Giftige Schönheit, mächtige Ohnmacht |
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Vengeance is Mine, All Others Pay Cash: der diesjährige Gewinner des Goldenen Leoparden ist Arthouse-Genre | ||
(Foto: 74. Locarno Filmfestival / Edwin) |
»Cinema ist back« – das Kino ist zurück. Triumphierend und trotzig zugleich klingt dieser Satz, der einen elf Tage lang vor jeder Vorstellung in Locarno begrüßte; tiefschwarz auf knallgelb geschrieben in den Labelfarben des Festivals.
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Nicht zum Trotz, sehr wohl aber zum Triumph Anlass hat die neue Leitung des Schweizer A-Filmfestivals, des kleinsten unter den großen fünf Filmfestivals in Europa. Denn auch Locarno ist zurück, zurück als relevante Bühne für den Kinonachwuchs in allen Facetten des Mediums. Also Kunst wie Unterhaltung. Zuletzt, mindestens in den letzten 3 bis 4 Jahren, man könnte auch argumentieren in den vergangenen eineinhalb Dekaden, war es zunehmend nur das eine ohne das andere gewesen.
Locarno war irrelevant geworden: sowohl als ernstafter Wettbewerber gegenüber den größeren Konkurrenten als auch der Entdeckungen, denn entdecken konnte man zwar schon etwas am Lago Maggiore, doch war dies allein dem Zufall geschuldet, mit dem man Vorstellungen am Rande des Wettbewerbs in den Nebensektionen besuchte.
Einzelne Highlights wie der argentinische 8-Stunden Film La Flor
vor drei Jahren konnten nicht über die grundsätzliche Schwäche und Richtungslosigkeit dieses Festivals hinwegtäuschen. Man nahm halt, was man kriegen konnte, und man steckte es in Sektionen und auf Programmplätze, wo eben gerade noch Platz war. Mindestens die Hälfte der Wettbewerbsplätze war den Filmemachern vorbehalten, die zu den üblichen Verdächtigen aus der Schnittmenge zwischen einem sehr engen Segment des internationalen Arthouse-Zirkels und dem Freundeskreis, vor
allem des nordamerikanischen Chef-Programmers bestand. Wie wenig Sinn man für die Diversität des Mediums und der verschiedenen Publikumsgeschmäcker hatte, zeigte sich vor allem an der oft fatalen Programmierung des Programms auf der Piazza Grande, auf die man mindestens 3000 Leute locken muss, um Atmosphäre zu erzeugen. Stattdessen gab es oft gähnende Leere.
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Das alles scheint sich nun zu ändern. Und zum ersten Mal seit dem Amtsantritt des Franzosen Olivier Père im Jahr 2009 ist so etwas wie die Handschrift eines Direktors schon im ersten Jahr unübersehbar zu erkennen.
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Dafür, ebenso auch für gewisse weiterhin noch bestehende Kompromisse, steht beispielhaft der Hauptpreisträger zum Abschluss: Den Goldenen Leoparden gewann in diesem Jahr der indonesische Filmemacher Edwin für den Film Vengeance is Mine, All Others Pay Cash. Der Film selbst verkörpert genau die Verschmelzung von Genrekino und individuellem Autorenzugang, von Ernst und Spaß, Lumière- und Meliès-Kino.
Die Schönheit von Todesverachtung und Mut, von Motorradfahrten und Martial Arts, von Faustkämpfen und überhaupt Gewalt im Kino geht hier listig zusammen mit Kritik an Machotum und Männlichkeitsritualen, die man in manchen Kreisen zur Zeit gern »toxisch« nennt.
Auch Frauen prügeln sich hier übrigens als Bodyguard, und überhaupt ist vieles hier anders, als es oberflächlich zu sein scheint: Die Hauptfigur ist nämlich sexuell impotent, was seine frische Beziehung zu einer
Kollegin/ Konkurrentin belastet, und zugleich speziell macht. Vor diesem Hintergrund muss man dem Kollegen Neil Young danken, der auf »Screendaily« darauf aufmerksam gemacht hat, dass die internationale Übersetzung des Originaltitels zwar cool klingt, aber allzu frei flottiert. Tatsächlich bedeutet sie wörtlich eher: »Wie Rache muss auch Begehren komplett bezahlt werden.«
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Der Film ist eines der besten Beispiele im diesjährigen Programm für die erklärte Absicht des neuen Direktors Giona A. Nazzaro, Locarno in Zukunft stärker in Richtung von mehr genrebezogenen Arbeiten aufzustellen, ohne dass dies auf Kosten künstlerischer Relevanz gehen soll.
Immerhin eine halbe Entdeckung ist Regisseur Edwin. Nach kurzem internationalen Hype – ein Fipresci-Preis in Rotterdam für sein Debüt, eine schnell vergessene Teilnahme im Berlinale-Wettbewerb von 2012 mit seinem Die Nacht der Giraffe – ist er bis heute Experten durchaus bekannt und kein Newcomer mehr. Eher steht er mit Jahrgang 1978 genau in der Mitte zwischen den über 40-jährigen Preisträgern, die in der letzten Dekade plötzlich beste Chancen auf Wettbewerbsteilnahme und Hauptpreise hatten, und jenen deutlich unter 40-Jährigen, den echten Entdeckungen, für die Locarno einst unverwechselbar und im Gegensatz zu allen anderen vergleichbaren A-Filmfestivals stand.
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Der Versuch, zwei verschiedene Ausrichtungen möglichst eng zusammenzuführen, zeigt sich auch an anderen Preisen: Dem für A New Old Play (Jiao Ma Tang Hui) aus China, dem für den russischen Gerda, für die beiden spanischen Komödien The Odd-Job Men und Espíritu Sagrado.Mit dem Regiepreis für Indie-Veteran Abel Ferrara (Zeros and Ones) zeichnete man den Versuch aus, Pandemie-Paranoia, Lockdown-Unsicherheit und Zukunftspessimismus auf die Leinwand zu bringen.
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Über alles Weitere, verdiente und weniger verdiente Preise, die Retrospektive und den einen oder anderen übersehenen Film werden wir an dieser Stelle in der kommenden Woche noch berichten. Nur eines noch: Am allermeisten gefreut hat mich persönlich der Preis für Saskia Rosendahl, die im zweiten Wettbewerb „Cineasti del Presente“ als „Beste Schauspielerin“ (in Niemand ist bei den Kälbern) ausgezeichnet wurde. Das ist ein überfälliger Preis für diese tolle Schauspielerin, und auch konkret für diesen in aller Zurückgenommenheit phänomenalen Auftritt verdient.