02.06.2022
75. Filmfestspiele Cannes 2022

»Für mich ist das Kino spirituell«

Magdala
Blick des Sakralen: Elsa Wolliaston
(Foto: ACID Cannes 2022 · Damien Manivel)

Damien Manivel gehört zu einer neuen Generation des französischen Kinos, die nach anderen Ausdrucksformen sucht. In Cannes hat er nun seinen neuen Film Magdala gezeigt

Nur etwas für Insider? Der fran­zö­si­sche Regisseur Damien Manivel ist in Deutsch­land seit 2016 mit Un jeune poète bekannt, der bei der Woche der Kritik Berlin zu sehen war. Der eksystent-Verleih brachte kurz nach dem Ausbruch von Corona mit Isadoras Kinder erstmals einen für den Kinostart gedachten Film direkt im Stream heraus und schrieb damit Pandemie-Geschichte. Manivels Filme sind mit leichter Hand insze­niert, kehren oft die physi­schen Gesetze der Wirk­lich­keit um, und obwohl sie immer auch doku­men­ta­risch wirken, ist ihre Heimat der Tanz und die Kunst­ge­schichte. Sein neuer Film Magdala wurde in der leicht über­se­henen Cannes-Reihe ACID für Inde­pen­dent-Filme gezeigt, die gegründet wurde, um dem in Frank­reich domi­nanten Arthouse expe­ri­men­tel­lere Filme entge­gen­zu­setzen. Magdala ist eine sinnliche und physische Fantasie über Maria Magdalena und kommt fast ganz ohne Worte aus, was einen guten Grund abgibt, darüber selbst Worte zu formu­lieren.
Das Gespräch führte Dunja Bialas

artechock: Dein neuer Film Magdala ist ein ein-Personen-Film, man kennt die Darstel­lerin Elsa Wolliaston schon aus Isadoras Kinder, sie ist Tänzerin und Choreo­gra­phin und nicht im eigent­li­chen Sinne eine Schau­spie­lerin. Wie kam es zur Zusam­men­ar­beit?

Damien Manivel: Ich arbeite mit Elsa schon seit 15 Jahren zusammen, 2010 habe ich mit ihr meinen Kurzfilm La dame au chien (Die Dame mit dem Hündchen) gemacht, und dann vor ein paar Jahren noch Isadoras Kinder. Ich war, als ich sie kennen­lernte, selbst Tänzer. Als ich ange­fangen habe, sie zu filmen, hatte ich für sie immer eine Rolle vor Augen, die einmal einen ganzen Film tragen sollte, und ich wollte ihr eine Figur geben, die ihr entspricht. Die Entschei­dung zu Magdala entstand aus Isadoras Kinder heraus. In der letzten, langsamen und inten­siven Einstel­lung des Films hebt sie die Augen Richtung Himmel. Das ist wahn­sinnig schön. Als ich den Film geschnitten habe und diese Aufnahme noch mal genau betrachtet habe, musste ich an an eine Heilige denken und beschloss, einen Film über das Sakrale zu machen. Eine Fusion von Maria Magdalena und Elsa erschien mir gut möglich.

artechock: Wie ist Elsa Wolliaston in Maria Magdalena aufge­gangen?

Manivel: Maria Magdalena ist eine Figur der Bibel, die die gesamte Kunst­ge­schichte durch­quert, die Malerei, die Skulptur. Die Schriften des Mittel­al­ters erzählen, dass sie sich nach dem Tod Jesu aus Liebe zu ihm in einen Wald zurück­ge­zogen hat und dort bis zu ihrem Tod allein blieb, während sie an Christus dachte. In der Legende heißt es auch, dass ihr am Leben­s­ende ein Engel erschien, der sie in den Himmel brachte. Das sind zwar nicht viele »Infor­ma­tionen«, aber als Filme­ma­cher habe ich alle Frei­heiten und kann auch alles erfinden. Wie zum Beispiel: Was ist in dem Wald passiert? Wie hat sie gelebt? Was hat sie empfunden? Wie schlief sie? Was hat sie gegessen? Was hat sie gehört? Besonders hat mich das Alter inter­es­siert, ihre letzten Lebens­tage. Elsa ist mitt­ler­weile 77 Jahre alt, und ich wollte ihr einen „Tod auf der Leinwand“ geben. Ihren Tod auf eine poetische Weise filmen, banal und trotzdem erhaben, wie eine Apotheose.

artechock: Elsa Wolliaston verleiht der Figur der Maria Magdalena auch eine sehr körper­liche, physische Seite. Der Film ist insgesamt sehr sinnlich, man spürt die Natur in den Blättern und Zweigen. Außerdem wird natürlich nicht gespro­chen. Dennoch nimmt sie Kontakt zur Natur auf, zu sehen, wie sich ihre alten Hände voran­tasten ist zwar unspek­ta­kulär, aber im selben Moment auch sehr beein­dru­ckend. Ist diese Sinn­lich­keit und die Körper­lich­keit von Magdala für dich auch Arbeit am Mythos?

Manivel: Vor allem erzählt das viel über Elsa und ihren Körper. Elsa hat einen ausge­prägten Tastsinn. Wenn man sie trifft, berührt sie einen bald. Sie hält einen ähnlichen Kontakt zur Natur und eine starke Mystik, berührt oft die Bäume. Das alles hätte auch Maria Magdalena machen können, Elsa macht es ganz von allein, wenn sie in der Natur ist. Als ich ihr sagte, dass wir in einem Wald drehen werden, machte ihr das erst einmal Angst. Das ist unebenes Terrain, Elsa kann mitt­ler­weile nur noch mit Mühe gehen. Sie sagte aber, dass ihr die Bäume helfen werden, ihr Kraft geben werden. Gesten und den Körper zu filmen, ist mir am wich­tigsten. In ihnen, selbst in den einfachsten, konkre­testen und langsamen, liegt eine kine­ma­to­gra­phi­sche Kraft, die man im Kino selten sieht. Ich versuche, genau das zu zeigen. Maria Magdalena besetzt die Natur mit ihrem Körper und ihrem Alter, was ich schön finde. So schreibe ich mich in eine Tradition der Kunst ein, die weder malerisch noch skulp­tural ist, sondern kine­ma­to­gra­phisch, im buchs­täb­li­chen Sinne: ich zeichne Bewegung auf.

artechock: Du verlässt aber auch diese Reinheit der Darstel­lung, wenn plötzlich Musik ertönt, Schuberts „Leiermann“. »Keiner mag ihn hören / Keiner sieht ihn an / Und die Hunde knurren / Um den alten Mann«, wird da gesungen, du übersetzt die Worte aber nicht. Welche Bedeutung hat für dich das Lied?

Manivel: Das Lied kommt in einer sehr langen Einstel­lung, in der sich Elsa durch den Wald bewegt. Ich habe das nicht übersetzt, auch wenn ich die Worte sehr schön finde. In diesem Moment öffnet sich der Film auf eine andere Bewegung. Es ist der Übergang zu ihrem Tod, zu dem Ort, wo sie zurück­ge­zogen sterben wird, wie ein Tier. Wenn sie stirbt, wird sie auch wieder­ge­boren werden, sie erfährt die Gnade und findet ihre Liebe wieder. Dieser Parcours ist sehr linear, fast wie ein Kreuzweg. Maria Magdalena wird eine Heilige, indem sie die Elemente der Natur durch­quert und sich immer tiefer in den Wald schlägt, sich dem Nebel und dem Wind hingibt. Die Natur bear­beitet unauf­hör­lich ihren Körper, ihre Sinne. Die Sonne gibt ihr einen Moment der Ruhe und des Aufatmens, das Gewitter erschöpft sie. Das ist im buchs­täb­li­chen Sinne physisch.

artechock: Das klingt jetzt auch ziemlich religiös. Was war dein tieferes Interesse an der Geschichte von Maria Magdalena?

Manivel: Ich habe keine Botschaft, die ich loswerden will, insofern ist der Film für mich nicht religiös. Aber ich glaube, dass dies ein Film über den Glauben ist. Und es ist ein Liebes­film! Ein Film über einen amour fou, und über den Glauben, dass man seinen Geliebten wieder­finden kann. Das sind Themen, die uns alle betreffen und die wir alle auf unsere Weise erleben. Spiri­tu­elle Fragen beschäf­tigen mich aber auch, seit meiner Jugend, als ich mich für das Chris­tentum und den Buddhismus inter­es­siert habe. Ich habe darin auch meine eigene Stimme gesucht. Diese Fragen stelle ich mir nicht mehr, seitdem ich Filme mache: Für mich ist das Kino selbst spiri­tuell. Es ist Körper, es ist Geist. Wenn ich ein Gesicht, einen Ort oder Gegen­stand filme, muss sich mein Herz spiri­tu­ellen Fragen öffnen. Offen dafür sein, dass eine Seele in dem Körper existiert, und dass in einem Ort oder Objekt auch dessen ganze Vergan­gen­heit, seine Geschichte liegt. Wenn du Filme­ma­cher bist, musst du glauben. Nicht an Gott glauben, aber an etwas anderes.

artechock: Dein Kino war immer auch magisch. In Le Parc (2016) läuft deine Prot­ago­nistin im zweiten Teil konstant rückwärts. Auch in Magdala greifst du auf das Magische zurück. Der erste Teil wirkt eher doku­men­ta­risch, dann kommt das Phantasma.

Manivel: Ja, das sind sogar Special Effects. Naive Effekte, wie am Anfang der Film­ge­schichte. Das ist Fantasy, ein ganz leichtes, nicht wie im Genre, aber es gibt Visionen und Wunder. Die Zuschauer müssen natürlich Lust haben, an diese einfachen Tricks zu glauben, sie sehen, dass das falsch ist, und genau das befragt sie in ihrer Fähigkeit zu glauben. Wenn sie daran glauben, können sie eine wahn­sinnig schöne Erfahrung machen.

artechock: Das ist auch der Pakt, den die Zuschauer insgesamt mit dem fiktio­nalen Kino eingehen müssen: Wenn man nicht an die erzählten Geschichten glaubt, bleibt nichts übrig.

Manivel: Viele Filme versuchen, das zu kaschieren. Man muss das aber nicht verste­cken, man kann die Illusion offen­legen, denn die Zuschauer werden es glauben. Das ist die Arbeit der Vorstel­lung, der Imagi­na­tion. Mein Film ist insgesamt eher ein Poem der Gesten, mit einer starken Poetik, die für mich im Kino generell wichtig ist. Ich sehe das auch im Unter­schied zu einem stark forma­tierten Kino, dem wir sonst oft begegnen. Poesie und ein Risiko in der Insze­nie­rung sind im Kino meist abwesend. Ich versuche, etwas anderes anzu­bieten. Das sind die einfachen Gesten, für mich die Basis des Kinos.

artechock: Ist dieses Kino der Gesten auch ein choreo­gra­phiertes Kino?

Manivel: Eine Choreo­gra­phie konkreter Gesten, die aber natürlich nicht getanzt werden. Und Blicke, gerade am Ende, wenn der Tod kommt. Wie filmt man den Tod? Indem man sich Zeit nimmt, den Atem zeigt von dem, was allmäh­lich verschwindet. Den Körper, der allmäh­lich den Boden verlässt. Der Tod wird im Kino oft einfach nur in zwei Sekunden gezeigt, das geht dann ganz schnell, als Drehbuch-Etappe. Ich wollte über die Gesten zeigen, wie die Zeit vergeht, und einen Körper, der gerade stirbt. Das ist banal, aber auch herrlich. Der Tod ist gewaltig, strahlend und spielt sich hier in einer Grotte ab, die nur von einer Kerze beleuchtet ist. Das Leben verschiebt sich allmäh­lich in den Tod hinein. Das betrifft uns alle, wird im Kino aber nicht gezeigt.

artechock: Magdala ist im Vergleich zu deinen vorher­ge­henden Filmen noch stärker reduziert: nur eine Schau­spie­lerin, keine Dialoge, keine verrät­selte Geschichte. Woher kommt diese Lust auf Verzicht?

Manivel: Wenn man genau hinsieht, passiert in dem Film enorm viel, sogar Spek­ta­kuläres. Aber natürlich spek­ta­kulär innerhalb eines Mini­ma­lismus. Das ist Mini­ma­lismus im Maximalen, beides trifft sich und schließt die einfachen Dinge und eine große Inten­sität zusammen. Dieses Zusam­men­treffen der Gegen­sätze habe ich im Laufe meiner Filme entdeckt, intuitiv. Es ist meine Sicht auf die Dinge, und es ist das, was ich sehen möchte. Ich glaube, dass ein Blick und ein Gesicht spek­ta­kulär sein können, eine sich öffnende Hand, eine Hand voller Falten kann wunder­schön sein. Es kann auch sein, dass ich wieder Filme mit mehr Dialogen machen werde. Aber ich will diesen Blick nicht verlieren, ich glaube, er ist wertvoll und gibt mir das Kino, das ich selbst sehen will.