75. Filmfestspiele Cannes 2022
»Für mich ist das Kino spirituell« |
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Blick des Sakralen: Elsa Wolliaston | ||
(Foto: ACID Cannes 2022 · Damien Manivel) |
Nur etwas für Insider? Der französische Regisseur Damien Manivel ist in Deutschland seit 2016 mit Un jeune poète bekannt, der bei der Woche der Kritik Berlin zu sehen war. Der eksystent-Verleih brachte kurz nach dem Ausbruch von Corona mit Isadoras Kinder erstmals einen für den Kinostart gedachten Film direkt im Stream heraus und schrieb damit Pandemie-Geschichte. Manivels Filme sind mit leichter Hand inszeniert, kehren oft die physischen Gesetze der Wirklichkeit um, und obwohl sie immer auch dokumentarisch wirken, ist ihre Heimat der Tanz und die Kunstgeschichte. Sein neuer Film Magdala wurde in der
leicht übersehenen Cannes-Reihe ACID für Independent-Filme gezeigt, die gegründet wurde, um dem in Frankreich dominanten Arthouse experimentellere Filme entgegenzusetzen. Magdala ist eine sinnliche und physische Fantasie über Maria Magdalena und kommt fast ganz ohne Worte aus, was einen guten Grund abgibt, darüber selbst Worte zu formulieren.
Das Gespräch führte Dunja Bialas
artechock: Dein neuer Film Magdala ist ein ein-Personen-Film, man kennt die Darstellerin Elsa Wolliaston schon aus Isadoras Kinder, sie ist Tänzerin und Choreographin und nicht im eigentlichen Sinne eine Schauspielerin. Wie kam es zur Zusammenarbeit?
Damien Manivel: Ich arbeite mit Elsa schon seit 15 Jahren zusammen, 2010 habe ich mit ihr meinen Kurzfilm La dame au chien (Die Dame mit dem Hündchen) gemacht, und dann vor ein paar Jahren noch Isadoras Kinder. Ich war, als ich sie kennenlernte, selbst Tänzer. Als ich angefangen habe, sie zu filmen, hatte ich für sie immer eine Rolle vor Augen, die einmal einen ganzen Film tragen sollte, und ich wollte ihr eine Figur geben, die ihr entspricht. Die Entscheidung zu Magdala entstand aus Isadoras Kinder heraus. In der letzten, langsamen und intensiven Einstellung des Films hebt sie die Augen Richtung Himmel. Das ist wahnsinnig schön. Als ich den Film geschnitten habe und diese Aufnahme noch mal genau betrachtet habe, musste ich an an eine Heilige denken und beschloss, einen Film über das Sakrale zu machen. Eine Fusion von Maria Magdalena und Elsa erschien mir gut möglich.
artechock: Wie ist Elsa Wolliaston in Maria Magdalena aufgegangen?
Manivel: Maria Magdalena ist eine Figur der Bibel, die die gesamte Kunstgeschichte durchquert, die Malerei, die Skulptur. Die Schriften des Mittelalters erzählen, dass sie sich nach dem Tod Jesu aus Liebe zu ihm in einen Wald zurückgezogen hat und dort bis zu ihrem Tod allein blieb, während sie an Christus dachte. In der Legende heißt es auch, dass ihr am Lebensende ein Engel erschien, der sie in den Himmel brachte. Das sind zwar nicht viele »Informationen«, aber als Filmemacher habe ich alle Freiheiten und kann auch alles erfinden. Wie zum Beispiel: Was ist in dem Wald passiert? Wie hat sie gelebt? Was hat sie empfunden? Wie schlief sie? Was hat sie gegessen? Was hat sie gehört? Besonders hat mich das Alter interessiert, ihre letzten Lebenstage. Elsa ist mittlerweile 77 Jahre alt, und ich wollte ihr einen „Tod auf der Leinwand“ geben. Ihren Tod auf eine poetische Weise filmen, banal und trotzdem erhaben, wie eine Apotheose.
artechock: Elsa Wolliaston verleiht der Figur der Maria Magdalena auch eine sehr körperliche, physische Seite. Der Film ist insgesamt sehr sinnlich, man spürt die Natur in den Blättern und Zweigen. Außerdem wird natürlich nicht gesprochen. Dennoch nimmt sie Kontakt zur Natur auf, zu sehen, wie sich ihre alten Hände vorantasten ist zwar unspektakulär, aber im selben Moment auch sehr beeindruckend. Ist diese Sinnlichkeit und die Körperlichkeit von Magdala für dich auch Arbeit am Mythos?
Manivel: Vor allem erzählt das viel über Elsa und ihren Körper. Elsa hat einen ausgeprägten Tastsinn. Wenn man sie trifft, berührt sie einen bald. Sie hält einen ähnlichen Kontakt zur Natur und eine starke Mystik, berührt oft die Bäume. Das alles hätte auch Maria Magdalena machen können, Elsa macht es ganz von allein, wenn sie in der Natur ist. Als ich ihr sagte, dass wir in einem Wald drehen werden, machte ihr das erst einmal Angst. Das ist unebenes Terrain, Elsa kann mittlerweile nur noch mit Mühe gehen. Sie sagte aber, dass ihr die Bäume helfen werden, ihr Kraft geben werden. Gesten und den Körper zu filmen, ist mir am wichtigsten. In ihnen, selbst in den einfachsten, konkretesten und langsamen, liegt eine kinematographische Kraft, die man im Kino selten sieht. Ich versuche, genau das zu zeigen. Maria Magdalena besetzt die Natur mit ihrem Körper und ihrem Alter, was ich schön finde. So schreibe ich mich in eine Tradition der Kunst ein, die weder malerisch noch skulptural ist, sondern kinematographisch, im buchstäblichen Sinne: ich zeichne Bewegung auf.
artechock: Du verlässt aber auch diese Reinheit der Darstellung, wenn plötzlich Musik ertönt, Schuberts „Leiermann“. »Keiner mag ihn hören / Keiner sieht ihn an / Und die Hunde knurren / Um den alten Mann«, wird da gesungen, du übersetzt die Worte aber nicht. Welche Bedeutung hat für dich das Lied?
Manivel: Das Lied kommt in einer sehr langen Einstellung, in der sich Elsa durch den Wald bewegt. Ich habe das nicht übersetzt, auch wenn ich die Worte sehr schön finde. In diesem Moment öffnet sich der Film auf eine andere Bewegung. Es ist der Übergang zu ihrem Tod, zu dem Ort, wo sie zurückgezogen sterben wird, wie ein Tier. Wenn sie stirbt, wird sie auch wiedergeboren werden, sie erfährt die Gnade und findet ihre Liebe wieder. Dieser Parcours ist sehr linear, fast wie ein Kreuzweg. Maria Magdalena wird eine Heilige, indem sie die Elemente der Natur durchquert und sich immer tiefer in den Wald schlägt, sich dem Nebel und dem Wind hingibt. Die Natur bearbeitet unaufhörlich ihren Körper, ihre Sinne. Die Sonne gibt ihr einen Moment der Ruhe und des Aufatmens, das Gewitter erschöpft sie. Das ist im buchstäblichen Sinne physisch.
artechock: Das klingt jetzt auch ziemlich religiös. Was war dein tieferes Interesse an der Geschichte von Maria Magdalena?
Manivel: Ich habe keine Botschaft, die ich loswerden will, insofern ist der Film für mich nicht religiös. Aber ich glaube, dass dies ein Film über den Glauben ist. Und es ist ein Liebesfilm! Ein Film über einen amour fou, und über den Glauben, dass man seinen Geliebten wiederfinden kann. Das sind Themen, die uns alle betreffen und die wir alle auf unsere Weise erleben. Spirituelle Fragen beschäftigen mich aber auch, seit meiner Jugend, als ich mich für das Christentum und den Buddhismus interessiert habe. Ich habe darin auch meine eigene Stimme gesucht. Diese Fragen stelle ich mir nicht mehr, seitdem ich Filme mache: Für mich ist das Kino selbst spirituell. Es ist Körper, es ist Geist. Wenn ich ein Gesicht, einen Ort oder Gegenstand filme, muss sich mein Herz spirituellen Fragen öffnen. Offen dafür sein, dass eine Seele in dem Körper existiert, und dass in einem Ort oder Objekt auch dessen ganze Vergangenheit, seine Geschichte liegt. Wenn du Filmemacher bist, musst du glauben. Nicht an Gott glauben, aber an etwas anderes.
artechock: Dein Kino war immer auch magisch. In Le Parc (2016) läuft deine Protagonistin im zweiten Teil konstant rückwärts. Auch in Magdala greifst du auf das Magische zurück. Der erste Teil wirkt eher dokumentarisch, dann kommt das Phantasma.
Manivel: Ja, das sind sogar Special Effects. Naive Effekte, wie am Anfang der Filmgeschichte. Das ist Fantasy, ein ganz leichtes, nicht wie im Genre, aber es gibt Visionen und Wunder. Die Zuschauer müssen natürlich Lust haben, an diese einfachen Tricks zu glauben, sie sehen, dass das falsch ist, und genau das befragt sie in ihrer Fähigkeit zu glauben. Wenn sie daran glauben, können sie eine wahnsinnig schöne Erfahrung machen.
artechock: Das ist auch der Pakt, den die Zuschauer insgesamt mit dem fiktionalen Kino eingehen müssen: Wenn man nicht an die erzählten Geschichten glaubt, bleibt nichts übrig.
Manivel: Viele Filme versuchen, das zu kaschieren. Man muss das aber nicht verstecken, man kann die Illusion offenlegen, denn die Zuschauer werden es glauben. Das ist die Arbeit der Vorstellung, der Imagination. Mein Film ist insgesamt eher ein Poem der Gesten, mit einer starken Poetik, die für mich im Kino generell wichtig ist. Ich sehe das auch im Unterschied zu einem stark formatierten Kino, dem wir sonst oft begegnen. Poesie und ein Risiko in der Inszenierung sind im Kino meist abwesend. Ich versuche, etwas anderes anzubieten. Das sind die einfachen Gesten, für mich die Basis des Kinos.
artechock: Ist dieses Kino der Gesten auch ein choreographiertes Kino?
Manivel: Eine Choreographie konkreter Gesten, die aber natürlich nicht getanzt werden. Und Blicke, gerade am Ende, wenn der Tod kommt. Wie filmt man den Tod? Indem man sich Zeit nimmt, den Atem zeigt von dem, was allmählich verschwindet. Den Körper, der allmählich den Boden verlässt. Der Tod wird im Kino oft einfach nur in zwei Sekunden gezeigt, das geht dann ganz schnell, als Drehbuch-Etappe. Ich wollte über die Gesten zeigen, wie die Zeit vergeht, und einen Körper, der gerade stirbt. Das ist banal, aber auch herrlich. Der Tod ist gewaltig, strahlend und spielt sich hier in einer Grotte ab, die nur von einer Kerze beleuchtet ist. Das Leben verschiebt sich allmählich in den Tod hinein. Das betrifft uns alle, wird im Kino aber nicht gezeigt.
artechock: Magdala ist im Vergleich zu deinen vorhergehenden Filmen noch stärker reduziert: nur eine Schauspielerin, keine Dialoge, keine verrätselte Geschichte. Woher kommt diese Lust auf Verzicht?
Manivel: Wenn man genau hinsieht, passiert in dem Film enorm viel, sogar Spektakuläres. Aber natürlich spektakulär innerhalb eines Minimalismus. Das ist Minimalismus im Maximalen, beides trifft sich und schließt die einfachen Dinge und eine große Intensität zusammen. Dieses Zusammentreffen der Gegensätze habe ich im Laufe meiner Filme entdeckt, intuitiv. Es ist meine Sicht auf die Dinge, und es ist das, was ich sehen möchte. Ich glaube, dass ein Blick und ein Gesicht spektakulär sein können, eine sich öffnende Hand, eine Hand voller Falten kann wunderschön sein. Es kann auch sein, dass ich wieder Filme mit mehr Dialogen machen werde. Aber ich will diesen Blick nicht verlieren, ich glaube, er ist wertvoll und gibt mir das Kino, das ich selbst sehen will.