Maximale Seh-Erfahrungen |
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Der Schatten von Jean-Luc Godard: See You Friday, Robinson | ||
(Foto: Ecran noir productions) |
Von Dunja Bialas
Schon seit 2006 bringt UNDERDOX Unruhe in die Festivallandschaft. Es zeigt »Filme, die die Augen öffnen«. So behauptet es jedenfalls in der Selbstbeschreibung. Gemeint ist damit: Die Macher des Festivals (zu denen die Verfasserin hier gehört) wollen die Sehgewohnheiten aushebeln und die Zuschauerinnen und Zuschauer aus ihrer Komfortzone herauslocken. Ein Markenzeichen des Festivals sind Filme auf der Schnittstelle zwischen den Sparten, heute sagt man gerne »hybrid« dazu. Die Filme bewegen sich zwischen Dokumentarfilm und künstlerischem Film, sind Filme, die eher der bildenden Kunst zugeordnet werden können. Oder zwischen Dokumentar- und Experimentalfilm, mit Betonung der Form. Oder sie sind dokumentarisch anmutende Spielfilme. Der Dokumentarfilm ist die Urzelle von UNDERDOX, nie aber wird man ihn in der Reinform des »Themenfilms« (oder noch schlimmer: Sachfilms) antreffen. Bei den Filmen von UNDERDOX schiebt sich das Seherlebnis vors Thema. Gemäß dem Motto: Es geht darum, wie die Filme gemacht sind, nicht wovon sie handeln. Natürlich erinnert das an eins der größten Bonmots der Filmgeschichte: Filme politisch machen, nicht politische Filme machen. Jean-Luc Godard hat es in die Welt gesetzt, und es ist auch die Headline für UNDERDOX.
Schon zwei Mal hatte UNDERDOX mit einem Film von Godard eröffnet, mit Bildbuch (2018) und The Rise & Fall of a Small Film Company (2017). Auch dieses Jahr bleibt das Festival JLG treu und zeigt See You Friday, Robinson, einen schelmischen Wettstreit zwischen zwei Urgesteinen des Kinos, Jean-Luc Godard und dem iranischen Schriftsteller und Filmemacher Ebrahim Golestan. In Form eines multimedialen Briefwechsels (sie schicken sich Botschaften in Form von Videos oder auch Gedichten) treten sie 29 Wochen lang immer am Freitag zueinander in Kontakt. Dazwischen sind sie Robinsons auf ihrer einsamen Insel der Kreation. Fabrice Aragno, Produzent und Kameramann von Godard und sein engster Vertrauter, war vom Festival als Gast angefragt, als die Nachricht vom Tod des Kinomeisters kam. Jetzt zeigt das Festival den Film unerwartet in postumer Kinoerstaufführung, eine der letzten Gelegenheiten, Godard noch einmal mit seinem ganzen Humor zu erfassen (Freitag, 7.10., 18:00, Filmmuseum München, die französische Produzentin ist zu Gast).
Wir hatten zu diesem Zeitpunkt »Flüchtigkeit« schon als Thema gewählt. Nichts hat Bestand, das ist unsere Grunderfahrung dieses Jahr, forciert durch das frei gewählte Ableben dessen, der für uns das neue Kino mit erfunden hat. Die Erfahrung des Ephemeren gilt zuallererst natürlich auch für das zeitbasierte Medium Film, das essentiell flüchtig, nicht solide, nicht greifbar ist – zumal im digitalen Zeitalter. Rainer Kohlberger inszeniert diese mediale Abstraktion in seinem Langfilmdebüt Answering the Sun (Deutschlandpremiere), ein Sog an Farben, Licht, Kontrasten und dem »Drone« an- und abschwellenden Sounds, der in einen regelrechten Leinwandtrip entführt. Beim Experimentalfilmemacher Kohlberger kommt es zu maximalen Seh-, Hör-, und Körpererfahrungen, die psychedelisch wirken können und einen komplett den Kinosessel vergessen lassen (Samstag, 8.10., 21:00, Filmmuseum München, Rainer Kohlberger ist zu Gast).
Im Jahr der »Zeitenwende« liegt der Länderfokus auch bei UNDERDOX auf der Ukraine. Die Münchner Filmemacherin Mila Zhluktenko hatte zu Beginn des russischen Angriffkriegs eine Fundraising-Kampagne ins Leben gerufen, mit der sie Geld für »schweres« Aufnahmegerät für die Ukraine sammelte, damit die Betroffenen selbst ihr Leben und ihre Erfahrungen mit dem Krieg filmen können. Kameras, Tonequipment, Stative und anderes konnten an das Dokumentarfilmkollektiv Babylon’13 geliefert werden, das seit der »Revolution of Dignity« auf dem Maidan-Platz 2013/14 eigene Bilder von der Lebenswelt erzeugt, ein wichtiges Gegengift gegen die Propaganda. Zhluktenko hat nun eine Auswahl für ein solidarisches Screening zusammengestellt. Die elf von ihr zusammengetragenen kurzen »Filmsplitter« legen Zeugnis von einer zerbrochenen Welt ab und erzählen im Mosaik von den Erfahrungen unter dem Eindruck des Krieges. Darunter sind Erzählungen von Freiwilligen, von den Roma, von Zivilisten, von Menschen, die fliehen, oder von jenen, die bleiben (Freitag, 7.10., 19:30, Werkstattkino, Mila Zhluktenko ist zu Gast).
Die russischen Filmemacher, zumal jene, die sich jetzt im Exil befinden, wollen wir aber nicht vergessen. Detours der jungen Russin Ekaterina Selenkina inszeniert eine typische Moskauer Plattenbausiedlung. Ein junger Mann begeht die trostlosen Orte und versteckt Päckchen, er ist ein Drogenhändler. Eine nachdenkliche Topographie einer abstrakt gewordenen Stadt. Der Film ist einer der wenigen auch von Seiten der ukrainischen Filmemacher*innen akzeptierten russischen Produktionen derzeit, und das Festival wagt mit seiner Programmierung den Dialog auf der Leinwand (Samstag, 8.10., Werkstattkino, zu Gast: Ekaterina Selenkina und Christian von Borries).
Der Wandel der Welt bewirkt aber auch einen Wandel im Umgang mit der Umwelt – zumindest sah es eine Zeitlang so aus. Energie ist neben dem Krieg das zweite große Thema der Stunde, und die Auswirkungen der menschlichen Eingriffe auf die Natur. Der Festival-Eröffnungsfilm Burial (Deutschlandpremiere) der litauischen Künstlerin Emilija Škarnulytė verhandelt in höchst künstlerischer Form die Frage nach der »friedlichen« Nutzbarkeit der Kernenergie zur Stromgewinnung, was gerade Söder und Habeck in feindliche Lager bringt. Sie filmt die Demontage (oder »Begräbnis«) des einst leistungsstärksten Atomreaktors der Welt, Ignalina in Litauen. Das Plädoyer der Künstlerin, das sich aus einer sinnlichen Reise durch den Reaktor ergibt, lässt keine Zweifel an ihre Position offen (Donnerstag, 6.10., 19:00, Filmmuseum München, Eröffnungsabend).
Was die Folgen von Profitgier und dem sorglosen Umgang mit der Umwelt sind, zeigen die Dokumentarfilmer*innen Volker Sattel und Francesca Bertin auf eindrucksvolle Weise in Tara (Deutschlandpremiere). In Apulien liegt die uralte Stadt Tarent, seit 3000 Jahren existiert sie und ist somit eine der ältesten Städte unserer abendländischen Zivilisation. Erst seit den Fünfzigerjahren gibt es dort auch die Stahlindustrie, das Ilva-Werk galt als das größte Europas. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten hat diese Industrie geschafft, was der tausendjährige Zahn der Zeit nicht vermocht hatte: den Strukturwandel herbeizuführen, die Einwohner ihres kulturellen Zentrums und der Mythen zu berauben und den Fluss Tara in eine giftige Kloake zu verwandeln. Eine mit ruhiger Hand von Volker Sattels Kamera gefilmte Bestandsaufnahme (Freitag, 7.10., Filmmuseum München, zu Gast: Volker Sattel und Francesca Bertin).
Einen ungewöhnlichen Trip beschert Love Is a Dog from Hell des philippinischen Regisseurs Khavn. Vor zwei Jahren hatte er zusammen mit Alexander Kluge Orphea realisiert, eine energiegeladene Umschreibung des klassischen Mythos mit Lilith Stangenberg als begnadeter und unerschrockener Sängerin, die ihren geliebten Euridiko vor dem Tod retten will. Jetzt kommt die Fortsetzung. Orphea / Lilith Stangenberg taucht ein in die Slums von Manila, die so etwas wie eine irdische Vorhölle abgeben. Die Kakophonie der untergehenden Großstadt wurde wieder aus dem Umfeld der philippinischen Band »The Brockas« komponiert (Freitag, 7.10., 21:30, Werkstattkino).
Ins Innere der Erde geht es ganz buchstäblich in Il Buco, wörtlich übersetzt »der Schlund«. Der Film reinszeniert einen historischen Höhlenabstieg im süditalienischen Pollino, wo eine Forschergruppe eine der tiefsten Höhlen der Welt entdeckte – und im halsbrecherischen Abstieg erkundete. Dies dürfen die Schauspieler unter der Regie von Michelangelo Frammartino wiederholen, mit historischer Ausrüstung (also ohne Zuhilfenahme der heutigen sporttechnologischen Errungenschaften). Sonst wäre es nur halb so schön und nur halb so spannend. Werner Herzog lässt von der Ferne grüßen (Sonntag, 9.10., 11:00, Theatiner).
Auch Bertrand Bonellos gefeierter Coma ist bei UNDERDOX zu sehen, der zuletzt mit Zombi Child und Nocturama von sich reden machte. Der Science-Fiction spinnt die Situation des Lockdowns weiter. Jetzt ist es draußen so heiß, dass niemand seine Wohnung verlassen darf, Zuflucht wird in der virtuellen Welt gesucht. Bonello war mit seiner Umweltapokalypse erschreckend hellsichtig, denkt man an den diesjährigen Sommer mit seinen Hitzerekorden – die nur wenige Wochen zurückliegen (Dienstag, 11.10., 18:00, Theatiner).
Die Physis der Welterfahrung stellt schließlich Magdala (Deutschlandpremiere) ins Zentrum. Der Film stammt von Damien Manivel, der zuletzt mit Isadoras Kinder daran erinnert hat, dass er vom zeitgenössischen Tanz kommt. Wieder inszeniert er die großartige Elsa Wolliaston, eine fast achtzigjährige schwarze Tänzerin und Choreographin, die ihren alten, schweren Körper durch einen nordfranzösischen Urwald hievt, in dem Farn und Hecken ein dichtes Gestrüpp bilden. Sie ist die altgewordene Magdalena, Geliebte von Jesus und damit auch eines der prominentesten Geschöpfe der Kunstgeschichte. Manivel schafft es, sie zu erden und ihr die volle Sinnlichkeit ihres Körpers zurückzugeben (Mittwoch, 12.10., 19:30, Werkstattkino, siehe auch unser Cannes-Interview mit Manivel).
17. UNDERDOX Filmfestival
6.-12.10.2022
Filmmuseum München, Werkstattkino, Theatiner
Eintritt: 7 Euro, 5er-Karte: 30 Euro