Die Leere und die Sehnsucht |
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Hat den Inaugural Kids Award von Locarno gewonnen: Belle von Mamoru Hosoda | ||
(Zeichnung: 74. Locarno Filmfestival) |
Manchmal denkt man, das Filmfestival von Locarno sei wie ein Training für den kommenden Winter. Denn während in Venedig und in San Sebastian noch mal richtig Sommer herrschen, gibt es in Locarno Tage wie den Festivalsamstag. Tagsüber waren es noch dunkle Wolken, abends hatten sie sich dann derart in den Bergen festgekrallt, dass es eigentlich die ganze Zeit goss; nicht wie aus Eimern, sondern wie aus Feuerwehrschläuchen. Fünf Stunden lang hörte es nie auf. An einen Kinobesuch war nicht zu denken. Denn natürlich regnet es im Kino nicht. Aber auf dem Weg dahin schon. So saßen dann Sebastian aus Graz und ich im Restaurant des Hotels Dell Angelo, das sowieso für mich hier ein regelmäßiger Anlaufpunkt ist. Das war sowieso schöner als im Zweifelsfall die Filme.
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Saskia Rosenthal ist es immer wert, dass man sich einen Film von ihr ansieht. Hier jetzt habe ich trotzdem ein paar Sekunden gebraucht, um sie zu erkennen, sie spielt hier das Gegenteil ihrer letzten Rollen in Fabian und Mein Ende. Dein Anfang. Das Gegenteil von allem Glamour, auch erstmal von allem Geheimnis.
Aber dann hat sie natürlich trotzdem ein Geheimnis, ziemlich schnell. Und allein, wie sie diesem Landgirl eines gibt, das ist aller Ehren wert. Und es ist eine Leistung der Regie wie der Schauspielerin.
Niemand ist bei den Kälbern von Sabrina Sarabi ist ein wirkliches Highlight in Locarno und aus unerfindlichen Gründen nur im zweiten, kleineren Wettbewerb, ist der eine deutsche Film in
Locarno, produziert von den »Weidemann Brothers«.
Sie heißt Christin, weiß nicht, wo ihre Mutter ist. Das wird so am Rande gesagt. Später sagt der Alkoholiker-Vater mal: »deine Mutter war ne Schlampe.« Sie fährt nach Hamburg, es ist aber nicht so klar, wo sie in Hamburg hin will. Aber sie weiß dann trotzdem, wo sie hin muss, um jemanden zu finden, der sie wieder nach Hause bringt.
Das Thema ist unter anderem Landdepression. Man könnte sagen: Dies ist ein deutscher Western mit fast richtig großen Landschaftsbildern, Bildern mit einer Weite, die einen sogar an Amerika denken lassen. An das Amerika von Andrea Arnold.
Eine Welt irgendwo zwischen Hamburg, Hannover und Berlin. Im Kühlschrank gibt es viel Wurst und auch viel Zitronenlimo. Fast alle sind Bauern. Überall ist Aggression, überall gibt es auch eine Flasche Schnaps, die einen über das Schlimmste hinwegtrösten kann. So sonderbare Getränke wie Alkohol mit süßen Kirschen, Alkohol mit noch süßerer Zitrone oder Limezeugs.
Das Outfit ist für viele Figuren alles, was sie haben. Auch Christin achtet immer aufs Outfit, zieht sich in diesem Film fortwährend um. Diese Land-Girls definieren sich vielleicht nicht gerade über Äußerlichkeiten, aber sie nehmen diese Äußerlichkeiten sehr wichtig, es ist geradezu eine Frage des Repräsentierens. Auf dem Land ist es noch wichtig, anständig auszusehen. Ansonsten beschäftigt sie wenig. Vor allem diffuse Sehnsucht.
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Später gibt es im Film ein Gespräch mit dem Mechaniker der Windräder, die hier alle Felder zupflastern, und der, wir alle ahnen das schon, ihr Liebhaber werden wird. »Wovon träumst denn du?«, fragt er sie.
Ein toller Ausdruck ist es, der jetzt in Saskia Rosendahls Gesicht erscheint. Das ist ein Moment, wo man ziemlich viel von ihrer Schauspielkunst sieht, wobei ich gar nicht so sicher bin, ob sie jetzt viel macht und bewusst, und man auch gar nicht genau weiß, was sie da macht. Ich
weiß nur: Sie macht alles richtig. In diesem Ausdruck ist die Hilflosigkeit dieser Figur, die eigentlich nicht weiß, was sie will. Die nur weiß, dass sie weg will und dass sie das nicht will, was sie hat, und die weiß, dass sie jetzt, wenn nicht heute dann morgen, möglichst bald diesen Mann will, obwohl sie ahnt, dass ihr das auch nicht gut tut.
»Wovon träumst denn du?«, fragt er jedenfalls. Sie antwortet »eigener Laden oder so«. Und erst dann sagt sie »ist doch nicht wichtig«. Und er sagt: »ist schon wichtig«, und da hat er auch recht.
Solange sie noch mit ihm flirtet, ist es tatsächlich ein Versprechen auf ein anderes Leben. Wenn sie dann mit ihm eine Affäre hat, ist es einfach dumm und schlicht.
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Die Frauen gehen, die Bauern bleiben. Rosendahl gibt Christin Würde und Charme. Nur das Ende des Films ist etwas lang und uneben, das liegt womöglich daran, dass sie im Schnitt einfach manche Wendung kürzen mussten. Jedenfalls steht am Ende ein Aufbruch nach Nirgendwo. Besser als kein Aufbruch.
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Ein wunderschöner Popstar mit pinkem Haar steht auf dem Rücken eines Buckelwals und fliegt mit ihm durch die Realität des Cyberspace. Ihr Name ist Belle und sie beginnt, einen Song zu singen, der von riesigen Lautsprechern auf dem Rücken des Wals überall in diese künstliche Welt hinaus getragen wird. Die Fans, die sie anbeten, die um sie herumfließen wie Putzerfische, reagieren mit großer Begeisterung und teilen ihren Enthusiasmus durch Kaskaden von Textmessages und
Emojis.
Dies ist die Welt von U, das man auch »you« also als das englische »Du« oder »Ihr« aussprechen kann und schreiben. U ist ein Social-Network mit fünf Milliarden Usern. In ihm kann jeder als sein Avatar wiedergeboren werden und seine inneren Fähigkeiten maximalisieren. So macht es auch Belle.
Im wirklichen Leben heißt sie Suzu. Suzu ist ein 17-jähriges Schulmädchen, das seine Mutter in einem tragischen Unfall verloren hat und dessen Leben seitdem durch Trauer geprägt ist. In der Schule ist Suzu schüchtern und zurückhaltend. Zu Hause ist sie emotional distanziert von ihrem Vater. Beide können nicht über die Trauer sprechen. Ihre einzige Freundin ist ein Nerd... Aber in U kann sie ihre Träume ausleben: sie kann dort sogar populärer sein als das hübscheste Mädchen an ihrer Schule, und sie kann die Aufmerksamkeit eines von ihr angeschwemmten Klassenkameraden gewinnen.
Der Film springt hin und her zwischen der landschaftlichen Schönheit der Kochi-Präfektur in der Suzu lebt und der hyperdigitalen Realität von U.
Puzzola erzählt im Kern eine Coming-of-Age-Story, das Erwachsenwerden, das Frauwerden, das Selbstwerden der Hauptfigur. Er erzählt dies über die sozialen Medien, aber sein Blick auf diese sozialen Medien ist bemerkenswert frei von aller Verachtung eines Kulturpessimisten. Irgendwann taucht eine mysteriöse Figur auf, die von allen »Drachen« genannt wird. Dragon.
Wir hatten uns im Netz verfangen. Zwischen einander überlappenden Lockdowns und dem sogenannten Smartworking, dem »schlauen Arbeiten«, haben wir 18 Monate lang mit dem Rest der Welt fast nur über unsere Computerbildschirme kommuniziert. In seinem neuen Film Belle erzählt Mamoru Hosoda die Geschichte eines heranwachsenden Mädchens, das im Netz eine andere Person wird. In der Welt, die der
japanische Meisterregisseur hier baut, verschwinden die Grenzen zwischen Realität und dem Netz bzw. zwischen der Realität und der zweiten Realität, die sich im Netz bildet. In »Belle«, einem Animationsfilm, der auf der Piazza Grande lief, verbindet sich Alltagsrealismus und eine genaue Momentaufnahme unseres Gegenwartslebens mit der berührenden Poesie des Fantasygenres. Belle ist der
Film, dem es am treffendsten gelingt, die Beziehung darzustellen und zu reflektieren, die wir heute mit unseren technologischen Körpererweiterungen, etwa mit dem Smartphone, haben.
In diesem Film kann man über die Wahrheit der zeitgenössischen Bilder nachdenken. Wie Kinder müssen auch wir weiterhin lernen, zwischen der Wahrheit und dem Irrtum zu unterscheiden.