20.07.2021

Baustelle Leben

Hamishim
Neuland unterm Pflug: Ilanit Ben-Yaakov als Alona in Hamishim – Fünfzig
(Foto: arte.tv)

Die arte-Miniserie Hamishim – Fünfzig über eine 49-jährige von Wechseljahren, Kindern, Job und Libido geplagte Drehbuchautorin ist ein Glücksfall: fast ohne Männer erzählt sie doch über Beziehungen und völlig im israelischen Alltagsleben verhaftet, ist sie dennoch politisch

Von Axel Timo Purr

Über Serien, in denen selbst­be­wusste, unge­wöhn­lich unab­hän­gige Frauen im Alltags­mit­tel­punkt stehen, konnte man sich in den letzten Jahren nicht beklagen. Ange­fangen von der dänischen, von Christian Torpe konzi­pierten Serie Rita (2012-2020) über eine Lehrerin und ihren Lebens­kampf bis zu Lisa Langseths Liebe und Anarchie (2020), die eine Beraterin in einem Stock­holmer Verlag und ihre Mühsal mit Sex, Kindern, Beruf und einem psychisch labilen Vater kongenial porträ­tierte, wurden wohltuend alte Rollen­mo­delle dekon­stru­iert und neue geschaffen.

Eine markante erzäh­le­ri­sche Leer­stelle blieben aller­dings jene Geschichten über Frauen, die sich jenseits der Mitt­vier­ziger mit ihren Menopause-bedingten hormo­nellen Kreuz­feuern auf die Suche nach neuen Lebens­mo­dellen, Konzepten und Bezie­hungen machen. Diese Lücke wird nun glück­li­cher­weise durch eine Miniserie geschlossen, die genauso glück­li­cher­weise auch noch aus Israel kommt. Denn seit israe­li­schen Serien-Export-Schlagern wie Homeland, FaudaOur Boys oder In Therapie kann man fast blind darauf vertrauen, dass das Neuland, das israe­li­sche Serien immer wieder konse­quent betreten, äußerst innovativ unter den Pflug kommt.

So ist es auch mit Hamishim – Fünfzig.

Die Miniserie mit ihren im knappen Sitcom-Format gehal­tenen acht Episoden folgt der 49-jährigen Dreh­buch­au­torin Alona (Ilanit Ben-Yaakov) zu den „Baustellen“ ihres Lebens: vom Pitchen ihres neuen Drehbuchs bei einem Produ­zenten über Besuche bei einer Freundin, Eltern­abenden, der Steuer und im Altenheim, wo ihr an Demenz leidender Vater unter­ge­bracht ist, bis zu skurrilen Tinder- und Normalo-Dates und natürlich dem Alltag mit ihrer an kleinen Ticks leidenden 11-jährigen Tochter Shira, ihrem schnell aufbrau­senden ADHS-diagnos­ti­zierten 17-jährigen Sohn Yali und ihrer ältesten Tochter Carmel, die mit ihren 20 Jahren den Unfalltod des Vaters vor sieben Jahren psychisch am besten wegge­steckt zu haben scheint.
Diese Melange aus Alltags­fallen reicht natürlich bei weitem noch nicht aus, um eine gute Serie zu etablieren, aber die Dreh­buch­au­torin und Schrift­stel­lerin Yael Hedaya, die bereits an dem israe­li­schen „Rohling“ von In Therapie mitge­ar­beitet hat, wirft mit der ebenfalls in Therapie-erfah­renen Autorin, Produ­zentin und Regis­seurin Daphna Levin nicht nur eigene Lebens­er­fah­rungen in ihr erzäh­le­ri­sches Konzept, sondern schafft über so bitter­böse wie groteske und vor allem messer­scharfe Dialoge sowohl eine aufre­gende Bestands­auf­nahme einer 49-jährigen Frau als auch eine gnaden­lose Vivi­sek­tion der israe­li­schen Gesell­schaft.

Ähnlich wie in dem gerade ange­lau­fenen paläs­ti­nen­si­schen Film Gaza mon amour, in dem der Konflikt mit Israel einmal (fast) dankbar ausge­spart wird und statt­dessen einer aufrich­tigen Intro­spek­tion der eigenen Befind­lich­keit Raum gegeben wird, so erzählt auch Hedaya vorder­gründig über einen Alltag, der den größten Konflikt Israels viel­leicht ausspart, aber unter­gründig eine Gesell­schaft zeigt, die mit ihrer Vergan­gen­heit genauso am Hadern ist wie mit der Gegenwart. Ein Ringen, das Hedaya über einen schwarzen Humor illus­triert, der deutsche Zuschauer über­ra­schen dürfte. Etwa als Alona von einem Produ­zenten erklärt bekommt, wie Tinder funk­tio­niert:
- Man wischt drüber?
- Ja, wer dir gefällt, nach rechts. Und nach links die...
- Wie beim Holocaust.
- Ganz genau.
Oder als Alona fest­stellen muss, dass eine Freundin aus der Schul­klasse ihrer jüngsten Tochter nicht weiß, wer Hitler ist, da ihre Eltern ihr eine mögli­cher­weise trau­ma­ti­sie­rende Geschichts­stunde ersparen wollten, es gleich­zeitig aber weiterhin die jähr­li­chen, für viele Schüler nur schwer finan­zier­baren „Opfer-Touren“ nach Auschwitz geben soll, gegen die Alona dann auch dementspre­chend heftig opponiert.

Doch neben diesen kultur­spe­zi­fi­schen Alltags­dis­so­nanzen zeigt Hamishim – Fünfzig vor allem univer­selle Bezie­hungs­pro­bleme einer Frau und Mutter, die so wenig an Woody Allen erinnert wie Danielle in Emma Seligmans Shiva Baby. Und doch in ihrer Sehnsucht nach Wahrheit, erfülltem Sex (oder vielmehr: überhaupt Sex) und kreuz­feu­er­ar­tigen Dialogen dann doch ganz (und überhaupt nicht) Woody Allen ist. Weniger aller­dings durch das, was sie sagt als vor allem durch die bei Allen ebenfalls immer wieder durch­drin­gende Refle­xi­vität des Autors, des Filme­ma­chers. Denn über immer wieder neue Gespräche mit Produ­zenten – die von jedem Dreh­buch­autor so ersehnten wie gefürch­teten Pitchings – bringt die Dreh­buch­au­torin Yael Hedaya in ihrer Serie auch ihr eigenes Ringen um diese Serie mit ins Spiel, die Ignoranz, Zweifel und Doppel­moral (gerade) auch bei gleich­alt­rigen Frauen und Männern sowieso, die sich beim besten Willen nicht vorstellen können, das irgend­je­mand einer Frau in diesem Altern bei ihrem Leben zusehen will.

Dass sie es mit dieser Serie widerlegt, wider­legen darf, ist so über­ra­schend wie dann auch selbst­ver­ständ­lich, denn spätes­tens nach der letzten Folge will man eigent­lich gar nicht mehr aufhören, die Alona verkör­pernde Ilanit Ben-Yaakov bei ihrem wilden Ritt durch den Herbst des Lebens zuzusehen, ein Herbst, der eigent­lich ein Frühling ist.