06.10.2022

Maximale Seh-Erfahrungen

See You Friday, Robinson
Der Schatten von Jean-Luc Godard: See You Friday, Robinson
(Foto: Ecran noir productions)

Das 17. UNDERDOX in München zeigt Filme zwischen den Sparten. Das Thema ist diesmal »Flüchtigkeit«, und das ist sowohl ästhetisch wie auch politisch und überhaupt: programmatisch gemeint

Von Dunja Bialas

Schon seit 2006 bringt UNDERDOX Unruhe in die Festi­valland­schaft. Es zeigt »Filme, die die Augen öffnen«. So behauptet es jeden­falls in der Selbst­be­schrei­bung. Gemeint ist damit: Die Macher des Festivals (zu denen die Verfas­serin hier gehört) wollen die Sehge­wohn­heiten aushebeln und die Zuschaue­rinnen und Zuschauer aus ihrer Komfort­zone heraus­lo­cken. Ein Marken­zei­chen des Festivals sind Filme auf der Schnitt­stelle zwischen den Sparten, heute sagt man gerne »hybrid« dazu. Die Filme bewegen sich zwischen Doku­men­tar­film und künst­le­ri­schem Film, sind Filme, die eher der bildenden Kunst zuge­ordnet werden können. Oder zwischen Doku­mentar- und Expe­ri­men­tal­film, mit Betonung der Form. Oder sie sind doku­men­ta­risch anmutende Spiel­filme. Der Doku­men­tar­film ist die Urzelle von UNDERDOX, nie aber wird man ihn in der Reinform des »Themen­films« (oder noch schlimmer: Sachfilms) antreffen. Bei den Filmen von UNDERDOX schiebt sich das Seherlebnis vors Thema. Gemäß dem Motto: Es geht darum, wie die Filme gemacht sind, nicht wovon sie handeln. Natürlich erinnert das an eins der größten Bonmots der Film­ge­schichte: Filme politisch machen, nicht poli­ti­sche Filme machen. Jean-Luc Godard hat es in die Welt gesetzt, und es ist auch die Headline für UNDERDOX.

Schon zwei Mal hatte UNDERDOX mit einem Film von Godard eröffnet, mit Bildbuch (2018) und The Rise & Fall of a Small Film Company (2017). Auch dieses Jahr bleibt das Festival JLG treu und zeigt See You Friday, Robinson, einen schel­mi­schen Wett­streit zwischen zwei Urge­steinen des Kinos, Jean-Luc Godard und dem irani­schen Schrift­steller und Filme­ma­cher Ebrahim Golestan. In Form eines multi­me­dialen Brief­wech­sels (sie schicken sich Botschaften in Form von Videos oder auch Gedichten) treten sie 29 Wochen lang immer am Freitag zuein­ander in Kontakt. Dazwi­schen sind sie Robinsons auf ihrer einsamen Insel der Kreation. Fabrice Aragno, Produzent und Kame­ra­mann von Godard und sein engster Vertrauter, war vom Festival als Gast angefragt, als die Nachricht vom Tod des Kino­meis­ters kam. Jetzt zeigt das Festival den Film uner­wartet in postumer Kinoerst­auf­füh­rung, eine der letzten Gele­gen­heiten, Godard noch einmal mit seinem ganzen Humor zu erfassen (Freitag, 7.10., 18:00, Film­mu­seum München, die fran­zö­si­sche Produ­zentin ist zu Gast).

Wir hatten zu diesem Zeitpunkt »Flüch­tig­keit« schon als Thema gewählt. Nichts hat Bestand, das ist unsere Grund­er­fah­rung dieses Jahr, forciert durch das frei gewählte Ableben dessen, der für uns das neue Kino mit erfunden hat. Die Erfahrung des Ephemeren gilt zual­ler­erst natürlich auch für das zeit­ba­sierte Medium Film, das essen­tiell flüchtig, nicht solide, nicht greifbar ist – zumal im digitalen Zeitalter. Rainer Kohl­berger insze­niert diese mediale Abstrak­tion in seinem Lang­film­debüt Answering the Sun (Deutsch­land­pre­miere), ein Sog an Farben, Licht, Kontrasten und dem »Drone« an- und abschwel­lenden Sounds, der in einen regel­rechten Lein­wand­trip entführt. Beim Expe­ri­men­tal­fil­me­ma­cher Kohl­berger kommt es zu maximalen Seh-, Hör-, und Körper­er­fah­rungen, die psyche­de­lisch wirken können und einen komplett den Kino­sessel vergessen lassen (Samstag, 8.10., 21:00, Film­mu­seum München, Rainer Kohl­berger ist zu Gast).

Im Jahr der »Zeiten­wende« liegt der Länder­fokus auch bei UNDERDOX auf der Ukraine. Die Münchner Filme­ma­cherin Mila Zhluk­tenko hatte zu Beginn des russi­schen Angriff­kriegs eine Fundrai­sing-Kampagne ins Leben gerufen, mit der sie Geld für »schweres« Aufnah­me­gerät für die Ukraine sammelte, damit die Betrof­fenen selbst ihr Leben und ihre Erfah­rungen mit dem Krieg filmen können. Kameras, Tonequip­ment, Stative und anderes konnten an das Doku­men­tar­film­kol­lektiv Babylon’13 geliefert werden, das seit der »Revo­lu­tion of Dignity« auf dem Maidan-Platz 2013/14 eigene Bilder von der Lebens­welt erzeugt, ein wichtiges Gegengift gegen die Propa­ganda. Zhluk­tenko hat nun eine Auswahl für ein soli­da­ri­sches Screening zusam­men­ge­stellt. Die elf von ihr zusam­men­ge­tra­genen kurzen »Film­splitter« legen Zeugnis von einer zerbro­chenen Welt ab und erzählen im Mosaik von den Erfah­rungen unter dem Eindruck des Krieges. Darunter sind Erzäh­lungen von Frei­wil­ligen, von den Roma, von Zivi­listen, von Menschen, die fliehen, oder von jenen, die bleiben (Freitag, 7.10., 19:30, Werk­statt­kino, Mila Zhluk­tenko ist zu Gast).

Die russi­schen Filme­ma­cher, zumal jene, die sich jetzt im Exil befinden, wollen wir aber nicht vergessen. Detours der jungen Russin Ekaterina Selenkina insze­niert eine typische Moskauer Plat­ten­bau­sied­lung. Ein junger Mann begeht die trost­losen Orte und versteckt Päckchen, er ist ein Drogen­händler. Eine nach­denk­liche Topo­gra­phie einer abstrakt gewor­denen Stadt. Der Film ist einer der wenigen auch von Seiten der ukrai­ni­schen Filme­ma­cher*innen akzep­tierten russi­schen Produk­tionen derzeit, und das Festival wagt mit seiner Program­mie­rung den Dialog auf der Leinwand (Samstag, 8.10., Werk­statt­kino, zu Gast: Ekaterina Selenkina und Christian von Borries).

Der Wandel der Welt bewirkt aber auch einen Wandel im Umgang mit der Umwelt – zumindest sah es eine Zeitlang so aus. Energie ist neben dem Krieg das zweite große Thema der Stunde, und die Auswir­kungen der mensch­li­chen Eingriffe auf die Natur. Der Festival-Eröff­nungs­film Burial (Deutsch­land­pre­miere) der litaui­schen Künst­lerin Emilija Škar­nu­lytė verhan­delt in höchst künst­le­ri­scher Form die Frage nach der »fried­li­chen« Nutz­bar­keit der Kern­energie zur Strom­ge­win­nung, was gerade Söder und Habeck in feind­liche Lager bringt. Sie filmt die Demontage (oder »Begräbnis«) des einst leis­tungs­stärksten Atom­re­ak­tors der Welt, Ignalina in Litauen. Das Plädoyer der Künst­lerin, das sich aus einer sinn­li­chen Reise durch den Reaktor ergibt, lässt keine Zweifel an ihre Position offen (Donnerstag, 6.10., 19:00, Film­mu­seum München, Eröff­nungs­abend).

Was die Folgen von Profit­gier und dem sorglosen Umgang mit der Umwelt sind, zeigen die Doku­men­tar­filmer*innen Volker Sattel und Francesca Bertin auf eindrucks­volle Weise in Tara (Deutsch­land­pre­miere). In Apulien liegt die uralte Stadt Tarent, seit 3000 Jahren existiert sie und ist somit eine der ältesten Städte unserer abend­län­di­schen Zivi­li­sa­tion. Erst seit den Fünf­zi­ger­jahren gibt es dort auch die Stahl­in­dus­trie, das Ilva-Werk galt als das größte Europas. Innerhalb von wenigen Jahr­zehnten hat diese Industrie geschafft, was der tausend­jäh­rige Zahn der Zeit nicht vermocht hatte: den Struk­tur­wandel herbei­zu­führen, die Einwohner ihres kultu­rellen Zentrums und der Mythen zu berauben und den Fluss Tara in eine giftige Kloake zu verwan­deln. Eine mit ruhiger Hand von Volker Sattels Kamera gefilmte Bestands­auf­nahme (Freitag, 7.10., Film­mu­seum München, zu Gast: Volker Sattel und Francesca Bertin).

Einen unge­wöhn­li­chen Trip beschert Love Is a Dog from Hell des phil­ip­pi­ni­schen Regis­seurs Khavn. Vor zwei Jahren hatte er zusammen mit Alexander Kluge Orphea reali­siert, eine ener­gie­ge­la­dene Umschrei­bung des klas­si­schen Mythos mit Lilith Stan­gen­berg als begna­deter und uner­schro­ckener Sängerin, die ihren geliebten Euridiko vor dem Tod retten will. Jetzt kommt die Fort­set­zung. Orphea / Lilith Stan­gen­berg taucht ein in die Slums von Manila, die so etwas wie eine irdische Vorhölle abgeben. Die Kako­phonie der unter­ge­henden Großstadt wurde wieder aus dem Umfeld der phil­ip­pi­ni­schen Band »The Brockas« kompo­niert (Freitag, 7.10., 21:30, Werk­statt­kino).

Ins Innere der Erde geht es ganz buchs­täb­lich in Il Buco, wörtlich übersetzt »der Schlund«. Der Film reinsze­niert einen histo­ri­schen Höhlen­ab­stieg im südita­lie­ni­schen Pollino, wo eine Forscher­gruppe eine der tiefsten Höhlen der Welt entdeckte – und im hals­bre­che­ri­schen Abstieg erkundete. Dies dürfen die Schau­spieler unter der Regie von Michel­an­gelo Framm­ar­tino wieder­holen, mit histo­ri­scher Ausrüs­tung (also ohne Zuhil­fe­nahme der heutigen sport­tech­no­lo­gi­schen Errun­gen­schaften). Sonst wäre es nur halb so schön und nur halb so spannend. Werner Herzog lässt von der Ferne grüßen (Sonntag, 9.10., 11:00, Theatiner).

Auch Bertrand Bonellos gefei­erter Coma ist bei UNDERDOX zu sehen, der zuletzt mit Zombi Child und Nocturama von sich reden machte. Der Science-Fiction spinnt die Situation des Lockdowns weiter. Jetzt ist es draußen so heiß, dass niemand seine Wohnung verlassen darf, Zuflucht wird in der virtu­ellen Welt gesucht. Bonello war mit seiner Umwelt­apo­ka­lypse erschre­ckend hell­sichtig, denkt man an den dies­jäh­rigen Sommer mit seinen Hitze­re­korden – die nur wenige Wochen zurück­liegen (Dienstag, 11.10., 18:00, Theatiner).

Die Physis der Welt­erfah­rung stellt schließ­lich Magdala (Deutsch­land­pre­miere) ins Zentrum. Der Film stammt von Damien Manivel, der zuletzt mit Isadoras Kinder daran erinnert hat, dass er vom zeit­genös­si­schen Tanz kommt. Wieder insze­niert er die groß­ar­tige Elsa Wolliaston, eine fast acht­zig­jäh­rige schwarze Tänzerin und Choreo­gra­phin, die ihren alten, schweren Körper durch einen nord­fran­zö­si­schen Urwald hievt, in dem Farn und Hecken ein dichtes Gestrüpp bilden. Sie ist die altge­wor­dene Magdalena, Geliebte von Jesus und damit auch eines der promi­nen­testen Geschöpfe der Kunst­ge­schichte. Manivel schafft es, sie zu erden und ihr die volle Sinn­lich­keit ihres Körpers zurück­zu­geben (Mittwoch, 12.10., 19:30, Werk­statt­kino, siehe auch unser Cannes-Interview mit Manivel).

17. UNDERDOX Film­fes­tival
6.-12.10.2022

Film­mu­seum München, Werk­statt­kino, Theatiner
Eintritt: 7 Euro, 5er-Karte: 30 Euro

Hier das komplette Programm.