwei Welten in Form von zwei Generationen und eine unüberwindbare Kluft zwischen ihnen sowie zwischen ihren Lebensvorstellungen und Wertsystemen. Mit Witz und Augenzwinkern werden die Protagonisten des Films, Großvater und Enkelsohn, die in einer engen Zwei-Zimmer-Plattenbauwohnung zusammenhausen, gegenübergestellt. Als ein fest überzeugtes Relikt der kommunistischen Vergangenheit und als ein junger Vertreter einer westlich orientierten weißrussischen Gesellschaft könnten sie kaum unterschiedlicher sein, raufen sich aber trotzdem zusammen. Ein ironisches und zugleich liebesvolles Bild über das Koexistieren zweier scheinbar inkompatibler Welten, die dennoch friedlich miteinander auskommen. (Fr 09.07., 21:00)
Abgeschlossen wird MITTEL PUNKT EUROPA mit Śniegu już nigdy nie będzie / Der Masseur (PL/D 2021) der polnischen Starregisseurin Małgorzata Szumowska über einen jungen ukrainischen charismatischen Mann namens Zhenja (Alec Utgoff) aus Tschernobyl, der mit Hilfe seiner telepathischen Kräfte polnische neurotische Neureiche von innen und außen zu heilen versucht. Auch dies ist ein Film über zwei Welten, in welchen persönliche, soziale und ökologische Dramen subtil miteinander verwoben sind. Der Originaltitel „Es wird nie wieder Schnee geben“ verweist auf den globalen Klimawandel, und auf die Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit der polnischen Upperclass-Gesellschaft und den Verlust ihrer eigenen Identität. Die Regisseurin bedient sich direkter Zitate aus Tarkovskys Stalker (UDSSR 1979) oder Serkalo (Der Spiegel) (UdSSR 1975) bei der Schilderung von Zhenjas Kindheit aus Tschernobyl, die aus Erinnerungen an seine Mutter (als Rückenfigur wie die Mutter in Serkalo), an das Glas, das er mit seinen telepathischen Kräften bewegen kann (wie die Tochter aus Stalker), an Licht und Rauch und an Flocken aus radioaktivem Schnee besteht. Zudem veredeln diese Zitate immer wieder sein Wesen, der wie Tarkovskys Stalker Menschen zu ihrem Glück und ihren innigsten Wünschen verhelfen möchte, auch wenn der Protagonist in der Gegend von weißen, ähnlich aussehenden polnischen Villen weit weg von der Figur des Stalkers entfernt ist. Dennoch erscheint er in dieser Siedlung wie eine Hoffnung aus dem für die polnische Wahrnehmung »fernen Osten«, wie der langersehnte Schnee. (CAS, So 11.07., 19:30)
So lässt Szumowskas Abschlussfilm von MITTEL PUNKT EUROPA (parallel dazu gibt es vom Filmfest München eine Hommage auf Mubi) trotz aller Katastrophen dennoch eine kleine Hoffnung in unseren Herzen aufkeimen, auch wenn sie zum Teil mit Gefühlen von Angst, Ungewissheit und Verzweiflung vermischt sein mag. Hoffnung auf den Neuanfang, auf die Vergangenheitsbewältigung, auf Toleranz und Akzeptanz und auf eine große Liebe.