Eseleien zum Auftakt |
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Vielleicht sollte man die Goldene Palme durch die Goldene Mohrrübe ersetzen? |
Von Dunja Bialas
»E-O«, oder ins Deutsche übersetzt: »I-A«. So schlicht, mit zwei onomatopoetisch aneinandergefügten Buchstaben, beginnt mein erster Wettbewerbsfilm um die Goldene Palme, auf meinem allerersten Cannes-Festival. Ich bin eine Novizin, vielleicht sogar eine Eselin, ausgestattet mit der Holzklasse der Akkreditierungen. Aber anders als es die Aufregung der letzten Tage vermuten ließ, als ich noch aus der Ferne über den Zaun der Passwörter in den geschützten Internetspace von Cannes blickte und mich in die Raffinessen meines persönlichen Accounts eingearbeitet habe, lässt sich das weltwichtigste Festival vor Ort ungleich gelassener an. Ja, es gibt die Abendroben mit viel Tüll und Schleppe (das Wort kommt eindeutig von »schleppen«) und die Smokings mit Fliege, und natürlich auch die halbnackten, langbeinigen, gebräunten Starletts. Auffälliger als der ganze Glamour sind die Absperrgitter, die einem überall den Weg vorgeben und die Schlangen zum Einlass in geordnete Bahnen lenken.
Ja, man fühlt sich wie eine Eselin, die, anders als der Esel auf der Leinwand, nicht an die Schlachtbank geführt, vielmehr in eine Parallelwelt der Privilegien geschleust wird, die sich im Inneren des Grand Palais auftut. Hier finden die großen Premieren mit Abendrobe und Smoking statt, aber auch die Pressevorführungen, zu denen es keinen Dresscode gibt. EO ist die Weltpremiere eines Films aus der Feder eines filmhistorischen Urgesteins. Jerzy Skolimowski erzählt in ihm schlicht und ergreifend von den misslichen Abenteuern eines Esels und schafft damit eine Art Remake des Bresson-Klassikers Au hasard Balthazar, in dem es grob gesagt ebenfalls um einen geknechteten Esel ging. EO von Skolimowski spitzt den in das Verderben führenden Plot zu einem fast epischen Leinwand-Schelmenroman zu. Erzählt wird, wie der Esel »EO« vom Regen in die Traufe kommt, von einer zunächst glücklichen Existenz im Zirkus Orion, dessen Dompteurin Magda ihn abgöttisch liebt und ihm innige Kunststücke beizubringen weiß, zu immer neuen Herren, die zuerst einmal alle nur sein bestes Tierwohl wollen. Zumindest als Absichtserklärung. Alles fängt an, als Tierschützer den Esel aus dem Zirkus befreien, ab da wird er ungeliebt von einem Herrn zum nächsten geschubst, bis er schließlich auf der Flucht ist. Denn am Ende einer jeden Episode landet er doch immer nur unter dem Eselsgeschirr und zieht einen Karren, wird angetrieben und ausgepeitscht, weil die Menschen die Geduld verlieren, wenn der Esel nicht so will wie sie. Sehr, sehr oft blickt man in ein überaus trauriges schwarzes Eselsauge, das die ein oder andere Träne fließen lässt. Der Film ist nahezu konsequent aus der Perspektive des Esels erzählt und kommt folglich fast ganz ohne Dialoge aus. Statt dessen sind auf einer ausgefeilten Soundspur allerlei Tierlaute zu hören: das schnarrende Krabbeln von Ameisen über einen Baumstamm, das U-huen eines Käuzchens im Wald, das Bellen der Hunde auf den Höfen, das schrille Aufkreischen hässlicher Hyänen in Käfigen und das ohrenbetäubende Aufwiehern von Zuchtpferden auf einer Koppel. Letzteres wird visuell unterstützt durch Weichzeichner und Zeitlupe, und man fühlt sich wie in einem Pferdefilm für Erwachsene. Und natürlich ist ganz oft zu hören, wie der Esel sein Klagelied in die Nacht hinausruft: »I-A! I-A!« Da werden sogar Steine weich.
Jerzy Skolimowski gehört zur Neuen polnischen Welle der Sechzigerjahre, ist heute 84 Jahre alt, zu seinen berühmtesten Werken zählen Le départ (1967) und die Dialoge zu Roman Polanskis Das Messer im Wasser (1962), mit dem zusammen er die Neue polnische Welle lostrat. Er warf mit seinen Filmen Erzähl- und Produktionskonventionen über Bord, pflegte den kreativen Anarchismus und erzählte vom Schicksal listiger Überlebenskünstler am Rande der Gesellschaft. Mit einfachsten Mitteln entstanden Geschichten über strauchelnde Kleinkriminelle, traumhafte politische Parabeln oder kraftvolle Schicksalserzählungen, die die Welt filmisch auf den Kopf stellten.
Von allem diesen haben auch EO und sein Protagonist etwas. Es ist durchaus ungewöhnlich, auf Spielfilmlänge der Eselsperspektive zu folgen, was anders auf die Welt blicken lässt als menschliche Protagonisten. Immer werden zunächst die Tiere angesehen, die Menschen sind in diesem Universum reine Randerscheinung, diffuse Umwelt, die das Schicksal der Tiere in der Hand hält. Sie erscheinen laut und brutal, selbst die Gegenstände entfachen mehr Empathie beim Zuschauer als die Kreaturen auf zwei Beinen. Wenn ein Fußball gekickt wird, wie einmal, als EO auf ein Fußballfeld gelangt, geht die Kamera auf Ballhöhe und erzählt von dem gewaltigen Stoß, den der Fußball erleidet. Das ist fast lupenreiner agentieller Realismus, nach dem die Welt nicht von »Dingen bevölkert wird, die sich mehr oder weniger voneinander unterscheiden. Beziehungen hängen nicht von ihren Relata ab, sondern umgekehrt«, wie die Physikerin Karen Barad theoretisiert. Das heißt: jedes Ding kann Zentrum der Welt sein, nicht nur der Mensch, der mit Immanuel Kant als erkennendes Wesen auf sie blickt. Es ist eine radikale Perspektivumkehrung oder -verzerrung, gar die Verabschiedung des Anthropozäns, die Skolimowski hier mit großer Lust anwendet. Natürlich drängen sich aber vor allem die Theorien der Animal Studies à la Donna Haraway auf. Die feministische Cyborg-Theoretikerin hat in ihrer späten Phase die Tiere entdeckt. Mit den »companion species« betrachtet sie Haus- und Nutztiere nicht allein aus Menschenperspektive, sondern kann auch Tiere als Akteure sehen. Akteure, oder wie bei Skolimowski: Protagonisten, die sogar einen ganzen Film tragen können.
EO ist so ein durchweg überraschender Beitrag zu diesen überaus angesagten Theorien. Trotzdem kann getrost angezweifelt werden, dass Skolimowski diese beiden eminenten Philosophinnen gelesen hat. In erster Linie ist EO so auch ein flammendes Plädoyer für die Liebe zu Tieren, für ihre Achtung – und für den Vegetarismus. Das ist manchmal plakativ (wie am Ende die explizite Texttafel oder die sich aufdrängende Musik), oft verstörend, wenn die Tiere über die Montage miteinander zu kommunizieren scheinen und fordert die die eigene Toleranz heraus. Soll und kann ich mich jetzt wirklich über 90 Minuten mit einem Esel identifizieren?, frage ich mich, als sich der Film zu erkennen gibt. Unbehagen dann, weil der Film das Tier ja durch den Film selbst in eine Zwangslage bringt: Dreharbeiten, Kamera, »Action«, Dressur, Transport zu den Drehorten. Fünf Namen werden im Abspann für die Besetzung von EO genannt, fünf Eselsnamen natürlich. In diesem Moment, das sei zugestanden, hat die tierfabelhafte Erzählung schon ihre Wirkung entfaltet: Ich habe die Perspektive des Esels eingenommen.
Der typisch linearen Schelmenroman-Dramaturgie des drögen »vom Regen in die Traufe« heizt Skolimowski durch Gewalteruptionen kräftig ein. EO wird geschlagen, häufig, gewaltvoll, einmal lebensgefährlich. Mit »drei Hufen« sei er schon im Jenseits gewesen, diskutieren die Tierpfleger, die ihn gefunden haben, soll man ihn nun heilen, oder nicht besser einschläfern? Auch wenn sich der Esel im Laufe der sich zuspitzenden Gewalt immer kräftiger wehrt: am Ende hält doch nur der Mensch eine tödliche Klinge in der Hand, und nur der Esel ist immer unschuldig, weil er kein wollendes Bewusstsein hat. Moralisierung wäre Anthropomorphisierung, und das erspart uns Skolimowski, bis auf wenige Momente, in denen der Esel von seiner geliebte Magda träumt.
Ob die Geschichte vom Esel metapherntauglich und allegorisch zu lesen ist, frage ich mich während des Films. Anders als etwa Border (2009) des armenischen Regisseurs Harutyun Khachatryan, der einen freiheitsliebenden Büffel im Grenzgebiet von Armenien-Aserbaidschan als symbolhaften Helden für die jüngere Geschichte inszenierte, sucht man in EO vergeblich nach einer vergleichbaren, abstrakteren zweiten Ebene. Skolimowski scheint in dieser Spätphase seines Werks den Menschen nur noch als Spezies sehen zu können, die am besten abdanken sollte. Ein Kommentar auf die aktuelle politische Lage in Polen lässt sich natürlich leicht behaupten, drängt sich aber nicht auf.
Und so reiht sich EO in seiner Seltsamheit in die Linie des avantgarde-getriebenen politischen Kinos ein, das niemals vordergründig politisch ist, sondern in der Wahl seiner ästhetischen Mittel den Angriff auf das herrschende System, hier den Menschen in toto, wagt.
Mal sehen, wie lange diese vorübergehende Esels-Identifikation anhalten wird. Ich fühle mich am heutigen zweiten Tag schon viel mehr als Akteurin als gestern, nicht mehr wie ahnungsloses Pressevieh. Ich habe also vom Esel gelernt. Ich bin jetzt eine Checker-Cannes-Novizin, die noch immer nicht schlecht staunt.