Billiges Bauernopfer |
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An die Wand gestellt: Der russische Detours von Ekaterina Selenkina | ||
(Foto: Ekaterina Selenkina) |
Von Dunja Bialas
Zwischen der Dämonisierung und Heroisierung, das soll man nicht vergessen, liegt viel Raum. Viel Zwischenraum, den man mit Schattierungen füllen könnte, mit echten Menschen, nicht mit dem irregeleiteten Bösen (Putin) oder der Stil-Ikone mit dem Armee-T-Shirt (Selenskyj). Ich denke in diesen Tagen oft an Rita Sokolovskaya, zusammen mit Vladimir Nadein Begründerin des Internationalen Experimentalfilmfestivals in Moskau, das wir eigentlich im Herbst zum UNDERDOX Filmfestival mit einem Programm einladen wollten – und immer noch wollen. Aktuell schreiben sie auf ihrer Website: »We stop accepting applications«. Gerade erst hatten sie den Call for Entry lanciert. Gerade noch zeigte Vladimir Nadein auf der Woche der Kritik Berlin den von ihm produzierten Film Detours (Obkhodniye puti) von Ekaterina Selenkina, gerade noch guckte er von der Video-Leinwand des Hackeschen Höfe Kinos herunter und sprach über Film.
Gerade noch! Gerade noch war Sergei Loznitsa Mitglied der Europäischen Filmakademie, gerade noch auch der Ukrainischen Filmakademie. Loznitsa wohnt in Berlin. Ich hatte ihn zu einer Zeit, als er noch keine Langfilme machte, in einem Filmclub in Paris kennengelernt und war fasziniert von seinen Miniaturen, zum Beispiel Polustanok (2000) über Schlafende in einem Wartesaal. Seine Filme waren einer der Grundsteine des von mir und Bernd Brehmer 2006 gegründeten Festivals UNDERDOX, weil wir seine Filme bei uns im Kino zeigen wollten – für das Dokfest München, für das ich damals programmierte, waren sie zu unscharf im Umgang mit dem dokumentarischen Material. Loznitsa ist vor einigen Tagen aus der Europäischen Filmakademie ausgetreten, weil diese den Ukraine-Krieg nicht als solchen benannt und sich lediglich »schwer besorgt« über die russische Invasion gezeigt hatte. Jetzt wiederum hat die Ukrainische Filmakademie Loznitsa ausgeschlossen, weil dieser sich als »Kosmopolit« bezeichnet und sich nicht zur »nationalen Identität« bekennt. In welcher Zeit leben wir eigentlich?
Loznitsas Filme sind schwebend, lassen im Unklaren, wo andere Klarheit wollen. Maidan zum Beispiel habe ich mit einem großen Unbehagen gesehen, die national gestimmte Versammlung und die vielen Ukraine-Flaggen hatten mich ratlos gemacht: Ich wusste nicht, wie angemessen dieser Manifestation des Nationalen zu begegnen sei, zu undurchschaubar erschien mir die Gemengelage. Der Film selbst lässt einen absichtsvoll im Unklaren, er ist ein Meisterwerk der reinen Beobachtung. Ein pures Dokument könnte man meinen, ohne Positionierung, aber mit Faszination für das Dokumentierte, das ja. Das Schwebende verleiht Loznitsas Filmen auch subtile Subversion, indem die Aussage gegen den Strich gebürstet wird und also die Haare immer ein wenig zu Berge stehen. So verhält es sich in Blokada (2006), mit dem er ein suggestiv montiertes Werk geschaffen hat über die Blockade Leningrads im Hungerwinter 1941. In »eindeutig propagandistischer Absicht« habe er es eingesetzt, schimpfte mein damaliger Dokumentarfilm-Mentor und verwies darauf, dass das verwendete Material leicht zugänglich in den Archiven läge und schon von Thomas Kufus in Blockade (1991) verwendet worden war.
Statt Blockade jetzt Boykott: Zu Beginn des Ukraine-Kriegs wurden folgerichtig bei Sportwettkämpfen die russischen Mannschaften ausgeschlossen. Wir wissen von den sportlichen Kadern und den staatlichen Förderungen gerade in Osteuropa, als Atavismen des Kalten Krieges, und wir kennen auch die teilweise überraschend national gestimmten Fans von Sportveranstaltungen (man erinnere sich an Deutschland. Ein Sommermärchen). Fantum ist seitdem womöglich nur der kleine Bruder des Nationalismus. Und selbst wenn manch einer den internationalen Wettbewerb eines Filmfestivals mit der Fußball-WM verwechselt: Dass Cannes als erstes internationales Festival russische »Delegationen« ausschloss – es sei denn, sie haben sich als Dissidenten zu erkennen gegeben (und säßen jetzt also vielleicht im Gefängnis) –, war der Auftakt zu einer Reihe von Boykotten, die die Symbolik vor die Vernunft und das Denken stellten. So haben die Europäische und die Ukrainische Filmakademie russische Filme insgesamt auf die schwarze Liste gesetzt, und diese Woche hat auch das 27. Vilnius International Film Festival in Litauen (24. März bis 4. April 2022) den Boykott russischer Filme angekündigt. Die Begründung in der Pressemitteilung: »Any film involving Russia-based companies would indirectly raise money for the war in Ukraine through taxation. Total isolation will make more Russian people rise up against their government.«
Das klingt erst einmal plausibel, vielleicht aber auch ein wenig naiv. Was ist jetzt mit dem russischen Gas- und Geldhahn, Bundesregierung? Wann wird denn der mal zugedreht? Wenn man die Größenordnungen vergleicht, wird schnell sichtbar, wie sich die Pauschal-Boykotte russischen Filmschaffens in Symbolpolitik und Lippenbekenntnissen verlieren. Vilnius aber schreibt weiter: »Films inspire us to define the difference between good and evil.« Filme als moralisches Instrument der Unterscheidung von Gut und Böse? Gerade die Dialektik, die Dekonstruktion und das Schwebende, wie bei Loznitsa, machen doch die große Kunst aus, und das Uneindeutige und Denkanstößige.
GoEast in Wiesbaden (19.-25.April 2022), das große Festival für den osteuropäischen Film in der einst von den reichen Russen so beliebten westdeutschen Kur- und Casinostadt, denkt differenzierter. Es verurteilt den russischen Angriffskrieg, bekennt sich zur Meinungsfreiheit und formuliert als Festivalziel »die Annäherung zwischen den Kulturen innerhalb Mittel- und Osteuropas und natürlich auch zwischen Ost und West«. »Es ist schmerzhaft«, schreibt Festivalleiterin Heleen Gerritsen, »aber Nationalismus, militärische Aggression und Imperialismus sind ein Teil der Geschichte der Region, mit der auch das Festival sich immer wieder auseinandersetzen muss. Daher wird goEast auch weiterhin Filme von unabhängigen, regimekritischen Filmemacher:innen aus Russland zeigen.«
Eine Peinlichkeit ist der Multiplex-Kette »CineStar« diese Woche passiert. Sie gab bekannt, den finnischen Film Abteil Nr. 6 mit oder wegen eines russischen Hauptdarstellers zu boykottieren – so genau kann das keiner mehr sagen. Nach einem Proteststurm wurde der Boykott rückgängig gemacht und irgendetwas von »Versehen« genuschelt. Im Zuge der Absetzung von Bolshoi-Ballett-Übertragungen war man wohl etwas zu übereifrig, wurde kolportiert. Einen Versuch war’s wert? Keiner von »CineStar« hat den hintergründigen Film gesehen? Reflexartiges Nationaldenken und Idiosynkrasien sind das Gegenteil von Kultur.
»Leave no one behind«, hieß es zu Zeiten von Corona. Das könnte auch jetzt gelten, denn zumindest auf der Leinwand sollte der Krieg aufhören dürfen. Apropos Krieg. »Voina«, also russisch »Krieg«, ist der Name einer russischen Künstlergruppe, aus der auch »Pussy Riot« hervorging. Andrey Gryazev hatte 2012 über »Voina« den Film Zavtra (Tomorrow) gemacht. Sein jüngster Film Die Baugrube nach dem gleichnamigen satirischen Roman von Andrei Platonov ist eine Found-Footage-Kompilation von an Putin adressierten Youtube-Botschaften gegen die Zensur der Meinungsfreiheit. Der Film tourte 2020 über die namhaften Festivals – damals blickte man noch auf die kleinen Filmproduktionen, ohne dabei gleich anzunehmen, dass man damit das System Putin befördere. Oder was macht zum Beispiel jetzt Marina Razbezhkina, Filmproduzentin und Begründerin der Documentary Filmmaking and Theater School? Auch sie ist Mitglied der Europäischen Filmakademie und hat direkten Draht zum aufmüpfigen Nachwuchs. Vor zehn Jahren realisierte sie den Kolletivfilm Winter, Go Away! (Zima, uhodi!), in dem sie die Proteste im nicht nur metaphorischen russischen Winter der russischen Präsidentschaftswahlen dokumentierte. Zuletzt, 2021, hat sie den Dokumentarfilm The Case ihrer Absolventin Nina Guseva produziert (Premiere war im November 2021 auf dem IDFA), wieder geht es um Wahlen.
Nicht dass gleich wieder ein nationaldenkerisches Missverständnis entsteht: Begrüßenswert ist auf jeden Fall, dass nun das ukrainische Filmschaffen aus dem Schatten der großen russischen Filmnation tritt. Sowohl Vilnius (#StandWithUkraine) als auch Wiesbaden (#StandWithUkraine, coming soon…) zeigen zahlreiche aktuelle Werke, jetzt hat also auch einmal ein unterrepräsentiertes Land die Chance auf große Aufmerksamkeit. Aber bitte nicht im Nationalgeist kuratieren – sondern weil die Filme gut sind. Und warum eigentlich sollte sich kein Dialog entfachen, auf und jenseits der Leinwand, und das alte sozialistische Ideal der Völkerverständigung gepflegt werden? Auch wenn Aufrüstungsgegner, Anti-Militaristen und Pazifisten in diesen Tage von allen Seiten als hoffnungslos naiv belehrt werden… finde ich das trotzdem nicht die falscheste aller Haltungen und die schlechteste aller Ideen. Die prekären Filmschaffenden auszuschließen ist dagegen ein allzu billiges Bauernopfer.