Jenseits des Horrors |
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Michael Sarnoskis Pig zeigt den Schweinestall auch dort, wo ausnahmsweise kein Horror ist | ||
(Foto: Fantasy Filmfesst) |
Von Thomas Willmann
Früher war’s recht einfach: »...aber eigentlich Horror.« Das taugte als vorauseilender Zusatz, oder erklärende Antwort, wenn man mit dem Fantasy Filmfest nicht vertrauten, vom Festivalnamen latent irregeführten Menschen knapp beschreiben wollte, was man dort denn so guckt. Das hat freilich noch nie das Gesamtangebot abgedeckt – einst aber doch allemal das Hauptgeschäft. Mittlerweile verspricht das FFF selbst »thriller horror sci-fi & more« – und fasst damit doch nur sehr unzulänglich, was zumindest die Gestalt seiner Inkarnation 2021 war.
Es wäre übertrieben, dem Fantasy Filmfest zu seinem 35. Jahr eine Midlife Crisis zu attestieren – aber doch nicht zuviel gesagt, dass es sich, mitsamt der übrigen Kino- und Filmbranche, in einer ausgeprägteren Identitätsfindungsphase bewegt. Offensichtlichster Beweis ist das neue Antlitz, welches das Festival nun an die Öffentlichkeit wendet (auf gut Deutsch: Rebranding). Das Phantastische ist da höchstenfalls noch Design-Element, jeder Ruch von Monstrosität und Schröck verbannt. Nicht der Inhalt steht im Zentrum des Auftritts, sondern der Rahmen, der Raum: Es geht um die Leinwand als Membran zu einem Meer des Staunens – geworben wird mit der Immersionskraft des Kinos. (Für alle, die angesichts des neuen Logos auch über den Bezug des dicken Aquädukts zum FFF gerätselt haben, hier die Lösung: Es soll einen Blick Richtung Leinwand mit Kinosesselrücken vor einem darstellen!)
Dass man den Werbe-Fokus auf die Spielstätte verlagert statt die Filme, ist ein nicht allzu insgeheimes Eingeständnis, dass auch das FFF sich weniger von anderen Festivals abgrenzen muss als von der Konkurrenz durch die häusliche Filmbespaßung.
Das Fantasy Filmfest wurzelt ironischerweise just im Heimvideo-Boom der 1980er: Einer Ära, in der das Horror- und harte Actionkino sehr vital war, und man hierzulande in Fankreisen dank (Import-)Zeitschriften auch leidlich gut informiert über viel international Aufsehenerregendes. Zugleich das neue Medium aber, wie üblich, besorgnistragende Eltern und Behörden auf den Plan rief, weil man – wie unlängst beim Internet und einst bei Goethes »Werther« – das völlige Verderbnis der Jugend dräuen sah. All die Filme, über die man gelesen hatte und von denen man das ein oder andere arg phantasieanregende Standbild kannte, dann auch wirklich in Augenschein zu nehmen, war oft keine leichte Übung. Selbst wenn sie einen Kinoverleih bekamen, liefen sie dann meist nur geschnitten und synchronisiert. Und auf VHS wurde gern weiter zensiert, wenn nicht gleich indiziert oder gar beschlagnahmt. Von den qualitativen Beschränkungen des Formats und damals üblichen Zumutungen wie Vollbild- und Pan & Scan-Fassungen ganz abgesehen. Import war theoretisch möglich – aber angesichts der horrenden Preise für Kaufvideos, der internationalen Videoformat-Unterschiede und der Wachsamkeit des deutschen Zolls nur etwas für extreme Enthusiasten. Es konnte mitunter Jahre dauern, bis man einen Titel endlich in einer »brauchbaren« Version auf Kassette in Händen hielt – was nicht selten hieß: Eine verrauschte, farbverzeichnete (psssst!) Kopie dritter Generation.
Da war das Fantasy Filmfest oft nicht allein die erste, sondern einzige Möglichkeit, diese Filme auf Leinwand, uncut und im O-Ton zu erblicken, bevor sie in die Mühlen deutscher Filmverwertung und -verwüstung gerieten.
All dies klingt für Leute unter 30 vermutlich schon, wie wenn Oppa vom Krieg erzählt. Die FSK ist heute nur mit Mühe noch selbst zu einem »Ab 18« zu bewegen, Indizierungen treffen weit überwiegend Filme, die tatsächlich nicht goutierbar sind. Die Blu-ray kostet nur selten merklich mehr als der Kinobesuch, von Streaming-Abos ganz zu schweigen. Wer’s wirklich drauf anlegt, braucht vom ersten Aufmerksamwerden auf einen Film bis zu dessen Sichtung am eigenen Bildschirm oft nur noch Minuten. Und das Heimkino muss dabei technisch nicht mehr Welten hinter der Leinwand-Projektion zurückstehen.
Bleiben dem Fantasy Filmfest exklusiv also vor allem diese Rollen: Kuratieren und Präsentieren. Und auch das ist beides nicht einfacher geworden.
Das Fantasy Filmfest war hierzulande immer für die Entdeckung neuer Talente gut – hier war Peter Jackson mit Bad Taste und Brain Dead längst legendär, bevor er in Blockbuster-Gefilde weiterzog; hier konnte man Donnie Darko mit seiner starken Ahnung eines fundamentalen Einschnitts noch kurz vor 9/11 sehen; Julia Ducournaus kunstvollen Körperhorror noch in Raw-Form bestaunen.
Aber die Kunde von solch Leuten und Werken verbreitet sich inzwischen freilich international auch unter Nicht-Spezialisten ungleich schneller; bedarf weniger realer Plattformen.
Nach wie vor versprechen sich hiesige Verleiher/Videolabels für ihre Filme durchs Fantasy Filmfest die entsprechende Mundpropaganda-Zündstufe. Doch der Fensterspalt wird schmaler – inzwischen ist freilich auch die FFF-Gemeinschaft bundesweit online vernetzt, und viele haben noch vor Abspannende ihre Sternchenwertung dem Rest der Menschheit mitgeteilt. Was Filmen hilft, die dem Fan-Publikum bereitwillig entgegenkommen – aber manch Werk, das von Reflektion und Nuancierung profitiert, unter einem Berg vorschneller, platter Däumchen-runter-Urteile ersticken kann, bevor es eine echte Chance bekam.
Der Online-Schwatz nagt auch an einem anderen Grundpfeiler jeden Festivals: Des Beisammenseins, des geselligen Austauschs. Vor allem für den harten Kern der Dauerkarten-Stammgäste ist Fantasy Filmfest immer auch eine Art Familientreffen – da geht’s so sehr drum, das Wiedersehen zu feiern wie die Filme. Aber auch dies Publikum ist mit dem Festival in die Jahre gekommen, ohne dass entsprechender Nachwuchs sichtbar würde. Auch hier haben nun mitunter reale Familie, Beruf, andere Interessen oder schiere Bequemlichkeit Vorrang.
Und auch der Stammpublikums-Geschmack hat sich – wie die Genres selbst – weiterentwickelt. Horrorkino verhandelt ja sehr stark auch das Verhältnis zu Sterblich- und Körperlichkeit. Und das ist mit Mitte 50 freilich ein anderes, als es die naive Splatter-Begeisterung als Teenager war.
Kommt zu alldem, dass just jener Ort Kino, den das FFF in seinem neuen Auftritt so betont, seinerseits ähnlich zu hadern hat. Als kommerzielles Festival vom Halb-Ausfall 2020 besonders getroffen – Sponsorengelder fließen freilich ergebnisgebundener als Fördermittel –, sah es sich diesen Herbst dann mit Spielstätten konfrontiert, die grade erst wieder den vollen Betrieb aufgenommen hatten, und die neben den angestauten Franchise-Blockbustern, zwischen Sandwürmern, Wodka-Martinis und Spandex-Halbgöttern keinen Platz für weniger industrialisiertes Genre- und Exploitationkino freimachen wollten oder konnten.
In München hatte das dann aber den keineswegs unangenehmen Effekt eines Umzugs vom langjährigen Stammkino Cinema in den Rio Filmpalast. Der (sound-)technisch nicht die gleiche Perfektion bietet, aber ebenso gute Leinwandgröße, mehr Beinfreiheit (bei vier, fünf Filmen am Tag ein nicht zu unterschätzender Faktor...), freiere Sicht auf Untertitel, und mit seinem blutroten, samtigen Interieur mehr das Gefühl einer heimeligen Film-Höhle, in der man sich von der Außenwelt abwendet, um die unheimlichen, flackernden Schatten an der Wand zu betrachten.
Auch in anderer Hinsicht hat das Pandemiejahr nicht nur Verschlechterungen bewirkt: Die allgemeine Gewöhnung ans Video-Ferngespräch hat offenbar geholfen, dass nun vor etlichen Filmen eine aufgezeichnete Grußbotschaft der Filmschaffenden zu sehen war. Eine kleine Geste nur – aber beim FFF, auf dem reale Gäste selten sind, ein merklicher Schritt Richtung Festivalgefühl.
Der einen manche Werke auch von Anfang an mit wohlwollenderem Blick betrachten ließ.
Wie sollte man Crabs! böse sein, nachdem Regisseur Pierce Berolzheimer vor seiner Regalwand voller nerdigem Filmfan-Krimskrams mit einer Monsterpuppe Lipsync machte zu einer extra auf Deutsch übersetzten kleinen Ansprache per Computerstimme? Ja, freilich war Crabs! dann auch der Film eines Spielkinds – einer dieser Versuche, die ganz ursprüngliche Begeisterung zu reproduzieren, mit der man einst seine ersten Monsterfilme sah, und plötzlich etwas fand in der Welt, das der eigenen, überhitzten Kinderphantasie gleichkam. Berolzheimers Film wäre noch nicht einmal der Übelste unter solchen No Budget-Versuchen – ist überwiegend naiv statt pubertär, hält halbwegs das Tempo und schafft die originelle Volte, vom klassischen ‘50er Creature Feature mit moderneren Splatter-Spritzern zum Kaiju-Spektakel zu mutieren. Aber damit die Sympathie nicht überstrapaziert wurde, war die Extradosis durch den Gruß-Auftritt vorab schon arg nötig – allein wegen der Nebenfigur »Radu« (Chase Padgett). Gegen den Borat eine hochnuancierte, feinsinnigste Charakterstudie wahrer Osteuropäer ist. Es mag ja diese ultrabekifften Abende geben, wo ein Spezl die schlechte Parodie eines grenzdebilen Typen mit seltsamem Akzent zum Besten gibt, alle vor Lachen unterm Tisch liegen, und jemand meint: »Boah, wenn ich je einen Film mache, dann bist du dabei!«. Bei Crabs! hat dann offensichtlich niemand von der Produktion »NEIN!« gesagt...
Nun, freilich gab es also auf dem Fantasy Filmfest nach wie vor jene Filme, die sich aufs Ur-Geschäft des Genrekinos besinnen: Repetition und Variation. Das ungebrochene Weitertragen der Flamme. Das Beten des bekannten Rituals – mit möglichst großer Inbrunst, oder mit neuer Auslegung, Ausschmückung.
Manchmal heißt das nicht mehr, als ein vorgegartes Gericht in der jeweiligen lokalen Küche aufzuwärmen: Hard Hit (Balsinjean, R: Changju Kim) ist bereits das zweite Remake von Dani de la Torres El Desconocido – vor Busan gab’s schon Station in Berlin (Christian Alvarts Steig. Nicht. Aus!), ohne dass sich am Plotroutenverlauf viel geändert hätte. Wobei diese SPEED-Variation mit einer Bombe unterm Autositz eines Finanzmanagers sich im südkoreanischen Kino sehr heimisch anfühlt, mit der typischen Übersetzung ökonomischer Spannungslinien in Genre-Konstellationen. Sie aber auch hier das Grundproblem einer verqueren Opfer-Täter-Konstruktion nicht lösen kann, weil ihre Suspense-Dramaturgie eine Identifizierung mit dem Herrscher übers Kapital fordert, die gewollte Sozialkritik aber eigentlich mit dem »Bösen«.
The Boy Behind The Door hingegen erhöhte in einem weitgehend handelsüblichen Backwoods-Entführungsthriller den emotionalen Einsatz, indem die zwei Opfer nicht die üblichen jungen Erwachsenen sind, sondern zwei Buben. Und ein vermeintlich arg selbstgefällig-ausgedehntes Shining-Zitat dient dem Film insgeheim zur ikonographischen Untermauerung einer cleveren Irreführung. Letztlich müssen David Charbonier & Justin Powell sich aber vorwerfen lassen, mit dem Schrecken sexuellen Kindesmissbrauchs nur zu rasseln, um ihre recht mechanische Spannungsmaschinerie auf höheren Touren laufen zu sehen.
Typischer fürs Fantasy Filmfest – wenn nicht ohnehin für die derzeit wirklich lebendigen Regionen des Genre-Kinos – ist inzwischen aber ein komplexerer Umgang mit dem Erbe statt, ganz klassisch, die variierende Wiederholung der tradierten Webmuster, oder die bewusste Kommodifizierung der Nostalgie, die unsere Mainstream-Popkultur so unselig heimsucht.
Da ist eine ganze Welle jüngerer Filmemachender, die durchaus erfüllt sind von einer Leidenschaft für den Genre-Kanon – die sich aber Motive, Topoi, Typen, Stimmungen, Ästhetiken herauspicken und wahrhaft aneignen, sie in neue Konstellationen bringen, ihnen aus anderen Blickwinkeln begegnen, sie emotional in anderes Licht stellen.
Ein Film wie Jacob Gentrys Broadcast Signal Intrusion begibt sich zurück in die ‘90er nicht für ein rippenknuffendes »Boah, wisst Ihr noch, VHS!«. Der damalige Stand des Mediums, mit Röhrenfernsehern, Antennensignal, Videorecordern und frühesten Online-Messageboards, wirkt geradezu spukhaft. Das analoge Rauschen ein Einfallstor für das Unheimliche. Der Film ist durchdrungen von einem geradezu paranoiden Gefühl der Ungreifbarkeit, der Vergänglichkeit – ist Hauntology mit fernen Geisterbild-Echos von Ringu oder Videodrome.
Debutant Alex Noyer dagegen versucht in Sound Of Violence (alias Conductor), die – freilich schon immer in ihrer Vielschichtigkeit unterschätzte – Gender-Dynamik klassischer Giallo- und Slasherfilme umzukrempeln, und deren barocken visuellen Exzessen ein expliziteres Audio-Gegenstück zu geben. Seine Heldin und Täterin zugleich ist die Experimentalmusikerin Alexis, die seit einem Kindheits-Trauma auf Klänge extremer körperlicher Gewalt mit einer Art Ohr-gasmus (sorry!) reagiert. Leider steigert der Film sich nie zum fetischhaft-obsessiven Fieber seiner Vorbilder, findet andererseits ebensowenig die Balance zwischen absurd-grotesken Mord-Nummern und Charakterstudie einer traumatisierten jungen Frau. Nicht zuletzt durch Besetzung der ursympathischen Jasmin Savoy Brown in der Hauptrolle wirkt das über weite Strecken, als wolle Sound Of Violence von der Ermächtigung eines einstigen Opfers erzählen – nur dass die junge Frau dabei halt selbst über die Leichen zumeist gänzlich unschuldiger (und oft ebenfalls weiblicher) Menschen geht. Das ist ein tiefer innerer Konflikt, zu dem der Film letztlich nur die Schultern zuckt.
Das blieb auch nicht das einzige Beispiel dafür, dass eingefahrene Genre-Muster schlecht bloß halbe Erneuerung vertragen. Eskil Vogts The Innocents (De Uskyldige) versetzt die alte Mär von übernatürlich begabten Kindern fern eines Village of the Damned in eine heutige, norwegische Hochhaussiedlung – und in die filmische Anmutung eines Sozialdramas. Das funktioniert lange ganz wunderbar – lässt einen Telekinese und Telepathie mit der Selbstverständlichkeit von Kindern akzeptieren, für die die Gesetze der Welt noch unbekannt und vage sind; ist erschreckend plausibel in der Art, wie die Kinder mit ebenso selbstverständlicher, naiver Grausamkeit ihre neuentdeckte Macht erproben; ist psychologisch stimmig und nuanciert in der kindlichen Mischung von Ohnmacht, Neugier, Eifersüchteleien, Ich-Bezogenheit. Bis etwa zur Hälfte hat all dies das Zeug zu einem wirklich großartigen Film. Doch wenn es an den Punkt kommt, wo die Grundkonstellation etabliert ist, und die Dramaturgie eine Weiterführung verlangt, vertraut Vogt nicht mehr der Wahrhaftigkeit, sondern klinkt die vorgefertigten Bausteine üblicher Genre-Plotbögen aneinander. Auch wenn das filmisch und darstellerisch eine ungewöhnliche Bodenhaftung im Alltäglichen behält, verliert es seine anfängliche Kraft und Besonderheit. Und führt dabei durch die »farbenblinde« Besetzung (ohne vorherige Bestimmung von Herkunft und Geschlecht der Rollen) unbedacht auch noch dazu, dass am Ende doch auch wieder genau die alten Muster greifen, wer die Bedrohten und die Bedroher sind, und wer lebend aus der Geschichte rauskommen darf.
Mehr als je zuvor aber waren ein entscheidender Stützpfeiler des FFF-Jahrgangs 2021 Filme, die sich einer Genre-Zuordnung entziehen. Filme, die frei jonglieren mit Elementen aus den konträrsten Gattungen und Stilen – bestenfalls noch der losen Tradition transgressiven Kinos zuzuordnen, und jeder für sich ein Unikat.
Bertrand Mandicos After Blue (Paradis Sale) hat immerhin noch benennbare Vor-Bilder, die sich bei ihm wie Tagesreste in einem okkulten Traum auflösen, aufheben: Er hat gewiss den ein oder anderen magischen Spruch bei Jodorowsky abgelugt, teilt erotische Fantasien mit Roger Vadim, Jean Rollin, und stalkert durch Territorium, auf dem auch Science Fiction und Fantasy in revolutionäreren Zeiten wurzelten. Der klarste Bezug aber bleibt innerhalb von Mandicos höchsteigenem Kosmos: After Blue ist wie ein weibliches ‘70er-Jahre Schwesterstück zu seiner stark stummfilminspirierten Jungsfantasie Les garçons sauvages. Mit dem teilt er freilich auch seine zu üppige Länge – doch selbst wie der Film sich irgendwann narrativ im immergleichen Kreis zu drehen scheint, passt hier zur traumgleichen Stimmung.
Wie aber bekommt man einen Film wie Jean-Christophe Meurisses Bloody Oranges (Oranges Sanguine) zu fassen? (Einer der diesmal ungewohnt zahlreichen FFF-Beiträge übrigens, der Premiere im offiziellen Programm von Cannes oder anderer renommierter Groß-Festivals feierte.) Der beginnt am ehesten wie einer von Kervern & Delépines munteren Sturmläufen gegen die Zumutungen des Spätkapitalismus, schrammt immer mal wieder gegen die Leitplanken französischer Mainstream-Satiren – und verabschiedet sich dann in blutige Tiefen, die manch Tortureporn-Streifen erblassen lässt. Das ist ein Panorama Frankreichs zwischen Rock'n'Roll-Tanzwettbewerben als letztem Rettungsversuch für die Altersversorgung, einem steuerhinterziehenden Finanzminister, der ersten Liebesnacht einer Teenagerin, und den Gewalttaten eines Serien-Vergewaltigers und -mörders. Das ist eine Eruption aufgestauten ökonomischen und politischen Drucks auf die Leinwand – die es einem aber nie leicht macht mit der eigenen Positionierung, die einem stets wieder den Stand wegkickt und einen dorthin weitertreibt, wo’s wirklich wehtut.
Solch ein Film wäre vermutlich zutiefst empört, wenn ihm alle applaudieren würden. Und man spürte durchaus, dass er beim Fantasy Filmfest viele Leute zu weit über die Grenzen der Komfortzone zwang. Aber es schien nicht – wie es vor ein paar Jahren noch denkbar gewesen wäre – grundsätzlich in Frage zu stehen, dass er seinen berechtigten Platz hatte im Programm.
Jenseits des subjektiven Eindrucks von der Publikumsreaktion gibt es zumindest einen »offiziellen« (und überregionalen) Gradmesser für die Akzeptanz der offeneren Festivalausrichtung: Den Fresh Blood Award, vom Publikum unter den Debut- und Zweitfilmen gekürt.
Als Signal ist da schon der diesjährige Sieger erfreulich: Beweist er doch, dass das Fantasy Filmfest noch immer ein Ort ist, wo sich eine clevere Idee, gewitzt ausgeführt, auch ganz ohne Budget, Effekte, Stars, Splatter und dergleichen durchzusetzen vermag. (Und so hoffentlich nun auch hierzulande einen Verleih zu finden.) Beyond The Infinite Two Minutes (Droste No Hate De Bokura) von Regisseur Junta Yamaguchi und Autor Makoto Ueda ist das Projekt der Kyotoer Theatergruppe Europe Kikaku, gedreht mit HD-Handykamera in einer einzigen Einstellung. Mit der vielleicht kürzesten Zeitreise der Filmgeschichte: Zwei Minuten nur ist der Vorsprung, den eine Webcam in einem kleinen Café hat gegenüber dem Bildschirm in der Wohnung des Wirts im ersten Stock. Doch was mit diesem Zeit- und Informationsvorlauf alles anzustellen ist, das reizt der Film mit maximal vergnüglicher Konsequenz aus – und zwirbelt es bald durch eine endlos rekursive Bild-im-Bild-im-Bild-Anordnung der beiden Kameras und Monitore zu einem hirnverknotenden Puzzle. Mise en abyme (alias Droste-Effekt) war selten so schwindel- und lachreizerregend zugleich. Auch wenn es den Wahnsinn und die Leidenschaft des Filmemachens nicht auf die explizite Weise feiert wie One Cut of the Dead (Kamera o tomeru na!), entspringt es doch eindeutig dem gleichen Geist, der gleichen Begeisterung.
Freilich ist mit solcher Gewitztheit ein Publikum immer leichter zu begeistern als mit abseitigeren Formen der Originalität. Noch hoffnungsvoller stimmt deshalb der dritte Fresh Blood Award-Platz für Michael Sarnoskis Pig.
Man kann sich eine Version dieses Films vorstellen, die ganz in Richtung Oscar-Drama geht: Die Geschichte eines einstigen Star-Kochs, der sich nach einem Trauma aus der Gesellschaft verabschiedet hat, zum Einsiedler wurde – und den nun die Entführung seines geliebten Trüffelschweins zurückzwingt in die Stadt, ins Leben, unter die Menschen. Ein Pacino, Depardieu, gar ein Hanks könnte das in dieser Version spielen, in der niemand ein wahres Leid geschieht und alles arg versöhnlich endet. Ebenso leicht ist die andere Variante zu denken: Die Geschichte eines einstigen Star-Kochs, der sich nach einem Trauma aus der Gesellschaft verabschiedet hat, zum Einsiedler wurde – und den nun die Entführung seines geliebten Trüffelschweins zurückzwingt nach Portland, wo er im John Wick-Stil mit Hackebeil, Waffeleisen und Käsereibe aufräumt unter den Pignappern.
Pig macht Finten in beide Richtungen – und dann doch etwas ganz Anderes, ungleich Seltsameres. Er spielt in einer Welt, in der es im Keller eines leerstehenden Hotels eine Art Fight Club für Küchenkräfte gibt, und keine Branche so taff ist wie die Gastro-Lebensmittelbeschaffung – und entsagt dann doch Gewalt und Surrealismus, zugunsten eines großen Werks über die Trauer.
So sehr ich generell Nicolas Cages schauspielerischen Sonderweg verehre, in seiner äußerst bewussten Abkehr vom gängigen »Realismus«, seiner Anknüpfung an artifiziellere Traditionen – ganz ernst konnte ich seine selbstgewählte Bezeichnung »noveau shamanistic« dafür dennoch nie nehmen. Bei Pig dämmerte mir erstmals, was er damit meinen könnte.
Es hat tatsächlich etwas Schamanistisches, wie Cage sich einer geologischen Formation gleich durch diesen Film bewegt, mit plattentektonischer Gravitas, und für uns Sedimentschicht um Sedimentschicht des Schmerzes auf sich nimmt.
Pig ist einer dieser Filme, die – wenn man sich drauf einlassen kann – einen als veränderten Menschen aus dem Kino an die Welt zurückgeben. Ein Film, der auf ganz sonderbare Weise emotional arbeitet in einem; der Last trägt und aufhebt. Und der allemal – wenn einem dies zu esoterisch schwurbelt – eine der seltenen Szenen bietet, in denen Cage der unverrückbare Ruhepol ist und sein Gegenüber der Chargeur: Als Cages verwahrloste Waldschrat-Figur in einem trendigen Sterne-Restaurant »dekonstruierte Jakobsmuscheln« kostet, den Koch kommen lässt, der sich als einstiger Lehrling aus seinen Chef-Zeiten entpuppt – und ihm die Leviten liest wider alles Möchtegern, alles Nachlaufen den Moden statt der inneren Leidenschaft, alle Anbiederung.
Das könnte auch als Leitgedanke taugen für eine tragfähige Zukunft des Fantasy Filmfests (das ich, da parallel dann ein anderes Filmwochenende lockte, diesmal nur zur Hälfte verfolgen konnte): Weiter verstärkt nicht auf die leichte Etikettierbarkeit zu setzen, sondern auf Werke, die aus leidenschaftlicher, innerer Notwendigkeit durch die Grenzgebiete, Niemandsländer streifen. Eine Heimat für Filme der schillernden Identität, die zwischen klaren Genre-Zuschreibungen, Marktsegmenten stehen.