Heimspiele, Regie-Berserker und Spektakel |
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Beckett ist ein Film aus dem Hause Netflix, eröffnete das Festival und kann schon nächste Woche in den Wohnzimmern gesehen werden | ||
(Foto: Netflix) |
Mit Beckett wurde am Mittwochabend eröffnet. Hinter diesem Filmtitel verbirgt sich allerdings weder der Autor von »Warten auf Godot« noch jener englische Erzbischof, der im 12. Jahrhundert zum Märtyrer (und zum Helden moderner Kunstwerke) wurde – sondern ein veritabler, in der Gegenwart spielender Paranoia-Thriller um einen Mann, dem nach einem Unfall seine Vergangenheit abhandenkommt. Er erinnert sich – aber an Dinge, die nicht existieren.
Mit von der Partie ist John David Washington, der 2021 mit Tenet, auch so einem Vexierspiel-Thriller, zum Star im kurzen Sommer der Pandemie wurde. Und Alicia Vikander. Die Schwedin, die vor elf Jahren beim Filmfestival Mannheim-Heidelberg entdeckt wurde und inzwischen in Hollywood Hauptrollen spielt.
Dies ist ein ungewöhnlicher Eröffnungsfilm, der aber die Richtung vorgibt, in die es mit Locarno in Zukunft gehen soll: Unterhaltung, Spektakelkino, eine Mischung aus großen Namen und Unbekanntem.
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Es ist ein ganz anderes Festival, auf das sich Zuschauer und professionelle Gäste in diesem Jahr einstellen können. 2021 ist für Locarno ein Jahr des Übergangs und der Konsolidierung. Wenn alles so wird wie immer, darf man schon froh sein am Lago Maggiore.
Nachdem die spröde Französin Lili Hinstin als Nachfolgerin des zur Berlinale gewechselten Italieners Carlo Chatrian 2019 mit einem überintellektualisierten und in mancher Hinsicht zuschauerabweisenden Programm schon in ihrem ersten Jahr kläglich scheiterte und im folgenden Sommer wieder das Handtuch warf, beriefen die Tessiner Strippenzieher den Italoschweizer Giona A. Nazzaro, der zuletzt die Neben-Sektion Settimana beim Filmfestival von Venedig geleitet hatte. Nazzaro, auch Filmkritiker, ist bekannt dafür, dass er sich für alle Spielarten des Kinos interessiert, für Kunst und Experimentelles, aber ebenso auch für Genre und für Filme, die auf den großen amerikanischen Streaming-Portalen laufen.
Man kann darum sagen: Locarno kehrt zu seinen Ursprüngen zurück. Denn in seinen ersten 20 Jahren war Locarno, das kleinste unter den großen Festivals Europas, die Entdeckungs-Plattform für den Filmnachwuchs. Hier zeigte man erste Arbeiten, auch Unfertiges; hier wurden die Regie-Stars von Morgen und Übermorgen entdeckt: Der Italiener Marco Bellocchio, der Franzose Claude Chabrol, der ungarische Solitär Bela Tarr, der spätere New Hollywoodheld John Frankenheimer, aber auch Jim Jarmusch, Stanley Kubrick, Milos Forman, Raul Ruiz und viele andere. Sie alle erlebten hier mit einem Goldenen Leoparden oder anderen wichtigen Preisen ihren Durchbruch.
Über Jahrzehnte war kaum ein Preisträger in Locarno mal älter als 40 Jahre. Erst in den letzten 15 Jahren änderte sich das, mit dem europäischen Autorenkino alterte auch das Festival und wurde zunehmend das, was das Städtchen Locarno schon immer gewesen war: Ein Kurort für die Senioren unter den Filmemachern. Wer vielleicht zu alt, jedenfalls zu altbacken war für die großen vier, fünf bedeutenderen Filmfestivals, der bekam im Tessin sein Austragsstüberl.
Garniert vom immer
noch teilnehmenden Filmnachwuchs wurden Altmeister geehrt; deren Preisträgerfilme aber blieben größtenteils unter dem Radar selbst der Filmöffentlichkeit.
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Wie lässt sich das ändern? Dass es geändert werden muss, und dass sie es ändern wollen, daran ließen der neue Leiter und seine Mitarbeiter in ersten Gesprächen vor dem Festival keine Zweifel.
Ein erster Schritt: Fast nur unbekannte Namen, oft, aber nicht immer junge Filmemacher finden sich in den zwei Wettbewerben, nur auf das New Yorker Enfant Terrrible Abel Ferrara, selbst unter den Independents ein alter Wilder, wollte man nicht verzichten.
Vieles im Programm macht zumindest von der Papierform her Lust: Der Deutsche Franz Rogowski spielt eine Hauptrolle im österreichischen Spielfilm Luzifer, einem Drama um eine Teufelsaustreibung. Luna Wedler spielt in der Schweizer Großstadtballade Soul of a Beast.
Viel verspreche ich mir von Paradis Sale, dem neuen Film des Franzosen Bertrand Mandico (Les garçons sauvages), vom spanischen Beitrag Seis dies corrents, von den beiden russischen Wettbewerbsfilmen (weil aus Russland gerade spannendes junges Kino kommt) und vom mexikanischen Film Mostro im zweiten Wettbewerb aus dem
gleichen Grund.
Dieser zweite Wettbewerb »Concorso Cineasti del presente« ist am ehesten die Problemzone dieses Festivals. Weil ja schon der Leopardenwettbewerb eine junge Sektion ist, wird man sich, falls die Filme dort genauso gut oder besser sind, fragen, warum sie nicht im großen Wettbewerb laufen? Und sonst: Warum sie überhaupt in Locarno laufen?
Aber um das genau zu beurteilen, muss man dieses Jahr abwarten.
Auf der Piazza dagegen gibt es eindeutig anspruchsvolle Crowdpleaser, Spaß und Bombast aus Hollywood, die bis weit nach Mitternacht wachhalten: Camerons The Terminator und Michael Manns Polizeithriller Heat sind für diese Riesenleinwand und 8000 Zuschauer gemacht, ergänzt werden sie durch eine Katastrophenfilm-Komödie aus Korea, durch Monte Verità, ein Schweizer Drama über die Lebensreformer um die Jahrhundertwende, die direkt nebenan von Locarno ihre Fin-de-Siècle-Kommunen hatten. Dazu Vortex vom französischen Berserker Gaspar Noë, der schon in Cannes lief. Und Stefan Ruzowitzkys Serienmörder-Historienstück Hinterland.
Ein runde Mischung. Und Hoffnung auf einen Neustart des Kinos in Zeiten seines drohenden Verschwindens.