23.06.2022

UNDERDOX halbzeit: Dore O.

Lawale
Lawale: Über das Einfrieren in der Familie
(Foto: Deutsche Kinemathek / Dore O.)

Eine Nachbetrachtung zur »Halbzeit« des Münchner Festivals UNDERDOX, die dieses Mal der Avantgardefilmemacherin Dore O. gewidmet war

Von Peter Kremski

Underdox, das Münchner »Festival für filmische Zwischen­formen«, macht abseits des regulären Festi­val­ge­sche­hens im Herbst möglichst immer auch ein Zwischen­an­gebot im Frühjahr, Halbzeit genannt. Dabei handelt es sich um Lectures, die sich in der Regel einem einzigen Filme­ma­cher widmen, dessen Arbeiten einer sehr persön­li­chen künst­le­risch-expe­ri­men­tellen Ästhetik verpflichtet sind. Unter den Artists in Focus, die im Laufe der Zeit auf diese Weise einer genaueren Betrach­tung unter­zogen wurden, finden sich illustre Künst­ler­namen wie etwa Klaus Wyborny, Romuald Karmakar, Peter Kubelka, Michael Snow, John Smith, Corinna Schnitt, Miranda Pennell oder Ute Aurand. 2019 hatte es mit Thomas Heise eine letzte Lecture gegeben, bevor das allseits geschätzte Festi­val­format nach einem zwei­jäh­rigen Ausfall dieses Jahr wieder aufge­nommen werden konnte.

In diesem Jahr haben die Underdox-Gründer Dunja Bialas und Bernd Brehmer die avant­gar­dis­ti­sche Künst­lerin Dore O. zum Artist in Focus erkoren. Das war bereits geplant vor ihrem uner­war­teten Tod. Am Donnerstag, dem 2. Juni, hat die Veran­stal­tung im Film­mu­seum München statt­ge­funden. Durch das Programm durfte ich gemeinsam mit der Film­wis­sen­schaft­lerin Masha Matzke führen, Restau­ra­torin von Dores Filmen bei der Deutschen Kine­ma­thek Berlin.

Der Fokus lag auf Dores frühen Arbeiten. Vier Filme waren ausge­wählt, darunter Jüm-Jüm, eine gemein­same Regie-Arbeit von Dore mit Werner Nekes, entstanden 1967, da war Dore 21 Jahre alt, für sie selbst war es die erste Regie. Selbst wenn die tech­ni­sche Mate­ri­al­be­ar­bei­tung sichtbar die Hand­schrift von Werner Nekes trägt, so machte Masha deutlich, wie stark der Film auch von Dore geprägt ist und dass thema­tisch wie formal vieles schon da ist, was Dore in ihren allein insze­nierten Filmen weiter­ent­wi­ckelt. So heißt es gerech­ter­weise in den Credits: ein Film von Dore O. und Werner Nekes, in dieser Reihen­folge.

Die Filme hatte ich alle 1988 gesehen im Rahmen einer denk­wür­digen Werkschau im Städ­ti­schen Museum in Mülheim/Ruhr, über 30 Jahre ist das her, und sie hatten mich nach­haltig beein­druckt. Alaska, Dores zweiten Film nach Jüm-Jüm und ein Jahr später gedreht, hatte ich erst vor gut drei­ein­halb Jahren wieder­ge­sehen, frisch restau­riert auf Dores Silves­ter­feier in ihrem Atelier am Mülheimer Kassen­berg. Jetzt, nach ihrem Tod, ihre Filme wieder­zu­sehen, geht für mich nicht, ohne vor allem persön­liche Bezüge wahr­zu­nehmen und auto­bio­gra­phi­sche Spuren zu entdecken, die in der Verlän­ge­rung bis heute reichen.

Bezeich­nend, dass die ersten Bilder in Alaska Gefäng­nis­bilder sind. Vergit­terte Fenster aus Außen­sicht und trostlos-kahle Wände aus Innen­sicht: Frozen Views ohne Leben. Irgendwie handeln Dores Filme grund­le­gend vom Gefan­gen­sein und von der Sehnsucht auszu­bre­chen, ohne dass ihr das jemals wirklich gelungen zu sein scheint. Das ist das Gefühl, das sich bei mir einstellt beim Wieder­sehen ihrer frühen Filme.

Dores dritter Film Lawale, eine, wie es aussieht, uner­bitt­liche Abrech­nung mit der bour­geoisen Familie, der sie entstammt, ist ein Hammer­film im buchs­täb­lichsten Sinne, der reinhaut mit seiner unnach­giebig zuge­spitzten Beschrei­bung eines nur noch in leblosen Ritualen einge­fro­renen fami­liären Zusam­men­le­bens, unterlegt mit einem schram­mend-schrei­enden Dauerton, der über die Bilder kratzt. Der revol­tie­rende Geist von 1968 durchweht beide Filme, Alaska wie Lawale.

Von den in München gezeigten Filmen war es Lawale mit seiner syste­mi­schen Dekon­struk­tion einer Familie, der beim Publikum im Kino des Film­mu­seums anschei­nend den größten Nachhall hinter­ließ. Zum Abschluss war Kaskara zu sehen, fünf Jahre nach Lawale entstanden und Dores größter Erfolg, ausge­zeichnet mit dem Haupt­preis des damals sehr renom­mierten Expe­ri­men­tal­film­fes­ti­vals in Knokke und mit dem Preis der deutschen Film­kritik.

Kaskara ist ein struk­tu­rell kompo­nierter Film, den eine Flut von Fenstern durch­zieht, welche unentwegt die Blicke aus einem schwe­di­schen Blockhaus nach außen rahmen – auf eine freie Land­schaft, die nur zu erahnen bleibt. Anstatt den Blick zu befreien, wirken die Fenster auch hier eher wie Vergit­te­rungen. Immer wieder durch­wan­delt Werner Nekes die Bilder, zuweilen mit Tochter Rona auf dem Arm, die in jenem Jahr geboren wurde. Auch das ist nebenher auf diese Weise ein Fami­li­en­film und in dieser Hinsicht viel­leicht ein Gegen­ent­wurf zu Lawale. Nach dem fiktiven Alaska als Flucht­raum einer inneren Emigra­tion jetzt ein wesent­lich konkre­terer Rück­zugsort in Schweden auf der utopi­schen Suche nach einer zweiten Heimat.

Zwei Jahre später entstand Dores nächster Film Frozen Flashes, da sind die Bilder wieder einge­froren, die Farbe ist ihnen größ­ten­teils entzogen, nicht einmal gibt es einen Ton, was gar noch schlimmer zu ertragen ist als jeder schram­mende Dauerton. Wie es aussieht, ein Film der Trost­lo­sig­keit über den Still­stand in der Beziehung eines Paares und über ein erstarrtes Leben in repe­ti­tiven und ritua­li­sierten Situa­tionen. Der Film eröffnet mit dem frontalen Bild einer Frau, die den Blick gesenkt hat und in sich verloren scheint. Als Schluss­bild dann ein Außen­fenster, durch Sprossen parzel­liert, den Blick ins Innere verweh­rend. Mit diesem letzten Blick auf eine bürger­liche »Gefängnis«-Fassade wird der Zuschauer aus dem Film entlassen. Aber dieser Film wurde in München nicht mehr gezeigt.